Heft 3/1999 - Neue Kolonien


»Es gibt keine Globalkultur«

Interview mit der Cultural Studies-Theoretikerin Meaghan Morris

Christian Höller


Es gehört zu den Plattitüden gegenwärtiger Theoriebildung, dass eine immer einheitlichere, alles nivellierende Globalkultur im Entstehen sei. Aber egal ob in alten imperialen oder neuen postkolonialen Kontexten – die Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen kulturellen Praktiken und Zeitlichkeiten sind verworrener, als dass sich daraus ein Bild zunehmender Homogenisierung entwerfen ließe. Die australische Cultural-Studies-Theoretikerin Meaghan Morris spricht sich angesichts dieser Debatte für ein Primat historisch-spezifischer Situationsräume, eine Neubewertung gängiger Mobilitätsrhetoriken und die Politisierung des deregulierten »kulturellen Kleinbürgertums« aus.

»Too Soon Too Late« heißt – in Übernahme eines Filmtitels von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet (»Trop Tôt Trop Tard«, 1980/81) – Meaghan Morris’ Studie zu Fragen der Geschichtlichkeit in der Populärkultur.(1) »Zu früh zu spät« meint dabei nicht nur den unangepassten Anachronismus vieler – kultureller, migratorischer, feministischer – Widerstandsformen, sondern auch die divergierenden Zeitlichkeiten, die nichtwestliche, nichteuropäische und nicht-hegemoniale Positionen in den scheinbar linearen Strom einer »westlichen« Moderne eingeführt haben. Morris nimmt dies zum Ausgangspunkt, um ganz bestimmte Kolonialismusmomente in der aktuellen Rhetorik von Dislozierung und Mobilität festzuhalten – immer mit Blick auf den ihr vertrauten politischen Kontext Ozeaniens. Warum dieser Ansatz unweigerlich auf die »populären« Schauplätze australischer Strände, Motels oder Shopping-Centers zurückkommt, erklärt Morris mit der postkolonial informierten Historizität dieser scheinbar so verwechselbaren, »globalen« Orte. Erkennbar werden darin aber auch die Konturen eines Cultural-Studies-Ansatzes, der kulturelle Veränderung und minorisierte Themen auf der Basis eines neuen »industriellen Denkens« zu begreifen versucht.

Historisch bedingte Kontexte

christian höller: Ihre Cultural Studies-Arbeiten befassen sich nicht bloß mit den historischen Schichten ihrer Gegenstände – etwa von Motels oder Shopping-Centers –, sondern gehen auch von einem sehr präzise definierten Kontextbegriff aus. In der Folge beschäftigen Sie sich stärker mit konkreten Orten und Beispielen aus dem australischen Alltagsleben als mit den »frei flottierenden Produkten« der internationalen Popkultur. Geht diese Betonung von klar abgegrenzten geografischen Kontexten mit dem Wunsch nach so etwas wie historischen »Tiefenstrukturen« einher? Und lassen sich solche Kontexte überhaupt theoretisch aufrechterhalten, wenn man die globalen Prozesse der heutigen Medien- und Warenzirkulation in Betracht zieht?

meaghan morris: Nun, zunächst würde ich sagen, ich beschäftige mich mehr mit konkreten Orten und Beispielen aus dem australischen Alltagsleben als mit den global zirkulierenden Produkten der internationalen »Theoriekultur«! Ich glaube nämlich nicht, dass popkulturelle Produkte – oder auch akademische Produkte – tatsächlich jemals »frei flottieren«. Kulturelle Güter werden immer von bestimmten Leuten an ganz bestimmten Orten konsumiert. Sie finden Eingang in konkrete Kontexte und Praktiken, die ihnen unterschiedliche Bedeutungen und Wert verleihen, die aber immer auch einschränkend sind. Dieser Kontext muss nicht unbedingt ein Nationalstaat, eine Region, eine Stadt oder irgendein anderer physischer Ort sein; er kann genauso gut eine transnationale Zunft oder eine soziale Bewegung, ein religiöser Kult oder ein Chatroom im Internet sein. Tatsächlich bewohnen Individuen eine Vielzahl von Kontexten, ja sie »flottieren« sogar ein wenig zwischen ihnen – einige freier als andere –, aber das erfolgt immer mehr oder weniger eingeschränkt. Ein bestimmter Kontext kann unser Leben völlig dominieren oder aber zehn Minuten pro Tag einnehmen. Deshalb erfordert die Abgrenzung eines Kontextes, so wie ich das verstehe, keine Festlegung von klaren geografischen Grenzen, genauso wenig wie historische Strukturen nicht »tief« sein müssen. (Das sind sie nämlich auch nicht.) Ein Kontext ist einfach ein tatsächlich vorhandener oder virtueller Situationsraum, der nicht nur von sozialen und ökonomischen Kräften geformt wird, sondern auch von einer gemeinsamen Vorstellung dessen, »was von Bedeutung ist« – was wiederum keine dauerhafte Vorstellung sein muss, um Folgen zu zeitigen.
Aus diesem Grund würde ich sagen, ja, um einen Kontext zu verstehen, muss man seine Geschichte verstehen und danach fragen, was die Geschichte für jene bedeutet, die Teil dieses Kontextes sind – was manchmal vielleicht »nicht allzu viel« ist. Aber ich würde mit »nein« antworten, wenn die Frage lautet, ob ich Geschichte mit Zeit und Tiefe gleichsetze, parallel etwa zur Gleichsetzung von Geografie mit Raum und Oberfläche. Und ich würde mit einem emphatischen »nein« antworten, wenn die Frage lautet, ob ich der Ansicht bin, dass geografische Grenzen unterschiedliche historische Räume markieren. Dem ist überhaupt nicht so. Kontexte sind immer relational bestimmt, und globale Prozesse – weit davon entfernt, kontextuellem oder pragmatischem Denken zuwiderzulaufen – machen ein solches Denken geradezu unverzichtbar. Kontexte sind die materiellen Stützen der Globalisierung. Um es anders auszudrücken: Es gibt fast-globale Industrien – die englischsprachigen Universitäten werden immer mehr dazu – und fast-global verfügbare kulturelle Produkte, etwa Actionfilme aus Hollywood. Aber deshalb gibt es noch keine »globale Kultur«, ausser vielleicht in der professionellen Einbildung von KulturtheoretikerInnen, die über andere TheoretikerInnen schreiben, ohne selbst empirische Forschung zu betreiben. Es gibt einzig und allein konkrete Kontexte, in die globale Produkte auf ganz bestimmte Weise Eingang finden. Tony Mitchells Arbeit über die »Glokalisierung« von Rap unterstreicht dies.(2) Afroamerikanische Formen von Rap scheinen nur dann »global« und kontextauslöschend zu sein, wenn man italienischen Rap außer Acht lässt, Samoa-Rap, Maori-Rap, White-Boy-Rap, Canberra-Rap, auch afrikanische Wiederaneignungen von Rap … sowie die Unterschiede und Verknüpfungen zwischen all diesen Formen.

höller: Um noch einmal auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Ihr Projekt der historischen Kulturanalyse befasst sich mit der Spezifik Australiens, insbesondere seiner Aborigines-Vergangenheit, der britischen Invasion von 1788, der langen Kolonialgeschichte, schließlich den Kämpfen der Entkolonialisierung. Lässt sich das heutige Australien als Beispiel eines »postkolonialen« Staates betrachten, und wenn ja, inwiefern stützt dies die Annahme, dass es einen spezifischen australischen Kontext – etwa von Kultur oder Postkolonialität – gibt, der sich von der übrigen postkolonialen Welt unterscheidet?

morris: Australien lässt sich in zweierlei Hinsicht als »postkolonial« betrachten. Zum einen ist da die idealistische, um nicht zu sagen utopische Sichtweise: Postkolonialismus stellt ein Ziel dar, für das wir uns einsetzen, beziehungsweise ein Werden, das gegenwärtige Kämpfe leitet. Zum anderen geht es um ganz praktische und triviale Dinge: Ab einem bestimmten Punkt muss man einfach zugeben, dass ein wichtiger Abschnitt des Kolonialismus mehr oder weniger vorbei ist. Was uns aber nicht von der Aufgabe entbindet, die neuen Formen des Imperialismus und deren parasitäre Beziehungen zu den Machtverhältnissen und Gefühlsstrukturen des alten Imperialismus zu verstehen. Für viele AustralierInnen wurde Australien mit der Verabschiedung des Native Title Act (1992/93), der die Ansprüche der Aborigines anerkannte, »postkolonial«. Ich neige dazu, dem zuzustimmen. Für andere liegt der entscheidende Schritt darin, dass Australien zu einer Republik werden muss, was vielleicht im Jahr 2000 oder in zehn, zwanzig Jahren passieren wird.
Jedenfalls würde ich nicht behaupten, dass es einen spezifischen australischen Kontext gibt, der sich von der übrigen postkolonialen Welt unterscheidet – und zwar weil man die übrige postkoloniale Welt nicht über einen Kamm scheren kann! Alle postkolonialen Kontexte sind für sich genommen sehr spezifisch, und diese Spezifik zu beschreiben heißt nicht, ihre Einzigartigkeit zu behaupten. Vielmehr lässt sie sich am ehesten durch Vergleiche und Kontraste erfassen. Ein offensichtlicher Unterschied, der »die postkoloniale Welt« durchzieht, ist jener zwischen ehemaligen Siedlerkolonien, wo die ImmigrantInnen die Ortsansässigen (natives) einfach überlaufen haben – etwa in Australien, den USA, Kanada oder Taiwan –, und »Besatzungskolonien«, etwa Indien, Neuguinea, Algerien oder Osttimor. In dieser zweiten Gruppe wurde der postkoloniale Zustand meist dadurch erzielt, dass es nationale Befreiungskriege gab, während in der ersten Gruppe – aus verständlichen Gründen – eher auf den legislativen Weg der Konfliktlösung gesetzt wurde. Oft zeichnen sich Verbindungen ab zwischen Siedlergemeinschaften, die in den früheren Besatzungskolonien bleiben oder sich plötzlich in neu geordneten politischen Geografien wiederfinden – man denke nur an Nordirland, Palästina oder das Kosovo und – etwas weniger dramatisch – Gebiete im heutigen China oder Indonesien. Aber es sind auch andere historische Kartografien möglich,(3) und ohne hier weiter auszuholen, möchte ich einfach betonen, dass sich die »übrige postkoloniale Welt« heute fast über die ganze Welt erstreckt. Die Komplexität eines kleines Teils davon herauszuarbeiten heißt, einen Beitrag zu einer ungleich größeren Aufgabe zu leisten, nämlich »Geschichte« global zu denken.

Koloniale Rückstände

höller: In Bezug auf die Geschichte des Kolonialismus und seine australische Ausformung bringen Sie ein wichtiges Argument vor: nämlich dass das alte europäische Modell von Reise/Mobilität versus Heim/Zuhausesein darin zweifelhaft wird. Um aus einem Ihrer Essays zu zitieren: »Die Kolonialisierung ist eine Art von Bewegung, die als Besetzung von anderer Leute ›Homelands‹ sowie als Zerstörung ihrer Familien und Behausungen verfährt – und die damit vielerlei Grenzen überschreitet. In und nach dem Kolonialismus verliert die europäische Reise-Zuhause-Unterscheidung ihre oppositionelle Struktur.«(4) Gilt dies auch für die gegenwärtigen Rhetoriken von Mobilität und Dislozierung? Oder allgemeiner gefragt: Wie würden Sie die Relevanz von lokaler Zugehörigkeit in Bezug auf kulturelle Formen beschreiben, die mehr und mehr von – erzwungener oder freiwilliger – Mobilität charakterisiert sind?

morris: Nun, diese Kritik der Zuhause-Reise-Opposition bezieht sich natürlich auf die heutigen Rhetoriken von Mobilität und Dislozierung. Diese gehen oftmals von einer Vergangenheit aus, in der scheinbar die stabile Ortsansässigkeit dominierte, die aber in ihrer tatsächlichen Verteilung sehr begrenzt war – nämlich auf EuropäerInnen, die selten reisten, um es überspitzt zu formulieren. Aus deren Perspektive erscheinen zunehmende Mobilität und massenhafte Dislozierung neuartiger und »katastrophischer« als sie tatsächlich sind. Dies ist ganz deutlich in den Schriften französischer Autoren wie Paul Virilio oder Jean Baudrillard spürbar: Ihre beängstigenden Gegenwarts- und Zukunftsszenarien basieren auf der Erzählung einer »menschlichen« Vergangenheit, in der ein zutiefst ortsverbundener Bauer zum allerersten Mal in den Zug steigt und seine ganze Welt beziehungsweise Seinsweise untergehen sieht. Zweifellos ist das eine höchst traumatische Erfahrung – oder die allegorische Version davon. Aber zu der Zeit, als europäische Bauern erstmals in einen Zug stiegen, wurden meine irischen VorfahrInnen bereits von Geburt an dazu erzogen, dass sie einmal aus ihrem verwüsteten Land emigrieren würden. Was für eine Erfahrung von »Zuhause« ist das, wenn man vom ersten bewussten Moment an weiß, dass man mit sechzehn ein Schiff besteigen, zehntausend Meilen in ein unbekanntes Land fahren und vermutlich seinen Geburtsort oder die eigene Mutter nie mehr wieder sehen wird? Was ist »Heimat«, wenn Dislozierung von vornherein in die Erfahrung eines »Zuhauses« einprogrammiert ist? Eins ist sicher, man kann Zugehörigkeit auf diese Weise auch im Unterwegssein erfahren.
Eines der Kernprobleme liegt aber darin, wie man Nation und Geschichtsschreibung begreifen soll. Auch ein Theoretiker des Nationalismus wie Ernest Gellner verbannt ImmigrantInnen-Nationen wie die USA oder riesige zusammengesetzte Nationen wie Indien in eine Fußnote. Seine Erklärung geht von der Vorherrschaft und »Natürlichkeit« des westeuropäischen Modells aus. Mein Interesse gilt der Frage, was passiert, wenn wir die »zusammengesetzten« MigrantInnen-Erfahrungen der Nationsbildung in den Mittelpunkt rücken; was passiert, wenn wir – um des Arguments willen – die westeuropäische Leugnung von Migration als Grundlage von Nation-alität und Staatsbürgerschaft in eine Fußnote verbannen? Sofort zeichnet sich ab, dass die heutigen Rhetoriken von Mobilität und Dislozierung mehr Kontinuität und komplexe Verbindungen mit den althergebrachten aufweisen. Wenn wir das begreifen, können wir das Besondere der Gegenwart viel realistischer verstehen. Außerdem bekommen wir so auch die Phänomene der Immobilisierung und der erzwungenen Mobilität in den Blick. Letztere ist sogar ein definierendes Merkmal unserer Zeit, das in immer größerem Ausmaß auftritt. Aber sie geht auch mit der zunehmenden Eingrenzung großer Zonen der Bevölkerung in den Industriestaaten einher – etwa der »Umzäunung« von unrettbaren Gemeinschaften und Gebieten in amerikanischen Städten, denen keine Bank der Welt mehr Kredit geben würde; der Immobilisierung von Land- und IndustriearbeiterInnen, die der neuen Ökonomie keine nützlichen Fertigkeiten mehr verkaufen können, in langsam sterbenden Städten; aber auch der »Überschussmenschen« in den Entwicklungsländern. Man denke nur an die riesigen Flüchtlingslager, die voll mit Opfern von ökonomischer und politischer Gewalt sind, oder an Natives, die – wie in Taiwan, Bali oder Teilen Australiens – infolge kultureller Gewalt in tourismusgeplagten Reservaten eingeschlossen sind. In dieser Hinsicht bin ich »Traditionalistin«: Diese multikulturellen Geschichten sind immer noch Geschichten von Kapital und Arbeit, und vielleicht lässt sich diese Kontinuität heute leichter in jenen Ländern beobachten, die von Anfang an vom Kolonialismus geformt wurden.

höller: Was »multikulturelle Geschichten« betrifft, so interessieren Sie sich auch speziell für die australische Tourismusindustrie und ihr Export-Image eines urbanen, sozial-liberalen und eben multikulturellen Paradieses. Die Idee des Multikulturalismus scheint in Australien im Umfeld der Zweihundertjahrfeier (1988) eine besondere Bedeutung erlangt zu haben, als – wie Sie behaupten – Revisionen des Kolonialismus zu einer Art Mainstream wurden. Wie würden Sie den gegenwärtigen Stand der Multikulturalismusdebatte beurteilen? Welche Machtvektoren laufen darin zusammen, und in welchem Verhältnis steht sie zur immer dominanteren politischen Kultur des »Korporatismus«?

morris: Der gegenwärtige Stand der Multikulturalismusdebatte in Australien ist miserabel. Es stimmt, dass 1988 und die Zweihundertjahrfeier einen Höhepunkt darstellten, sowohl was die Staatspolitik als auch das intellektuelle und soziale Feld betrifft. Damals schien man weithin zu akzeptieren, dass der »Multikulturalismus« sowohl eine Philosophie der Kohärenz als auch der Differenz sein könnte – eine Methode, wie heterogene Gruppen von Leuten zusammenleben könnten. Ein Prinzip der Zusammensetzung/Komposition, wie Deleuze und Guattari das bezeichnen.
Diese Phase endete aber symbolisch im Jahr 1996 mit dem Erdrutschsieg der gegenwärtigen liberal-nationalen Regierung, und rückblickend wird klar, dass der soziale Konsens in Bezug auf den Multikulturalismus als das, »was wirklich zählt«, schon viel früher auszufasern begann. Die Gründe dafür sind kompliziert, aber meiner Ansicht nach sind sie primär ökonomischer Natur und nicht so sehr »ideologischer« – das heißt, es findet keine Rückkehr zu Rassismus oder Assimilationismus auf populärer Basis statt. Meinungsumfragen – was immer man davon halten mag – zeigen hingegen immer noch, dass es eine breite Zustimmung zum Prinzip des Multikulturalismus quer durch die Gesellschaft gibt, nämlich 75 bis 80 Prozent. Die Leute haben bloß aufgehört, soziale Themen als vorrangig zu betrachten. 1996 wurde schließlich die Labor-Regierung abgewählt, weil sie sich scheinbar zu sehr mit »nachrangigen« ethischen Idealen – den Rechten der Aborigines, mit Feminismus oder Multikulturalismus – befasste, und dies auf Kosten von ökonomischen Fragen, die die »einfachen Leute« einschließlich MigrantInnen, Frauen und Aborigines stärker betrafen. Die Umstrukturierung der Wirtschaft, die in den achtziger und neunziger Jahren stattfand, hatte für die arbeitende Bevölkerung schreckliche Auswirkungen, insbesondere in ländlichen Gebieten. Diese Leute glaubten, dass der »Labor-Korporatismus« sie an die sogenannten »Interessengruppen« verkauft hätte, das heißt, an die elitären, selbsternannten RepräsentantInnen von MigrantInnen-, Frauen- und Aborigines-Interessen. Und da ist tatsächlich etwas dran.
Im Moment ist die Situation seltsam, um nicht zu sagen zum Verzweifeln, vor allem aufgrund der leidenschaftlichen Nostalgie des gegenwärtigen Premierministers John Howard nach dem alten, assimilationistischen, »weißen Australien« seiner Jugend in den fünfziger Jahren. Viele Mitglieder seiner Regierung teilen dieses Gefühl nicht, und so ist es leider auch möglich, sozial-liberal zu sein, während man gleichzeitig für einen radikal-rechten ökonomischen Neoliberalismus eintritt. Diesen Kurs wird die liberale Partei vermutlich ansteuern, sobald sich Howard zur Ruhe setzt.
Interessanterweise ist es Howard aber nicht gelungen, das Thema Multikulturalismus gänzlich aus dem Arbeitsvokabular der australischen Parteien zu streichen. Heuer sah er sich sogar gezwungen, es als eine der wichtigsten sozialen Errungenschaften Australiens anzuerkennen. Rhetorisch haben wahrscheinlich die »Interessengruppen« – deren Interessen in Wirklichkeit weder sehr speziell noch auf kleine Gruppen beschränkt sind – vorübergehend den Sieg davongetragen. Auf administrativer Ebene aber ist das »weiße« Australien gewaltig zurückgekehrt. Das ist miserabel, wird aber hoffentlich auch wieder vorbeigehen.

Populäre Theorien

höller: Ein weiteres Hauptthema, mit dem sich Cultural Studies in ihren diversen Formen, Genealogien und Methoden konfrontiert sehen, ist das Problem der Geschichtlichkeit. Und zwar nicht nur im Sinn ihrer eigenen überlagerten Geschichte, sondern auch in Bezug auf ihre Gegenstände, die ja oft als ephemere, »Hier-und-Jetzt«-Produkte der Populärkultur bejubelt werden. Da Sie so großen Wert auf den Aspekt der Geschichtlichkeit innerhalb von Cultural Studies legen – speziell in der Auseinandersetzung mit den erwähnten Themen –, möchte ich fragen, welche entscheidenden Dimensionen dadurch für die Analyse eines tendenziell flüchtigen Alltagslebens gewonnen werden.

morris: Ich möchte an dieser Stelle ein paar Kommentare zur Disziplin der Cultural Studies vorwegschicken, bevor ich meinen eigenen Schwerpunkt darin erläutere. Zunächst sollte man sich vor Augen halten, dass sich Cultural Studies nicht nur mit Populärkultur beschäftigen, geschweige denn mit ihren aktuellsten Produkten. CS können sich genauso mit der Sexualität im alten Rom, mit der Geschichte des Samba in Brasilien oder mit dem Einsatz von klassischer Musik im indischen Kino befassen; oder mit der Rolle, die Regierungseliten für die Gestaltung von Medienregimen spielen (übrigens eines meiner Spezialinteressen), der »Geburt des Museums«, der Galerie, dem literarischen Kanon oder mit dem Auftauchen und den Auswirkungen einer «Nationalsprache«. Cultural Studies definieren sich aber nicht über eine bestimmte Auswahl an Themen, sondern durch ihr analytisches Interesse an den Beziehungen zwischen kulturellen Praktiken zum einen und den sozialen und ökonomischen Mächten zum anderen. Das heißt auch, dass sich CS ganz entschieden mit Institutionen auseinandersetzen, und Institutionen leben ganz sicher nicht für das »Hier und Jetzt«. Sie schleppen einen schweren Ballast an Präzedenzfällen und Gewohnheiten mit sich, ebenso wie eine gewaltige Trägheit, die als Gedächtnis funktioniert.
Zweitens sollte man die aktuelle Populärkultur nicht unbedingt als ephemer betrachten, ausgenommen vielleicht in der trivialen Hinsicht, dass ihre performativen Ausformungen die Qualität der Flüchtigkeit aller auf Zeit basierenden Künste teilen; aber die Feinheiten unserer heutigen Aufnahme-, Speicher- und Vertriebstechnologien ziehen auch diese Annahme zunehmend in Zweifel. Wenn jemand die Medienkultur als ephemer bezeichnet, so ist damit üblicherweise gemeint, dass ihre Produkte für zukünftige Generationen, aber auch für uns selbst in der kommenden Woche nicht mehr von Belang sein werden. Diese Annahme wird dieser Tage immer unpassender; man braucht nur daran zu denken, wie das Kabelfernsehen alte Filme und Fernsehshows wieder in Umlauf gebracht hat; oder wie das Wuchern von alten und neuen Musikstilen, die jetzt einfach auf CD verfügbar sind, die »Hitparaden-Formation« der Popmusik zerstört hat; oder wie die Vorstellung von Mode als einer singulären Norm, die jede Saison per Dekret revidiert wird, langsam kollabiert. Technologie und Handel fördern heute die Restaurierung, Konservierung, Erinnerung, Neuinterpretation und Revision als Organisationsprinzipien der Pop- und Medienkultur – zwar selektiv, aber dafür in immer größerem Ausmaß. Die Kombination von Computerterminal und Telefon wird in Bälde das ganze Archiv der Popkultur zugänglich machen, und dieses Archiv wird auch Popkulturtexte über Popkulturgeschichte enthalten.
Folglich wird immer offensichtlicher, dass Haltbarkeit und Vergänglichkeit keine intrinsischen Eigenschaften von kulturellen Gegenständen und Formen sind – Marke »Mozart ist haltbar, Madonna vergänglich« –, sondern das Ergebnis einer bestimmten Art und Weise, wie diese Gegenstände und Formen valuiert werden. Dieser Prozess ist immer auch historisch. Die Vorstellung, dass Medienprodukte ephemer seien, hat sich selbst als vergänglich oder genauer: als transitorisch erwiesen. CS, so wie ich sie verstehe, können neben »Eintagsfliegen« auch die Geschichte der »Vergänglichkeit« als moderne – oder modernistische – Vorstellung untersuchen. Oder die Erinnerungskünste, die die Menschen in und durch ihre Verwendung von Medien und in ihrer Partizipation an der Popkultur ausüben. »Culture« im Wort »Cultural Studies« ist immer als Feld von Praktiken zu verstehen, nicht als Textkorpus oder als Menge von Objekten.
Drittens ist die Populärkultur nicht dasselbe wie das Alltagsleben. Letzteres besteht aus mehr als bloß Kultur, egal ob populär oder nicht. Genauso wie es elitäre Formen des Alltagslebens gibt, existieren sakrale, folgenschwere oder »rare« Formen und Momente in der Popkultur. CS interessieren sich für die Beziehungen zwischen dem Elitären und dem Populären, dem Populären und dem Alltäglichen, dem Alltäglichen und dem Außergewöhnlichen. Daneben interessieren sie sich für die Beziehungen zwischen Kultur und Nichtkultur, und diese sind zutiefst zeit- als auch ortsbedingt.
Kurzum: Geschichte ist immer schon in den Verläufen und Praktiken des Alltagslebens enthalten. Wir müssen sie nicht extra hinzufügen. Sie ist in den Institutionen immer schon da, auch als Dimension, die die Erfahrung durchdringt. Geschichte wird auch im Alltagsleben produziert, und CS gehen diesbezüglich mit Social History zusammen. Meine Arbeit geht von der Frage aus, wie wir die Beziehungen zwischen Geschichte, wie AkademikerInnen sie heute begreifen, und den populären Geschichten und Geschichtsschreibungen, denen wir im Alltag begegnen, fassen können. In dem Teil der Welt, wo ich lebe, stellt dies ein viel dringlicheres Bedürfnis dar, zumal die asiatischen und pazifischen Gesellschaften gerade eine Phase gewaltiger Umwälzungen erleben. Die populärkulturellen Auseinandersetzungen über den Wert der Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft werden immer intensiver.

Kulturelle Veränderung und industrielles Denken

höller: Ein Hauptaspekt der historisch ausgerichteten Cultural Studies gilt dem Problem der kulturellen Veränderung, sei es im Sinne von Fortschritt oder von Verfall. Sie hängen diesbezüglich weniger den Großen Theorien an, die »Fortschritt« für sich in Anspruch nehmen, als der Vielzahl von »Auseinandersetzungen über die Bedeutung und den Wert der Geschichte für die Gegenwart«, worin unterschiedliche Zeitlichkeiten oder befreiende Potentiale enthalten sein könnten. In welchem Ausmaß ist dieser Begriff von Veränderung von minoritären Themen geprägt? Sobald darin unterschiedlichste antagonistische Projekte enthalten sein sollen, scheint es, als könne daraus nur schwer eine einheitliche Vorstellung von kultureller Veränderung resultieren.

morris: Eine schwierige Frage, und einiges davon habe ich ja schon anzureißen versucht. Ich möchte dazu nur anmerken, dass minoritäre Themen nicht unbedingt antagonistische Differenzen enthalten müssen; und wenn sie das doch tun, dann müssen sie sich darin nicht unbedingt von majoritären Auseinandersetzungen unterscheiden. Ich bin im übrigen keine Anhängerin des Partikularismus. Im Gegenteil stimme ich dem Argument zu, das Naoki Sakai in dem Buch »Translation and Subjectivity«(5) vorbringt, nämlich dass Universalismus und Partikularismus ganz tief miteinander verstrickt sind. Sie benötigen einander und speisen sich auseinander, oftmals auf Kosten von ganz schwerem menschlichen Leiden. Man braucht jedoch kein/e PartikularistIn zu sein um zu sehen, dass das, was immer als majoritäres Thema galt, stets das Privileg ganz bestimmter Minderheiten war – am häufigsten, wie es das Stereotyp will, von weißen europäischen Männern. Was in aller Welt sollte an feministischen Themen minoritär sein? Oder an Fragen von Ethnizität und Rassismus – dem, was für ImmigrantInnen zählt, die den sogenannten Gastgebergesellschaften das Überleben und manchmal sogar den Wohlstand sichern? Tatsache ist, dass das Modell der antagonistischen Differenz aus dem Vokabular des Klassenkampfes übernommen ist – der großen Schlacht zwischen (weißem männlichen) Kapital und (weißer männlicher) Arbeit. Projiziert man dieses Modell auf damit verwandte oder assoziierte »andere« Kämpfe, so werden diese plötzlich zu einer Gefahr für die Solidarität. Ich halte das für Unsinn. Was in Bezug auf »Veränderung« heute so verwirrend und schwierig ist, ist nicht, dass Minderheiten herumlaufen und auf ihren partikularen Status pochen, sondern in der Vervielfachung der Auseinandersetzungen – inklusive Antagonismen und Allianzen –, in deren Namen verschiedene Gruppen Anerkennung fordern und ihre Geschichten in der Öffentlichkeit erzählen wollen. Die Auseinandersetzungen selbst sind üblicherweise nicht so neu. Neu ist vielmehr die relative Legitimität, wonach ihre Ansprüche genauso viel gelten sollten wie sogenannte majoritäre Themen.
Deshalb würde ich sagen, dass unsere gängigen Theorien der Veränderung und nicht die Minderheiten hier im Unrecht sind; sie sind den heutigen Umständen nicht mehr angemessen, und deshalb muss man intellektuell etwas dagegen tun.

höller: Dies wirft die Frage nach der sozialen Positionierung von KulturarbeiterInnen und KritikerInnen auf, aber auch nach der Selbstpositionierung von CS-TheoretikerInnen: In den gegenwärtigen, deregulierten Gesellschaften und Ökonomien haben all diese Gruppen immer geringere Chancen, nicht in die neu entstehende Klasse zu fallen, die Pierre Bourdieu und andere das »neue kulturelle Kleinbürgertum« nennen. Stimmen Sie dieser Diagnose zu, und wenn ja, glauben Sie, dass dies in jedem Fall eine beklagenswerte Entwicklung ist? Wie könnten taktische Auswege aus dieser »Klassifizierung« aussehen?

morris: Ich stimme dieser Diagnose zu, aber ich glaube, sie ist nur dann beklagenswert, wenn wir ungeschickt damit umgehen oder aus unserer Position des »neuen kulturellen Kleinbürgertums« heraus kläglich handeln. In Zukunft wird sich sicher eine neue Politik der KulturarbeiterInnen entwickeln, so viel ist klar. Aber Tatsache ist, dass sich die Form dieser Politik gegenwärtig fast nicht beschreiben oder imaginieren lässt. Wir befinden uns da erst am Anfang einer neuen Phase der Entwicklung des Kapitalismus – der nicht unbedingt ein »später« ist, sondern einfach in vielerlei Hinsicht ungewohnt ist. Wir sind sozusagen in der Position von MaschinenstürmerInnen, die die neuen Maschinen zu zertrümmern versuchen, dabei kläglich scheitern, aber in diesem Prozess auch den Raum einer künftigen Politik gestalten. Während ich mich also Bourdieus ätzender Haltung gegenüber den »Medienintellektuellen« nicht anschließe, schätze ich die Verve seiner kritischen Angriffe. Trotzdem kommen sie mir sehr europäisch vor; in Australien wie in den USA ist die Basis der Sozialität »mediatisiert«, und es gibt kein »Außen« – schon gar nicht an den Universitäten –, von dem aus Intellektuelle sprechen könnten. Ich halte daher eher die Akzeptanz unserer »Klassifikation« als deren Ablehnung für den geeigneten ersten Schritt in Richtung größerer politischer Lebhaftigkeit. Der zweite Schritt bestünde darin, »industriell« zu denken. Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist das ökonomische Überleben für das »kulturelle Kleinbürgertum« überaus schwierig geworden, vor allem in den Ländern, in denen der Apparat des Wohlfahrtsstaates demoliert worden ist, wie das etwa in Australien großteils der Fall war. Die Strafe für ökonomisches Versagen ist heute so gewaltig, dass ein Appellieren an das Ethos, den Gerechtigkeitssinn, den Altruismus oder die soziale Verantwortung der Leute beinahe nutzlos geworden ist. Politische Kritik der alten Schule ist – bestenfalls – zu einem Unterhaltungsprogramm oder einem religiösen Ritual geworden. Wir müssten uns viel praktischer und konstruktiver darauf konzentrieren, wie man sich in der Post-Wohlfahrtsstaat-Welt »industriell« organisieren kann. Schließlich benötigt das Ethos der Kritik immense staatliche Beihilfen, um überleben zu können. In europäischen Ländern, wo man sich entschlossen hat, mit hohen Arbeitslosenraten zu leben und ein gewisses Maß an Wohlfahrt zu gewährleisten, bleiben diese Beihilfen weitgehend aufrecht – sie sichern den Bourdieus unserer Zeit ihr Überleben, was ja eine gute Sache ist. Aber in der übrigen Welt sind sie endgültig dahin, oder waren überhaupt nie vorhanden. Also muss man sich überlegen, wie man in der Praxis mit den Folgen davon umgeht, und das stellt eine intellektuelle Herausforderung von gewaltigem Ausmaß dar. Mir scheint es angebrachter, sich davon aufstacheln als sich entmutigen zu lassen, oder sich damit zufrieden zu geben, die Entwicklung zu beklagen.

 

 

1 Too Soon Too Late. History in Popular Culture. Bloomington, Indianapolis 1998.
2 Popular Music and Local Identity. Rock, Pop and Rap in Europe and Oceania. Pinter Pub 1996.
3 Vgl. etwa Donald Denoon: Settler Capitalism. The Dynamics of Dependent Development in the Southern Hemisphere. Oxford, New York 1983.
4 At Henry Parkes Motel. In: Too Soon Too Late, a.a.O., S. 62 f.
5 Translation and Subjectivity. On Japan and Cultural Nationalism. Minneapolis, London 1997.

Publikationen von Meaghan Morris:
Michel Foucault: Power, Truth, Strategy. Sydney 1978 (hg. gemeinsam mit Paul Patton)
The Pirate’s Financée: Feminism, Reading, Postmodernism. London 1988
Australian Cultural Studies: A Reader. Sydney 1993 (hg. gemeinsam mit John Frow)
Too Soon Too Late. History in Popular Culture. Bloomington, Indianapolis 1998

In Vorbereitung:
White Panic: History in Action Cinema. London: Verso
Truth and Beauty in Our Times. Harvard, London: Harvard University Press