Issue 2/2017


Crisis as Form

Editorial


Krisen, wohin man blickt: von der großen Weltpolitik angefangen über die zusehends unter Druck geratende Nationalstaatlichkeit bis hin zur Lage der repräsentativen Demokratie. Oder auf anderer Ebene: vom länger schon am Rand des Systemabsturzes operierenden Finanzkapitalismus über die sich kontinuierlich vergrößernde Reich-Arm-Schere bis hin zur immer prekäreren Situation des gezwungenermaßen unternehmerischen Selbst. Eines zunehmend erschöpften und krisenanfälligen Subjekts, könnte man hinzufügen, dessen soziales und politisch-ökonomisches Setting sich in theoretischer wie in praktischer Hinsicht selbstredend wie eine einzige große Krise darstellt. Und dann auch noch die verschiedenen kulturellen Sparten und künstlerischen Genres: Welchen davon wird nicht in regelmäßiger Wiederkehr eine latente oder akute Krise, ja das drohende Ende attestiert?
Verkürzt gesagt läuft diese vielerorts erhobene Gegenwartsdiagnose darauf hinaus, dass sich unsere gesamte Gesellschaftsform mitsamt ihren kulturellen und politischen Formen in einem gleichsam universal gewordenen Zustand der Krise befindet, dessen Ende, aber auch dessen Anfang sich nicht mehr richtig absehen lassen. Dabei funktionieren die vielen ineinander verhakten Subsysteme dieser Gesellschaftsform größtenteils weiter wie bisher. Ja, man ist versucht zu sagen, dass die Krise in dem Maße zur allgemeinen Realität geworden ist, in dem es sich für viele (aber es dürften insgesamt immer weniger werden) innerhalb dieser Wirklichkeit recht gut leben lässt. Genau hier beginnt sich der verbreitete Krisendiskurs in sich zu spießen: Zum einen beruht der Befund auf einem gewissen Objektivitätsanspruch – in Bezug darauf, wie die Dinge sein sollten und nun einmal nicht sind; zum anderen sind in dieser Diagnose stets auch subjektive Momente mit am Werk – den krisenhaften „Befall“ des Individuums betreffend, die in Folge nötige Kritik und die mögliche Verbesserung der krisenverursachenden Zustände. All dies kommt in der Rede von der Krise – und wer führt sie heute nicht im Munde? – geballt und daher umso schwieriger entwirrbar zusammen.
Die genauere Gemengelage innerhalb dieses Diskurses herauszuarbeiten, war Thema einer Konferenz, die im Januar 2017 an der Universität für angewandte Kunst Wien stattfand. Veranstaltet vom Institut Kunst- und Wissenstransfer und der Abteilung für Kunsttheorie wurde unter dem Titel Krise als Form einer Debatte nachgegangen, die in dieser Ausgabe, entstanden in Kooperation mit den beiden Instituten, ausschnitthaft aufbereitet ist. Aufgrund unseres Heftformats können hier nur ausgewählte Beiträge wiedergegeben werden, was keine Wertung über die leider unberücksichtigt gebliebenen Konferenztexte impliziert. Maßgeblich für diese Ausgabe war neben dem Kunstbezug im engeren Sinn die in manchen Beiträgen stärker fokussierte Frage, welchen formalen Parametern die Rede von der allgegenwärtigen Krise unterliegt. Oder anders gesagt: welche Arten der Formgebung in die entsprechende Diagnostik selbst eingeschrieben sind. Geht es dabei um die positive Setzung von (krisenbefreiten, womöglich utopischen) kulturellen und politischen Formen, von (möglichst krisenresistenter) Subjektivität und Wertform? Oder kommen in diesem Diskurs umgekehrt auch „Negativformen“, ja vielleicht so etwas wie das hartnäckig Formlose oder „Antiform“ zum Ausdruck?
Helmut Draxler, dem die Initiative und Konzeption der Gesamtthematik zu verdanken ist, legt in seinem Beitrag einige grundlegende Koordinaten des Krisendiskurses dar. Draxlers Interesse zielt auf die spezifische historische Form, die sich in bzw. anhand einer Krise offenbart. Aber um dieser geschichtlichen Besonderheit, etwa der Art von Gegenwärtigkeit, die wir aktuell durchleben, auf die Spur zu kommen, braucht es eine Reihe von Kriterien, die das Krisenhafte dieses Moments greifbar machen, Kriterien wie subjektiv – objektiv, zeitlich – räumlich oder global – lokal. Erst in der besonderen Konstellation dieser Eigenschaften lässt sich das spezifisch Krisenhafte, oder besser: die Verschränkung eines allgemeinen oder besonderen Krisenszenarios mit einer gewissen Form erfassen.
Diedrich Diederichsen setzt sich in seinem Beitrag mit dem Allgemeinheitsanspruch auseinander, mit dem die Rede von der Krise häufig vorgetragen wird. Um trefflich und vor allem systemverändernd diagnostizieren zu können, so Diederichsen, muss man zunächst von diesem Totalitätsanspruch absehen und eher dem umgekehrten, vom Teilsystem ausgehenden Weg beschreiten. Nur so lässt sich sicherstellen, dass Krise und historische Realität im Auge der DiagnostikerInnen nicht automatisch in eins fallen und so jeglicher kritische Effekt erstickt wird. Inwiefern hinter den vielen Krisen der Gegenwart womöglich noch etwas darüber Hinausgehendes, ja eine tatsächlich systemsprengende Katastrophe lauert, ist Ausgangspunkt des Essays von Kerstin Stakemeier. Stakemeier nimmt die aktuelle, von Rechtspopulismus und gesellschaftlichen Zerfallsphänomenen geprägte Lage zum Anlass, um dem ein aus bestimmten Kunstformen abgeleitetes Modell entgegenzuhalten: Formen einer „antisozialen Sozialisierung“, worin sich, aufbauend auf einem ganz bestimmten Katastrophenverständnis, befreiende Momente erkennen lassen.
Bedeutet eine Beschäftigung mit den Katastrophen der Geschichte und der Gegenwart automatisch, dass man mit dem Rücken zur Zukunft steht? Dieses Walter Benjamin’sche Bild greift Eva Kernbauer auf und problematisiert daran, inwiefern unser Verständnis von politischen und historischen Krisen einem spezifischen Zeitverständnis geschuldet ist. Könnte es sein, so Kernbauers zentrale Frage, dass unser herkömmliches Geschichts- und Krisenverständnis uns selbst zu unbeweglichen Subjekten macht, über die die Zeit gleichsam hinwegströmt? Wie ließe sich demgegenüber ein Sinn für eine größere, auch multiperspektivische Beweglichkeit wiederfinden? In eine ähnliche Kerbe schlägt Eva Maria Stadler, der als Mitorganisatorin der Konferenz gleichfalls unser großer Dank gilt. Eva Maria Stadler fragt ausgehend von dem Renaissancegemälde Gelegenheit und Reue, wie sich krisenhafte Momente in ein reflexives, kontextsensitives Verstehen überführen lassen – ein Verstehen, das auch ein Wissen um mögliche Veränderungen beinhaltet.
Daran wird, so wie in den weiteren Beiträgen dieser Ausgabe, ein entscheidender Aspekt des Krisendiskurses deutlich: dass dieser nur dann einen kritischen Wert in sich trägt, wenn er mit einer – im besten Fall emanzipatorischen – Idee der Formgebung einhergeht.