Heft 4/1998 - Lektüre



Hans-Christian Dany, Ulrich Dörrie, Bettina Sefkow (Hg.):

dagegen - dabei

Texte, Gespräche und Dokumente zu Strategien der Selbstorganisation seit 1969

Hamburg (Kellner) 1998 , S. 78

Text: Patricia Grzonka


Vielleicht liegt es ja nur daran, daß überall mit ein wenig Sentimentalität auf die achtziger Jahre zurückgeblickt wird. Vielleicht möchte man aber ganz einfach dem verschwindenden Jahrhundert, Jahrtausend, noch einen letzten Tritt verpassen; und so geschieht es dann, daß mit weitausholenden Gesten in schönen, dicken, schweren Büchern gesammelt wird, was gesammelt werden kann - zum Beispiel die Alternativkultur, die sich als spätromantische Blüte des merkantilen Abendlandes zum Sterben hingelegt hat, beziehungsweise bereits tot ist. Daß sie tot ist, kann man allein schon an der Untertitelung »Strategien der Selbstorganisation« ablesen, denn die stammt eindeutig aus dem Kunstjargon der neunziger Jahren und nicht aus der Sponti-Bewegung. Also kann man sich auch keine direkten Handlungsanweisungen erhoffen, eher posthume Erzählungen dessen, was bereits Praxis geworden ist.

Insofern verspricht dieser Titel zuviel, oder - je nach dem - auch zu wenig, denn das Buch liefert hauptsächlich eine Fülle an Materialien, Dokumenten, Gesprächen, Fotos, die eine bestimmte Szene einer bestimmten Ära beschreiben; strategisch ist allenfalls die Auswahl der Beteiligten.

Ausgangspunkt ist die legendäre (darf man das in diesem Zusammenhang überhaupt so sagen? - immerhin gab es auch eine Band dieser Zeit, die »Mythen in Tüten« hieß) »Buch Handlung Welt«, die von Hilka Nordhausen und ihren diversen MitstreiterInnen, etwa den AutorInnen Ulrich Dörrie und Bettina Sefkow im Hamburger Karolinenviertel von 1976 bis 1983 betrieben wurde. »Buch Handlung Welt« war ein künstlerisches Konzept oder eine »Überzeugung«, wie es Nordhausen formulierte, wo einerseits Bücher verkauft wurden, daneben aber auch Musik gespielt, Kunst produziert, getrunken wurde und Gesellschaften zusammenkamen. Es war die Zeit von Neo-Dada, Punk, Autonomen und Neuen Wilden. Vieles von dem streifte Nordhausens Buchladen, viele neue Projekte und Kollaborationen gingen von dort aus und entwickelten sich weiter. Einige blieben aber auch auf der Strecke liegen, wie letztlich Hilka Nordhausen selbst, die sich wohl als Künstlerin verstand, als klassische Umsetzerin von bohemistischen Männerkunstkonzepten jedoch hauptsächlich die Vermittlerrolle spielte (nachzulesen im Beitrag von Isabelle Graw).

Weitere Orte und Kommunikationsfelder, die mit dem Spontan-Impetus der »Buch Handlung Welt« verwandt sind und sich zum Teil bis heute erhalten oder ihre Anfänge in den »repolitisierten« neunziger Jahren haben, werden in »dagegen - dabei« dokumentiert: der »Merve-Verlag« (Gespräch mit Peter Gente und Heidi Paris), »parkfiction« von Cathy Skene und Christoph Schäfer (eine Intervention im Stadtraum), der Kunstverein Hannover in den siebziger Jahren unter Helmut R. Leppien, verschiedene Produktions- und Distributionsformen in der Musikszene wie Fanzines (Kerstin Grether) oder Plattenläden wie der »Zensor-Plattenladen« in Berlin (Frieder Butzmann). Zum Teil sind es auch Projekte aus Österreich, keine aus der Schweiz, die da vorkommen: Stella Rolligs »Depot« oder Linda Bildas und Ariane Müllers »Artfan«.

Bunt gemischt und immer unter dem Signum der »Selbstorganisation« - was zumindest im Falle vom »Depot«, das ja eine staatliche Angelegenheit in Österreich war/ist, sich auch als fragwürdige Kategorie erweist -, bereitet dieser Reader aber aufgrund der Bandbreite der Zugänge und des absenten Vollständigkeitsanspruchs hauptsächlich Lesevergnügen. Und wer träumte sich nicht gern in eine Zeit zurück, als Buchhandlungen noch Welt repräsentierten?