Heft 4/2022 - Artscribe


Chewing the Tundra

3. November 2022 bis 17. Dezember 2022
Kunsthalle Exnergasse / Wien

Text: Milena Dimitrova


Wien. Drei Bilder, eine Kollaboration von Ásmundur Ásmundsson, Hannes Lárusson und Tinna Grétarsdóttir, waren die Vorlage für eine spontane Performance von Hannes Lárusson am Eröffnungsabend der Ausstellung Chewing the Tundra. Diese Arbeiten von 2016 erzählen als Collagen von geopolitischen Gegebenheiten Islands. Die Performance beschwor einige große Themen herauf – materielle Wirklichkeiten, wie Nahrung, die Kräfte der Natur, wie etwa Feuer, aber auch Machtverhältnisse und die manchmal fließende Grenze zwischen Waffe und Werkzeug. Die Invasion dieser Performance im Ausstellungsraum schien für Umweltbelastungen und Klimaveränderungen im Norden, die sich im Schmelzen des dortigen Eises zeigen, eine Gleichung zu sein. So befanden sich im Ausstellungsraum plötzlich für einen Galerienraum eher unerwünschte Gegenstände wie ein Wiener Schnitzel, ein voller Papierkorb, in dessen Nähe ein Feuerzeug getragen wurde, sowie ein Messer.
Die Ausstellung konzentriert sich im Allgemeinen weniger auf die Dynamiken, die die nördliche Tundra unter Druck setzen, sondern zeichnet ein Bild der Kultur der Region. Naturverbundenheit, die Weite des Landes, Wasser, Vegetation und Tierwelt, die die Region prägen, und das Leben mit dieser Umgebung werden in den gezeigten Arbeiten fühlbar. Ressourcen, um dem Druck von Globalisierung und Umweltbelastung zu begegnen, werden in den traditionellen Formen, mit der Natur zu leben, gesucht, im Sinne von Wissen, kulturellen Praktiken, Werkzeugen und Technologien, die in der Region verankert sind. Der Rückgriff darauf ist der Versuch einer Antwort auf die aktuellen klimatischen und ökologischen Herausforderungen. We are rowing to Tromsø (2018) von Geir Tore Holm und Søssa Jørgensen greift auf eine sehr alte lokale Technologie des Bootsbaus zurück und schlägt sie nicht nur als zeitgemäßes Fortbewegungsmittel vor, sondern als Technologie, die die Nähe zur Natur aktualisiert. Die tiefe Verbundenheit der Lebewesen aus der Region mit dem Land ist ebenso eine wichtige Ressource. Sie wird in Anu Osvas Video Tähtipölyä – Star Dust (2019) sichtbar anhand der Musterung der Yakut-Rinder, die mit der Erscheinung des sibirischen Sternenhimmels verschmilzt und sich nochmals in den Spiralen ihrer DNA wiederholt.
Mit dem Fokus auf die Kultur und Gefühlswelt der Tundra entsteht eine Spannung zu aktivistischen oder politischen Fragestellungen. Das Aufzeigen des Drucks von ökonomischen Kräften und ökologischen Herausforderungen im Detail bleibt in den Arbeiten ausgespart, natürlich wirkt dieser aber subtil in sie ein. So in Hvalslag von Angela Rawlings gemeinsam mit José Luis Anderson, der den Sound für die Arbeit komponierte. 200 isländische Ortsnamen, die den Begriff Wal enthalten, stehen auf einem Büschel trockenen Meeresalgen geschrieben, in deren Nähe sieht man zwei Zähne von Walen und eine an den Strand angeschwemmte Schallplatte. Thematisiert werden hier die sich häufenden Walstrandungen, für die es offenbar keine eindeutigen Erklärungen gibt. Die Installation erzählt auch von der ursprünglichen Verbindung der Menschen zu diesen Säugetieren, die sich in den vielen nach ihnen benannten Orten spiegelt. Auch wurden traditionell einzelne strandende Wale gänzlich verarbeitet und verwendet. Ein Bild der verendenden Wale wird uns erspart wie auch eine Nachforschung zu den Umständen, denen ihr Schicksal geschuldet ist. Von Industrien verursachter Unterwasserlärm ist einer der möglichen Faktoren, der ebenso wie Strandungen einer der sehr aktuellen Arbeitsschwerpunkte von Naturschutzorganisationen ist. Torsketromming (2019–) von John Andrew Wilhite-Hannisdal und Rebekah A. Oomen handelt ebenso vom durch Unterwasserlärm gestörten sozialen Leben des Kabeljaus, der wie die Wale auf Akustik und Gesänge zur Kommunikation angewiesen ist. Formal transportiert dieses Werk nur die Schönheit dieser Gesänge, denen man in einer Interpretation von Wilhite-Hannisdal in einer Hängematte liegend zuhören kann, nicht deren Störung.
Das Chill Survive Network, dem die Kuratorinnen der Ausstellung Pia Lindman und Tinna Grétarsdóttir angehören, sucht seit 2019 in Exkursionen und Workshops nach Strategien, Taktiken und Methoden, anhand derer der Norden sich an die Herausforderungen der Gegenwart anpassen und drauf reagieren kann. Es sind ästhetisch gelungene und bewusstseinsbildende Arbeiten um kulturelle Ressourcen, die auch kulturelle Diplomatie beinhalten, die sich in der Ausstellung Chewing the Tundra darstellen. Trotz der Ästhetik kommt das aktivistische Potenzial für positive Veränderungen nicht zu kurz, wie beispielsweise die Installation Green Blue Gold von Lauri Linna belegt, das von einem Gebiet handelt, in der eine Kobalt- und Goldmine geplant ist, die mit einer massiven Beeinträchtigung der Vegetation einhergeht, weswegen Linna vorweg ein Pflanzenarchiv anlegt. Nach Beendigung der Rohstoffextraktionen soll dieses wieder auf dem Gebiet angepflanzt werden können. Dies scheint eine Defensive, der Kampf um Restriktionen des Abbaus durch Naturschutzgesetze wird von vornherein nicht begonnen. Alte Mobiltelefone sind Teil der Installation und zeigen eine Karte des betroffenen Gebiets. Sie sind ein Hinweis auf die Möglichkeiten des Recyclings anstatt der Extraktion. Doch wollte man die Wirtschaft zwingen, auf Recycling auszuweichen, müsste auch das in Form von politischem Druck geschehen. Überlässt man die Sache dem freien Markt, sind die recycelten Rohstoffe eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle zu den extrahierten. Blickt man zum Vergleich etwa zum indigenen Südamerika, sieht man dort als Strategie im Naturschutz sowohl eine Rückbesinnung auf und eine Stärkung naturnaher kultureller Traditionen als auch politische Lösungen, indem indigene Gemeinschaften sich um Eigentum von Land und Naturschutzgesetzen bemühen. Ersteres ist eine wichtige Grundlage, und das unterlegte eine zweite spontane Performance des Eröffnungsabends mit beeindruckendem Gesang aus der Region der russischen Tundra, vorgetragen von einer Besucherin und einer von Anra Naw erzählten, unterhaltsamen Geschichte aus der schamanischen Tradition der Tschuktsch*innen.