Heft 3/1999 - Neue Kolonien


Die Signifikanz der Fiktionen

Über Ursprungsmythen und die Macht des Traditionalismus in der globalen Gegenwartskunst

Olu Oguibe


Wenn man die Bedingungen betrachtet, unter denen afrikanische KünstlerInnen heute arbeiten, ist es sinnvoll, sich mit einem Phänomen auseinanderzusetzen, das diese KünstlerInnen ganz besonders beeinflusst. Es beeinträchtigt ihre Chancen auf dem internationalen Schauplatz der Gegenwartskunst, ihr Selbstverständnis, ihren Fortschritt und vieles andere mehr. Dieses Phänomen beeinflusst uns alle. Es spielt eine Rolle in unserem täglichen Leben und sorgt für Zusammenhalt in unserer Existenz als menschliche Wesen, Gesellschaften und Kulturen. Es spiegelt und formt unsere Einstellung uns selbst und anderen gegenüber. Entsprungen aus unserer Phantasie und durch die Kraft der Äußerung wird es zur Welt schlechthin. Ich spreche hier von dem Phänomen, das uns allen als Fiktion bekannt ist.
Ich glaube an die Kraft der Fiktionen. Ohne Fiktion existiert nichts: keine Geschichte, kein Mythos, keine Zivilisation, kein Fortschritt, keine Kultur und keine Wirklichkeit. In seinem Essay »Die Wahrheit der Fiktion« spricht der Vater des afrikanischen Romans, Chinua Achebe, von »der Sehnsucht des Menschen nach Fiktion« und erklärt uns, dass »der Mensch ein Fiktionen schaffendes Tier sei, das seine Vorstellungswelt mit seinen Fiktionen neu gestaltet«. Achebe erinnert uns auch daran, dass nicht alle Fiktionen »gleich sinnvoll oder wünschenswert« seien und trifft in der Folge eine Unterscheidung zwischen jenen Fiktionen, die den Menschen einen positiven Umgang mit der Realität garantieren, und jenen, die sie hinabführen auf den Pfad des Diabolischen und der Unmenschlichkeit gegen andere. Eine dieser Fiktionen ist die des Ursprungs und der Herkunft, die Fiktion der Zugehörigkeit oder des Verbundenseins mit einem bestimmten Ort. Diese Fiktion der Zugehörigkeit führt zu der Erwartung, dass wir sichtbar ge(kenn)zeichnet sind von dem Ort, zu dem wir angeblich gehören, und dass unser Schicksal und unser Glück durch dieses Zeichen bestimmt und definiert werden sollten. Trotz kürzlicher, äußerst bescheidener Verschiebungen in der Welt der Gegenwartskunst ist diese Fiktion für afrikanische KünstlerInnen nach wie vor von großem Nachteil in der internationalen Arena.
Oft stellt sich Leuten, sobald sie auf zeitgenössische afrikanische KünstlerInnen treffen oder von ihnen hören, die Frage, inwieweit diese KünstlerInnen oder ihre Arbeit als afrikanisch bezeichnet werden könnten beziehungsweise in welchem Ausmaß dieses Kennzeichen des »Afrikanischen« an ihnen sichtbar ist. Noch massiver und trivialer als diese harmlose Neugierde ist der Wunsch einiger – besonders westlicher – BetrachterInnen, dieses Element zu lokalisieren oder aber afrikanische KünstlerInnen abzutun und abzulehnen, die ihren Ursprungstest nicht bestanden haben. Die Voraussetzung ist natürlich, dass es eine erkennbare Eigenheit oder Unterscheidung gibt, die etwas oder jemanden als afrikanisch qualifiziert. Diese Besonderheit wird zu einem Raster, mit dem afrikanische KünstlerInnen und ihre Arbeiten beurteilt, kritisiert, akzeptiert oder abgelehnt werden. Subtil, aber bewusst setzen Museen und Institutionen sie als Eintrittskarte in ihre Sphäre ein. KuratorInnen schwingen sie wie ein Lackmuspapier. KritikerInnen berufen sich auf sie, um die Genialität von KünstlerInnen oder die Relevanz ihrer Arbeiten zu bestimmen.
Nun stellt sich die Frage: Was ist das Afrikanische an afrikanischen KünstlerInnen oder einer afrikanischen Person? Was ist das Afrikanische an einem Kunstwerk? Und warum scheinen die anderen bezüglich der Existenz dieser Chiffre des Afrikanischen immer zuversichtlicher und bestimmter als AfrikanerInnen selbst? Warum scheinen sie besessener von dieser Idee und beunruhigter, wenn diese Eigenheit zu fehlen scheint oder verdeckt bleibt? Warum wird nur von AfrikanerInnen und all jenen, die für Europa »das Andere« konstituieren, mehr als alles sonst gefordert, den vermeintlichen Ursprung in ihrer Arbeit zu reflektieren oder zu signalisieren – dem zu entsprechen, was ich die »Forderung nach Identität« genannt habe?
Diejenigen, die unerbittlich fragen, haben oberflächliche Antworten oft schnell zur Hand. Erst vor kurzem erhielt ich eine E-Mail von einer Amerikanerin, die zufällig auf einen kurzen Essay von mir über die Arbeit des Künstlers Gordon Bleach gestoßen war. In dem Aufsatz hatte ich Dr. Bleach als weißen Afrikaner bezeichnet. Bleach und seine Eltern stammten aus Zimbabwe. In ihrer E-Mail-Nachricht protestierte die Schreiberin gegen diese Bezeichnung und gab zu bedenken, dass sich der Begriff »afrikanisch« nur auf diejenigen beziehe, die auf dem afrikanischen Kontinent einheimisch (»native«) seien. In meiner Antwort konnte ich nicht anders, als sie ebenfalls daran zu erinnern, dass an einem Ort einheimisch zu sein eben bedeute, dass man dort geboren wurde; »native« stamme von dem lateinischen Wort für Geburt. Die Tatsache, dass Dr. Bleach, seine Mutter, seine Großmutter und seine Vorfahren der letzten zweihundert Jahre in Afrika geboren wurden, schien ihn ausreichend als gebürtigen (»native«) Afrikaner zu qualifizieren. Ich machte sie auch darauf aufmerksam, dass selbst die Idee der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Ort im besten Fall nur eine willkommene Fiktion sei, uns als Individuum zu positionieren, aber keine Eigenschaft, die uns lebenslänglich gegen unseren Willen aufgehalst werden dürfe. Andernfalls wird sie zu einem gefährlichen Vehikel des Ausschlusses und der Verdrängung jener, die wir als Außenseiter betrachten. In ihrer subtilsten Spielart macht sie harmlose und wohlmeinende Menschen zu »Anderen«. Danach verschließt sie ihnen sämtliche Möglichkeiten, verwehrt ihren Kindern den Zugang zu Schulen, lässt sie auf der untersten Gehaltsstufe rangieren, grenzt sie aus Wohngegenden aus, verweigert ihnen den Zutritt zu Machtpositionen, dämonisiert sie und macht sie zu Opfern hinterhältiger Stereotypen. Und sie stellt auch Forderungen an sie, setzt fest, welche Kleidung für sie passend ist, welcher Akzent von ihnen erwartet wird und welche kulturellen Gesten ihrem Typus entsprechen.
Sollten wir uns dennoch zu der vollkommen zweifelhaften Annahme durchringen, dass jemand aufgrund seiner Geburt oder ähnlicher Eigenschaften AfrikanerIn ist, bleibt die Frage aufrecht, wie und warum zeitgenössische KünstlerInnen diese Gebürtigkeit oder Verbindung in ihren Arbeiten reflektieren müssen? Wie reflektiert man seinen vermeintlichen Ursprung, und warum muss man damit versuchen, die Zustimmung anderer zu gewinnen? Und wieder finden sich zahlreiche oberflächliche Antworten, deren oft zitiertes Schlüsselwort Tradition lautet. Durch ihre Auswahl und Präferenzen vertreten heute viele internationale KuratorInnen, MuseumsankäuferInnen und SammlerInnen die Meinung, dass afrikanische KünstlerInnen gut daran täten, sich in ihren Arbeiten ihrer »Traditionen« zu besinnen. Gemeint ist, dass diese »Traditionen« als Archetypen dienen sollten, als Ausgangspunkte und vor allem als Markenzeichen, mit Hilfe derer wir ausnahmslos diejenigen identifizieren können, die wahrhaft afrikanisch sind. Bis vor kurzem spiegelte die Präsentation afrikanischer Gegenwartskunst auf der Biennale in São Paulo großteils diese Geisteshaltung wider – bis endlich afrikanische KuratorInnen begannen, die Leitung des afrikanischen Pavillons in São Paulo zu übernehmen. Während der achtziger und bis in die neunziger Jahre folgten die meisten großen Ausstellung über zeitgenössische afrikanische Kunst in westlichen Museen und Galerien von der Tate Liverpool, England, bis zum Centre Pompidou in Paris dieser Überzeugung. Dies hatte zur Folge, dass diese Ausstellungen nicht nur im Erfassen der Bandbreite und Komplexität zeitgenössischer afrikanischer Realität und visueller Produktion scheiterten, sie begingen zusätzlich einen methodischen Fehler, der in der Fiktion der Eigenart wurzelte. Denn was ist Tradition anderes als Fiktion, wenn ihre Umrisse von außen erfunden und definiert werden, auf der Suche nach Unterscheidbarem? Und was sonst sollte dieses verzweifelte Bestreben, andere mit »ihrer Tradition« zu verleiten, antreiben als ein ebenso verzweifelter Wunsch, dieses Unterscheidbare in Erfahrung zu bringen?
In ihrem unvermeidlichen Scheitern, eindeutige Indikatoren und Chiffren für diese »Traditionen« zu bestimmen, gingen Ausstellungen und KuratorInnen dazu über, Tradition in der von Jorge Luis Borges so bezeichneten »Fülle an Lokalkolorit« oder »unterschiedlichen Charakterzügen« zu lokalisieren. Sie suchten nach folkloristischen Themen, lokaler Fauna und Flora, erfanden eigentümliche soziale Bedrängnisse, kultivierten Naivität und schreckten nicht vor dem Faktum oder der Fassade des Analphabetismus zurück; all das fand seinen Höhepunkt in der Äußerung eines führenden europäischen Kulturmaklers, dass nämlich die besten afrikanischen KünstlerInnen jene seien, die »unge/verbildet« sind und noch nie im Louvre waren.
In seinem Essay »Argentinische Schriftsteller und Traditionen« mühte sich der Patriarch der lateinamerikanischen Literatur, Borges, mit eben jenen Fragen ab, die ich hier formuliert habe, und zwar speziell mit den vielfältigen Gesichtern, mit denen sich die Forderung nach Identität oft in die Kunst und die kulturellen Belange eines Volkes einmischt, manchmal mit unverhältnismäßigen Folgen. Hin- und hergerissen zwischen Anschuldigungen, einerseits den Bezug zur Vergangenheit zu verlieren und andererseits mit übertriebener Hingabe erlebte Unzulänglichkeiten kompensieren zu wollen, gingen argentinische Schriftsteller zu Beginn dieses Jahrhunderts dazu über, eine Fiktion des Traditionalismus zu erfinden, womit sie ihre ungebrochene Verbundenheit und Verpflichtung gegenüber ihrem kulturellen Erbe vermeintlich bekundeten. Dieses erdrückende Joch, so Borges, schadete der argentinischen Literatur mehr, als es ihr nützte. Es täuschte nicht nur ein trügerisches und gefälschtes Erbe vor, es schränkte auch das Vorstellungsvermögen und das wahre kulturelle Erbe dieser Schriftsteller ein. Das sind die Gefahren, denen afrikanische KünstlerInnen, die sich auf die beißende Kritik und die ausgrenzende Infrastruktur der zeitgenössischen Kunstwelt einlassen, ausgeliefert sind. Abgesehen davon, dass sie den Visionen und örtlichen Gegebenheiten künstlerischer Betätigungen Grenzen setzt, versucht diese Vorgehensweise auch, die Umstände und Bedingungen der Teilnahme am Geschehen der Gegenwartskunst zu diktieren.
Von solcher Art ist das teuflische Wesen ganz bestimmter Fiktionen. Sie werden bemerken, dass man auf Fragen wie: »Wer ist AfrikanerIn und was ist afrikanisch an einem Kunstwerk?« trotz oberflächlicher Fiktionen, die als Instanzen und Referenzen angeboten werden, keine befriedigenden Antworten erhält. Der Grund dafür ist, dass es in der Natur solcher Fragen liegt, sich einer Antwort zu entziehen; was seinerseits darauf beruht, dass der Wunsch nach Antworten oft nur die Projektion einer tieferen, weniger unschuldigen Suche ist, die häufig über die Grenzen ästhetischer Belange hinausführt. Fiktionen haben ihren Platz in unserem Leben. Sie helfen uns, Bedeutungen und Geheimnisse zu erhellen. Sie helfen uns, die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen. Allerdings dürfen Fiktionen nur als Fiktionen eingesetzt, verstanden und verbreitet werden, damit sie zuträglich bleiben und nicht zu Dogmen verkommen, mit all ihren Schrecken und Katastrophen. Mit anderen Worten, Fiktionen müssen Reflexionen über die Wahrheit bleiben und dürfen nicht zur Wahrheit selbst werden. Sie müssen flüchtige, verformbare Schatten bleiben und dürfen nicht versteinern. Fiktionen über diese Grenzen hinauszuführen, sei es als Fiktionen des Ursprungs, der Nationalität, der kulturellen Identität, der Tradition oder des Glaubens, heißt im besten Fall Missverständnisse, im schlimmsten Fall aber Angst und Schrecken heraufzubeschwören.
Fiktionen müssen erhellen. Wenn Fiktionen nicht mehr erhellen, sondern zu behindern oder zu verletzen beginnen, dann ist es an der Zeit, sich von ihnen loszusagen und sie abzulegen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich von den Fiktionen der Eigenart loszusagen und sie abzulegen – jenen Fiktionen, die noch immer die Sicht vieler Menschen im Westen auf zeitgenössische afrikanische KünstlerInnen bestimmen. Es ist an der Zeit zu erkennen, dass zeitgenössische afrikanische KünstlerInnen wie alle anderen KünstlerInnen auch als Individuen mit komplizierten persönlichen und kulturellen Geschichten das Recht haben, »alle Themen zu behandeln«, wie Borges treffend sagt – das Recht, sich dem Universum der Einbildungskraft zu öffnen und ihre eigenen Themen zu bestimmen, ihre Neigungen und Obsessionen.

Eine frühere Version dieses Aufsatzes wurde am 21. Jänner 1999 als Vorlesung an der Florida Atlantic University, Boca Raton, Florida vorgetragen.

 

Übersetzt von Beatrix Kaiser-Gnan