Heft 3/1999 - Lektüre



A.N.Y.P.:

A.N.Y.P., Nr. 9 (1999)

Zeitschrift für zehn Jahre

, S. 81

Text: Christian Kravagna


Die planmäßig vorletzte Ausgabe der aus dem Umfeld des Berliner minimal club publizierten »Zeitung für 10 Jahre« ist in einem brutalistischen Layout mit Rekordwerten an Zeichen pro Seite erschienen. Über die Hintergründe einer so radikalen Ornamentalisierung von Texten lässt sich nur spekulieren. Das Ausbreiten eines geschlossenen Signifikantenteppichs erscheint wie die formale Homogenisierung eines offensichtlich nicht mehr ganz so homogenen »Zusammenhangs«. Wohl finden sich Weiterführungen thematischer Schwerpunkte früherer Ausgaben, doch haben sich die Arbeitsgebiete der einzelnen AutorInnen mittlerweile deutlich ausdifferenziert und ihre Zugänge in vielen Fällen ebenso deutlich verwissenschaftlicht. Auch eine veränderte Selbstpositionierung in der intellektuellen Landschaft lässt sich erkennen. Während man noch vor wenigen Jahren theoretische Bezugspunkte über Interviews mit akademischen Größen wie Judith Butler, Donna Haraway und so weiter vermittelte und in den eigenen Texten nahe am - häufig projektbezogenen - Aktuellen und Einzelnen entsprechender gesellschaftspolitischer Fragen blieb, so gewähren die redaktionsnahen AutorInnen nun vermehrt Einblick in ihre jeweiligen historisch-theoretischen Forschungen: Sabeth Buchmann etwa über Konzeptkunst, hier über Intuition bei Marcel Duchamp und Sol LeWitt; Juliane Rebentisch über Performativität und Repräsentation, hier als grundsätzliche Auseinandersetzung mit den theoretischen Kurzschlüssen und der geschlechterpolitischen Kontraproduktivität radikaler PorNo-Feministinnen. Die nicht immer gelungene Umformatierung von Dissertationskapiteln in Zeitschriftenbeiträge bedingt ein eigenartiges Auseinanderfallen von akademisch-soliden Wissenstexten und assoziativ-behauptenden Meinungstexten.

Für den distanziert-philologischen Ansatz steht etwa Sabine Grimms »Subjekte des Antikolonialismus«, eine informative Zusammenfassung der Identitätskonzepte der »Négritude« bei Senghor und Césaire und ihrer Rezeption durch französische Intellektuelle, unter ästhetisch-ethnografischen Vorzeichen bei Michel Leiris oder im Zeichen von Revolutionsversprechungen bei Jean-Paul Sartre. Grimm deckt Sartres »Paternalismus« auf - was einerseits zutreffend ist, aus der historischen Distanz aber in Bezug auf die politische Rolle dieses Parteiergreifens auch noch einmal differenzierter betrachtet werden könnte - und schildert schließlich, wie Frantz Fanons Psychologie der kolonialen Situation, nicht zuletzt mit Anleihen bei Sartre, über die Essentialismen der »Négritude« hinaus zu einer Theorie der Dekolonisation findet. Während Grimm auf eine Kontextualisierung in gegenwärtigen Diskussionen verzichtet, liefert Ursula Biemann eine weniger »wissenschaftliche«, dafür aber umso feiner beobachtende Fallstudie neo-kolonialistischer Arbeitsverhältnisse in der transnationalen Computerindustrie südlich der US-mexikanischen Grenze und veranschaulicht die eminente Materialität der Ökonomie von Zeit und Raum sowie der Sozial- und Sexualbeziehungen der »Produzentinnen der Maschinen, die den Cyberspace ermöglichen.«

Weit ausschweifender und sich im Metaphernwald von Michel Serres\' Parasitologie verlaufend, nähert sich Stephan Gregory am Ende eines etwas theoretisch-verquatschten Artikels doch noch dem Reizthema Siemens Kulturprogramm (SKP) als Beispiel eines zeitgenössischen Verhältnisses von Wirt und Gast, der »Position kritischer Kunst im Zeitalter von Corporate Culture und industriellem Sponsoring«. Über verschiedene Erfahrungen mit Projekten des SKP und die Möglichkeiten von Kritik, individuellen und kollektiven Widerstands oder der Subversion einer immer gefräßiger operierenden Sponsoringpolitik diskutieren Alice Creischer, Andreas Siekmann, Holger Kube Ventura, Ingo Vetter, Annette Weisser und Dierk Schmidt. Letzterer skizziert in einem weiteren Text das Zusammenspiel unternehmerischer Interessen im Kulturbereich mit den politischen Instanzen eines Staates, der den Vorwurf des Versagens in der Kulturförderung seitens der Wirtschaft mit steuerrechtlichen Vergünstigungen quittiert und damit neuen Abhängigkeitsverhältnissen und Zensurmaßnahmen Vorschub leistet. Schmidt beleuchtet auch die problematische Rolle von KuratorInnen und Institutionen als Scharniere zwischen KünstlerInnen und sponsernden Unternehmen sowie die Möglichkeit von Künstlerverträgen zur Regulierung der deregulierten Sponsorenpraxis und spricht sich schließlich für eine strategische »Kombination aus situativer Intervention und verbindlicher Abgrenzung« aus.

In der Sponsoringdebatte erhält das unausgesprochene Überthema »Ökonomie und Subjektivität« dieser A.N.Y.P seine größte Dichte. Daneben wird es beispielsweise von Marion von Osten hinsichtlich des Verhältnisses von Konsumkultur und Subjektwerdung angedacht, wird auf den proto-postmodernen immateriellen Arbeitsbegriff und die kollektive Produktion von Subjektivität in Warhols Factory zurückgeblickt (Nicolas Siepen) oder für die »Wiederkehr des Kommunismus« auf Grundlage des »radikalen Denkens der Nicht-Identität« von Gemeinschaft plädiert (Jörg Novak). Ein weiterer Fokus des Heftes liegt - auch vor dem Hintergrund der Beteiligung am Nato-Einsatz in Jugoslawien - auf deutscher Geschichtsschreibung und nationalem Selbstverständnis. Zum Krieg selbst hat Bojana Pejic eine Beilage mit äußerst kontrovers geführten Internet-Diskussionen zusammengestellt.