Die sechste internationale Biennale von Istanbul fand planmäßig vom 17. September bis zum 8. November statt - trotz aller Unsicherheiten und der durchaus realen Gefahr einer Verschiebung oder Absage wegen des katastrophalen Erdbebens, von dem die Türkei nur einen Monat vor der Eröffnung heimgesucht worden war. Die OrganisatorInnen und der Hauptkurator Paolo Colombo taten ihr Möglichstes, um die unvorhergesehenen Probleme, die durch diese Tragödie entstanden waren, zu überwinden und die Abhaltung dieser in der Türkei und der gesamten Region so renommierten Kunstveranstaltung sicherzustellen. Und das gelang ihnen auch, zumindest in organisatorischer Hinsicht.
Die unausweichlichen Vergleiche zwischen Kunst und Leben konnten jedoch nicht ausbleiben und beeinträchtigten auch den rein ästhetischen Genuss der Ausstellung. Oft hatte die Kunst dabei das Nachsehen und konnte die harte Realität nicht vergessen machen. Der sachkundige, fähige Kurator Paolo Colombo (Leiter des Zentrums für zeitgenössische Kunst in Genf) hatte mit viel Geschick und Fingerspitzengefühl einige »sensationsträchtige« KünstlerInnen wie Chris Ofili, Gavin Turk, Jenny Saville und Gillian Wearing ausgewählt, die für ihre provokanten Werke bekannt sind. Doch angesichts der spezifischen Situation des Landes konnte dies keinerlei Aufregung oder Skandale auslösen.
Thema und Titel - »The Passion and the Wave« -, die bereits Monate zuvor festgestanden waren, stellten auch eine Hommage an Antonis Dhiamantidhis dar, einen berühmten türkischen Dichter aus dem 18. Jahrhundert, dessen Künstlername Dalga (türk. Welle, griech. Leidenschaft) als ambitionierte Ausgangsmetapher diente. Darüber hinaus sollten sie auch auf das enge Verhältnis zwischen den KünstlerInnen und ihrer Umwelt sowie auf ihre persönlichen Erfahrungen, Zweifel und Verlockungen verweisen. Daher erlaubte auch die Präsentation zahlreicher tagebuchartiger Projekte etwa in Form von Sketches oder Mappen am Hauptschauplatz der Biennale, dem Kulturzentrum Dolmabahce - der früheren Küche des pittoresken osmanischen Dolmabahce-Palastes -, alle möglichen Interpretationen, zum Beispiel die einer bewussten Flucht aus dem gefährlichen Bereich jener Kunst, die auf die Darstellung der oft brutalen Wirklichkeit abzielt.
Obwohl viele KünstlerInnen aufgrund der Absage der meisten im Freien geplanten Veranstaltungen und Installationen in beengten, kleineren Räume ausstellen mussten, hatte kaum jemand Probleme mit der durch diese dichten, unbeabsichtigen »Collagen« entstandenen Konfusion: Fatimah Tuggars wunderschöne mobile Fächer, Arturo Herreras tiefrote perforierte Filzobjekte, Kara Walkers »Wandprozession« schwarzer Silhouetten oder Malick Sidibes witzige gebleichte Schwarzweißfotos. Pipilotti Rists phantasmagorisch »verwebten« Videoaufnahmen eines Supermarktes bildeten nicht nur den optischen, sondern auch den akustischen Mittelpunkt des Raumes. Aus dem gesamten mittel- und osteuropäischen Raum waren nur zwei Künstler ausgewählt worden. Ein Fries von Zeichnungen des Ungarn Caba Nemes sowie die digitalen Fotos von »Nachbarn« - eigentlich nur ihrer Türen und Vorzimmer - von Oliver Musovik wurden ebenfalls in diesem in historischen Mauern eingerichteten Museum gezeigt.
Ganz anders verhielt es sich mit den zwei anderen Schauplätzen der Biennale, der Kirche Hagia Eireni und der Yerebatan-Zisterne, die beide bereits zum dritten Mal als Veranstaltungsorte für die Biennale dienten. In der Apsis der Hagia Eireni installierte Ugo Rondinone sein verführerisches Werk »When the Sun Goes Down and the Moon Comes Up«; doch auch hier stellte sich wie so oft die Frage nach den kontextuellen Erfordernissen solcher Installationen, die keinen Bezug zu den uralten, geschichtsträchtigen Räumen haben.
Die Arbeit »The Muriel Lake Incident« von Janette Cardiff hatte es da um einiges leichter, da sie sich ihren eigenen Raum erschuf: eine kleine Theaterbox in Puppengröße. Das bewegende interaktive/interpassive Erlebnis, einen Raum zwischen zwei Wirklichkeiten zu betreten - einerseits die eines westlichen Filmes, der auf der Leinwand zu sehen ist, und andererseits die zweier Frauen, die sich während des Films miteinander unterhalten und deren Gespräch man über Kopfhörer hören kann -, machte dieses Werk zweifellos zu einem der spannendsten Ereignisse dieser Biennale.
Die meisten anderen Arbeiten, die wie bei den früheren Biennalen in diesem riesigen, übervollen, in ikonoklastischer Tradition stehenden und deshalb schmucklosen byzantinischen Bauwerk gezeigt wurden, konnten jedoch nicht die nötige Beziehung zum Raum aufbauen. Die nicht besonders originelle Skulptur von Juan Munoz, Gavin Turks »Another Bum« oder die Video-Augen-Projektion »Reflection« von Tony Oursler, dessen andere Installation ähnlicher »Augäpfel« in der Yerebatan-Zisterne wesentlich mehr überzeugen konnte, im Dom mochten auf manche BeobachterInnen vielleicht blasphemisch wirken. Doch auch weniger religiös eingestellte Menschen waren der Meinung, dass diese Werke den Proportionen und der transzendentalen Macht dieses historischen Gebäudes nicht wirklich gewachsen waren.
Ebenso erging es den KünstlerInnen, deren Projekte für die Yerebatan-Zisterne vorgesehen waren, die an einen von der Sintflut überschwemmten uralten Tempel erinnert. Nur die gespenstischen Schatten der Silhouetten, die in der Videoprojektion von William Kentridges Trickfilm »Shadow Procession«, einem der wenigen aufregenden Beiträge dieser 6. Istanbuler Biennale, hinter den jahrhundertealten Säulen tanzten, konnten einigermaßen den Entschluss rechtfertigen, in diesem einzigartigen Bauwerk zeitgenössische Kunst zu zeigen und vor allem auf der Fortsetzung der Biennale trotz der inhumanen Bedingungen und der Gefährdung von Menschenleben zu beharren.
Einmal mehr wurde klar, dass die Umgebung zwar vielleicht nicht die Kunstwerke selbst, aber sicherlich ihre Betrachtung beeinflusst. Ein anderes paradigmatisches Beispiel dafür, dass Kunst kontextabhängig ist, bot auch die öffentlich angekündigte Hilfsauktion für die Opfer des Erdbebens: Innerhalb weniger Stunden wurden 200.000 US-Dollar gesammelt, was in einer Stadt, in der es zeitgenössische Kunst aufgrund der starken religiösen Grundsätze der Menschen zumeist nicht leicht hat, normalerweise kaum möglich gewesen wäre.
Übersetzt von Sabine Schmidt