Berlin. Ausgehend von ausgewählten Architekturen und stadtplanerischen Konzepten, die ab den 1950er Jahren in Nordafrika erprobt wurden, richtete das transdisziplinäre Projekt »In der Wüste der Moderne« unter der künstlerischen Leitung von Marion von Osten den Blick auf Widersprüche der kolonialen Moderne sowie auf Widerstände dagegen, die bis in die Gegenwart hineinwirken.
Die Ausstellungsarchitektur (Jesko Fezer, Andreas Müller und Anna Voswinckel) erinnert entfernt an konstruktivistische Ausstellungsdisplays und die Systeme Frederik Kieslers. Inhaltliche Schwerpunkte wurden kapitelartig ohne feste Abfolge organisiert. Die locker im Raum gruppierten Kapitel ermöglichten Durchsichten auf andere Erzählstränge. Ein zwangloser Umgang mit Originalen und Kopien warf einen kritischen wie humorvollen Blick auf museale und archivarische Sammlungs- und Präsentationskonventionen. Über Pläne, Bücher, Zeitschriften, Plakate, Filme, Fotos, Architekturmodelle und Malerei suchte die Ausstellung sowohl eine Vorstellung vom Demokratisierungsversprechen und der Attraktivität der französisch-nordafrikanischen (Architektur-)Moderne zu vermitteln, als auch von der Widersprüchlichkeit und kolonialen Tiefenstruktur ebendieser zu berichten.
Im Auftrag der französischen Protektoratsverwaltung wurde in den 1950er Jahren von Michel Écochard ein Masterplan für Casablanca entwickelt, mit dem man stadtplanerisch dem rapiden Anwachsen der Bevölkerung zu begegnen suchte. Nachdem die Franzosen anfänglich in erster Linie für Europäer gebaut hatten, eine massive Binnenmigration jedoch ab den 1930ern die Mehrheitsverhältnisse in der Stadt veränderte, wurden junge europäische Architekten damit beauftragt, Wohnraum für »die große Zahl« zu bauen. Diese Siedlungsbautätigkeit folgte einem strengen Plan und Raster, moderne Unterkünfte sollten die sich schnell ausbreitenden, improvisierten Bidonvilles (Kanisterstädte) ersetzen, in denen die sozialschwache Bevölkerung vom Lande, die neue marokkanische Arbeiterschaft, untergekommen war. Sie bedeutete allerdings nicht allein eine Verbesserung der Lebensumstände, sondern diente vor allem auch der Kontrollierbarkeit der Menschen, war Regierungstechnik der Kolonisatoren, die die Stadtplanung zur strategischen Inbesitznahme von Territorien nutzten und eine rigide Umsiedlungspolitik verfolgten. Die Kontrollproblematik wird unter anderem am Beispiel der ursprünglichen Planung der Schweizer Architekten Studer und Hentsch im Viertel »Sidi Othman« deutlich, die auf Druck der französischen Behörden modifiziert wurde. Ihre Anlehnung an traditionelle Architekturen der Berber wurde als zu unübersichtlich angesehen.
Die Auseinandersetzung mit lokalen Gegebenheiten und Bauformen sorgte auch auf dem 9. CIAM Kongress 1953 in Aix-en-Provence für Kontroversen. Der doktrinären »Charta von Athen«, mit deren Veröffentlichung durch Le Corbusier (1941) die tayloristische Funktionstrennung der Städte in Wohnen, Arbeit, Freizeit und Verkehr festgeschrieben worden war, wurde hier Alison und Peter Smithsons mittlerweile legendäre »Urban Re-identification«-Studie entgegengestellt, und zwei Nordafrika-Grids analysierten die Bidonvilles von Casablanca und Algier, von denen man zu lernen hoffte.
»In der Wüste der Moderne« beschränkt sich dabei nicht auf die Präsentation der Grids von 1953, sondern kontextualisiert und demaskiert das Vorgehen der europäischen Architekten als eines, das die kolonialen Bedingungen seiner eigenen Tätigkeit größtenteils komplett ausblendet1. So basierte die Bautätigkeit verschiedener »linker« Architekten in den 1950er Jahren vielfach auf kulturspezifischen Typologien, reproduzierte Rassismen und leistete der Segregation Vorschub. Die Ausstellung arbeitet heraus, dass Nordafrika als Labor und Exerzierfeld einer Entwicklung diente, die in der Folge auch in Europa Niederschlag fand, etwa in der Errichtung von Übergangslagern und billigen Plattenbausiedlungen für Arbeiter- und MigrantInnen in den französischen Banlieues, die auch hier die Bidonvilles ersetzen sollten und heute als Belege für das Scheitern der Moderne angeführt werden.
Die zweite zentrale Linie der Ausstellung – der Versuch, von Widerständen gegen die (koloniale) Moderne zu berichten – hatte mit der Schwierigkeit mangelnden Materials über den historischen wie auch den aktuellen Widerstand umzugehen. In französischen, marokkanischen und algerischen Archiven sind entsprechende Dokumente rar, es dominiert die Perspektive der Kolonialverwaltung oder der heutigen Behörden. Diesem Dilemma begegneten die AusstellungsmacherInnen damit, dass sie einzelne postkartengroße Fotos des organisierten Widerstands gegen das Kolonialregime im Dienste einer zu erzeugenden emanzipativen Erzählung auf das Format ganzer Tafeln vergrößerten und auf prägnanten Achsen im Raum platzierten. So konnten sich die Bilder auch in unmittelbarer Nachbarschaft zu anderen, raumgreifenden Exponaten behaupten. Die Vergrößerungen wurden durch Druckwerke des (historischen) transnationalen Anti Kolonialismus oder etwa durch heutige Bilder der unkontrollierten Überformung und Aneignung von Architektur durch NutzerInnen ergänzt. Videointerviews setzten der hegemonialen Geschichtsschreibung das gesprochene Wort und die filmische Präsenz von AugenzeugInnen und heutigen AktivistInnen entgegen, und das Projekt http://www.this-was-tomorrow.net entwickelte nicht nur im Internet, sondern auch in der Ausstellung eine partizipative Erzählung, die die Perspektive von BewohnerInnen städtischer Quartiere und Hochhausarchitekturen zeigt.
Die Ausstellung entwarf damit eine Narration des Widerstandes und der Selbstermächtigung, deren Argumentation auf den dezidiert transdisziplinären Charakter des Projektes zurückgeführt werden kann und deren Fokus auf widerständige Akteure sich vom Kanon architekturhistorischer Studien unterscheidet. Da war es folgerichtig, stereotypisierende Bilder (etwa der Bidonvilles) räumlich isoliert in eine klar abgetrennte Ecke zu verweisen und kleinformatig als flüchtige Dias zu projizieren: Die Perspektive von Ikonen wie Henri Cartier Bresson wurde so als Effekt des Kolonialismus lesbar. Dem orientalisierenden Blick auf nordafrikanische Frauen, den der Architekturübervater Le Corbusier malerisch unter Beweis stellte, hielten die KuratorInnen (Tom Avermaete, Serhat Karakayali und Marion von Osten) in einer ähnlich deutlichen Geste eine Arbeit der marokkanischen Malerin Chaibia Talal aus der Zeit nach der Unabhängigkeit entgegen.
Die Filmreihe »Kleine Pfade – Verschränkte Geschichten«, die von Madeleine Bernstorff und Brigitta Kuster konzipiert wurde, beschäftigte sich mit dem »Kino als Ort der Konstruktion und Zirkulation der Modernen in Europa und Nordafrika vor und nach Marokkos Unabhängigkeit 1956«. Heterogene Filmdokumente aus Rabat, Brest, Paris, Berlin und Helsinki wurden in thematischen Programmblöcken organisiert. So verschränkte eines der Programme den Blick, den deutsche Wochenschauaufnahmen von 1940 auf Elendsquartiere im besetzten Frankreich warfen, mit einer »Bestandsaufnahme« der desolaten Lebensbedingungen in der französischen Industrievorstadt Aubervilliers nach Kriegsende (»Aubervilliers«, F 1946). Unter der Regie von Eli Lotar werden hier menschelnde Darstellungen der Misere mit didaktisch platzierten Aufbaukommentaren belegt, die sich u.a. vom ehemaligen Bürgermeister Pierre Laval abgrenzen, der Modernität versprochen und nicht eingelöst habe. Der Film zeugt von einem gesellschaftlich populären Selbstverständnis der Nachkriegsjahre: Laval wurde 1944 als Nazikollaborateur hingerichtet, von dem man sich in der Folge abgrenzen konnte. Seine Verstricktheit in das koloniale Regime »Französisch-Nordafrikas« wird im Film dagegen keineswegs benannt. Das Programm machte damit deutlich, wer wessen Elend sieht und wen in welcher Form zeigt. Es wurde ergänzt durch zwei Filme, die die Bedingungen thematisieren, unter denen AlgerierInnen im Frankreich der 1960er und 70er Jahre lebten, und von René Vautiers »Le glas« (Algerien/ Rhodesien 1964) abgeschlossen. Der in Frankreich zensierte dokumentarische Film stellte die Verbindung zum Süden Afrikas und dem internationalen Protest gegen die institutionalisierte rassistische Diskriminierung in der Apartheid her.
Andere Programme beleuchteten Makro- und Mikroperspektiven, indem sie Luftbilder Casablancas aus den 1920er Jahren mit marokkanisch produzierten Filmen aus der Zeit nach der Unabhängigkeit (etwa »6 et 12«, Marokko 1968) und den heutigen Reflexionen migrantischer BewohnerInnen von Les Minguettes verbanden – jenen Wohnkomplexen bei Lyon, die seit den Unruhen von 1981 als Sinnbild der sozialen Probleme in den Banlieues gelten (»Carnet d’un arpenteur«, F 2006). Sie zeigten sogenannte Scopitones, 16-mm-Filme, die für die Jukeboxes maghrebinischer Cafes im Paris der 1960er und 70er produziert wurden, gemeinsam mit der Selbstinszenierung jugendlicher Traceure im heutigen Marokko (»Lézotres, Accroches toi!!«, Marokko 2007). In der Filmreihe stark vertreten waren die antikolonialen Filme René Vautiers. Dem Kurzfilm »Le remords« (F 1973) gelingt mit einfachen essayistischen Mitteln die metadiskursive Reflexion einer zutiefst rassistischen französischen Gesellschaft, die von Vorurteilen, Xenophobie und alltäglicher rassistischer Polizeigewalt geprägt ist. Vautier zeigt, dass es kein Außen gibt, dass er selbst diese Realität (mit-)herstellt.
Moderne ist ohne den Kolonialismus undenkbar, dies wurde auch in der Konferenz »The Colonial Modern« klar. Das umfangreiche Projekt »In der Wüste der Moderne« rückte die aktuell im Kunst- und Ausstellungsbetrieb grassierende Moderne-Begeisterung in eine notwendige Perspektive, indem sie die koloniale und rassistische Verfasstheit ebendieser Moderne/n aufzeigte, die sich mit der Unabhängigkeit ehemaliger Kolonien keineswegs erledigt hat.
1 Vgl. hier auch das Sonderheft der Zeitschrift An Architektur, das eigens zur Ausstellung erschien: An Architektur Nr. 22: Gamma Grid 1953. Das Ende des CIAM und die Bidonvilles Casablancas. Berlin 2008.