Heft 2/2001 - Du bist die Welt


A double-edged sword

Interview mit Immanuel Wallerstein über den Zusammenhang von Welt-System und Rassismus

Workshop »Theory Unrealized« and »Imagining Democracy«


Immanuel Wallerstein wurde vor allem durch seine Analyse des Welt-Systems bekannt, die er seit 1974 im Rahmen eines monumentalen, auf zahlreiche Bände angelegten Publikationsprojektes entwickelt. Der Bindestrich innerhalb des Wortes Welt-System ist durchaus konstitutiv für seine Bedeutung. Er soll betonen, dass es sich dabei nicht um ein System in der Welt handelt, sondern um ein System, das an sich eine Welt darstellt. In einer Weltwirtschaft sind alle ihre Bestandteile durch Beziehungen ökonomischer Abhängigkeit innerhalb eines Systems kapitalistischen Welthandels und internationaler Arbeitsteilung miteinander verbunden und beeinflussen einander. Dabei entsteht eine schroffe Polarisierung zwischen Nord und Süd (oder Kern und Peripherie), in deren Rahmen strukturelle politische und ökonomische Ungleichheiten nicht ausgeglichen, sondern im Gegenteil verstärkt werden. Hier zeigt sich die Nähe Wallersteins zu den sogenannten Dependenztheorien, die etwa Unterentwicklung im globalen Süden als kausalen Effekt der Überentwicklung im globalen Norden analysierten. Paradigmatisch dafür steht Andre Gunder Franks berühmtes Diktum der »Entwicklung der Unterentwicklung«. Immanuel Wallerstein war zu Gast auf der Plattform 1 der documenta 11 in Wien. Mitglieder der Workshops »Theory Unrealized« und »Imagining Democracy« befragten ihn dort zur derzeitigen Krise des Welt-Systems, zu Multikulturalismustheorien und nicht zuletzt zu seiner erfrischenden Zuversicht in Bezug darauf, dass die derzeitige Ausformung des globalen Kapitalismus demnächst ein Ende nehmen werde.

Professor Wallerstein, im Gegensatz zu vielen Ihrer Kollegen halten Sie es keineswegs für ausgemacht, dass die gegenwärtige Form des westlich dominierten globalen Kapitalismus mitsamt der Form liberaler Demokratie, in der er sich im globalen Norden realisiert, eine unausweichliche Gegebenheit sei. Nach dem Ende des Kalten Krieges wird der Endsieg westlich-liberaler Demokratiemodelle kaum noch in Frage gestellt, und kaum jemand traut sich noch, ernsthafte Alternativen zum gegenwärtigen Welt-System zu entwickeln oder auch nur zu erhoffen. Im Gegensatz dazu vertreten Sie die Auffassung, dass das gegenwärtige Welt-System mit einiger Sicherheit im Laufe der nächsten 50 Jahre von einem ganz anderen Modell abgelöst werden wird. Sie meinen, dass das derzeitige Modell globaler Integration innerhalb eines Systems kapitalistisch organisierter Arbeitsteilung und ungleicher Handelsbeziehungen zwischen Zentren und Peripherien sich in einer Krise befindet. Was verleiht Ihnen die Zuversicht, nicht nur wie Walter Benjamin an das Konzept eines messianischen Augenblicks zu glauben, in dem sich radikaler Wandel ereignen kann, sondern gar an die Möglichkeit ganzer messianischer Jahrzehnte?

Ich bin nicht sicher, dass ich den Begriff messianisch mag; er impliziert zu sehr die Vorstellung einer perfekten Gesellschaft, die daraus erwachsen könnte – was ich hingegen meinte, war, dass jedes historische System einen Lebenszyklus hat. Es entsteht zu einer bestimmten Zeit, es funktioniert dann für eine bestimmte Periode normal, und dann geraten die Dinge zu stark aus dem Gleichgewicht, und eine Strukturkrise setzt ein. Und das einzige, was in einer solchen Strukturkrise gewiss ist, ist, dass das System abgelöst wird – aber es erzeugt für die nächsten 25 bis 50 Jahre eine Situation des sozialen Chaos, es erzeugt auch große Auseinandersetzungen im Bezug darauf, was das Nachfolgesystem sein wird. Mein Argument besagt im Grunde, dass wir uns schon in dieser Situation befinden und momentan darin leben. Wir wissen nicht, wie es ausgehen wird, wir können die Zukunft nicht vorhersehen, aber wir können sicher sein, dass das, was wir tun, die Richtung beeinflusst, in die wir uns bewegen. Es ist also gleichzeitig ein sehr gefährlicher Zeitraum auf persönlicher Ebene, aber auch ein sehr interessanter und aufregender Zeitraum, weil Möglichkeiten der Veränderung zum Besseren bestehen – allerdings auch Möglichkeiten der Veränderung zum Schlechteren.

Wann, glauben Sie, hat diese Krisenperiode begonnen, und was sind die hauptsächlichen Merkmale oder Symptome dieser strukturellen Krise?

Es ist sehr schwierig, diesen Moment exakt zu datieren, weil es verschiedene Aspekte gibt. Auf einer Ebene würde ich den Anfang auf 1968 datieren, auf die Weltrevolution 1968, die die Geokultur auf fundamentale Weise veränderte und den Niedergang der Legitimität anzeigte, welche die Menschen sowohl den staatlichen Strukturen als auch dem existierenden System zuzubilligen bereit sind. Auf der anderen Seite, wenn man die Angelegenheit von der Seite des Kapitalismus her betrachten will, ist der Beginn nicht exakt datierbar. Was vorliegt, ist eine Kulmination der Probleme der Akkumulation, die schon eine Weile anhält. Vielleicht kann man drei verschiedene Aspekte identifizieren: Ein Aspekt ist die Deruralisierung, also die Entländlichung der Welt. Sie hat einen sehr drastischen Punkt erreicht, praktisch werden wir innerhalb der nächsten 20 Jahre eine völlig urbane Welt realisiert sehen. Diese Entwicklung beseitigt den Reservepool von Arbeitskräften, die zu sehr geringen Löhnen ins System integriert werden können. Das bedeutet, dass der Anteil der Löhne an der gesamten Wertbildung ansteigt – das ist eine Quelle von Schwierigkeiten für den Kapitalismus. Die zweite Quelle ist das, was als ökologische Krise bezeichnet wird. Was bedeutet diese Krise für die Kapitalisten? Tatsache ist, dass sie ihre Kosten dadurch niedrig halten konnten, dass sie ihre Rechnungen nicht bezahlt haben. Ein Großteil dieser Rechnungen wird von anderen Leuten bezahlt. Wenn Giftmüll in einen Fluss gekippt wird, werden die Kosten für dessen Reinigung und Entgiftung nicht bezahlt. Nun, dies kann man nur eine bestimmte Zeit lang tun – und wir haben das schon über 500 Jahre lang getan. Das ist der Grund, warum man heute mit gutem Grund von einer ökologischen Krise sprechen kann. Der einzige Weg, diese Krise zu beenden, besteht darin, unglaubliche Geldsummen in die Beseitigung des Schadens zu investieren. Aber wer wird dafür bezahlen? Andererseits macht es keinen Sinn, den Schaden zu beheben, wenn gleichzeitig die ökologische Verwüstung fortgeführt wird. Also muss man allen kapitalistischen Firmen dieser Welt sagen: Internalisiert eure Kosten! Dann werden sie sagen: Aber das fehlt uns dann bei der Gewinnspanne, und damit haben sie völlig recht. Das ist also das zweite Krisenmoment. Das dritte resultiert aus dem, was ich die Demokratisierung der Welt nenne. Tatsache ist, dass über 200 Jahre lang öffentlicher Druck ausgeübt wurde, für mehr Bildung, mehr Gesundheitsfürsorge, mehr lebenslange Einkommensgarantien. Das kostet etwas, und diese Rechnungen werden über Steuern beglichen. Die Steuern sind in der Tat gestiegen, und die Menschen haben völlig recht, wenn sie sich über steigende Steuern beschweren, denn sie werden tatsächlich immer höher, und sie werden in Zukunft noch mehr ansteigen, weil die Nachfrage nach dem, was ich die Schwelle (oder Schwellenerwartung) nenne, ansteigt. Früher wollten die Menschen nur eine Grundschulausbildung, dann wollten sie eine höhere Schulausbildung, und jetzt eine Universitätsausbildung, und wir müssen das bezahlen. Das ist ein drittes Moment der Krise der Kapitalakkumulation, und diese Momente summieren sich. Das ist das, was mit einem System gemeint ist, das sich weit vom Gleichgewicht entfernt hat. Es kommt in große Schwierigkeiten, da sowohl die Arten der Kapitalakkumulation als auch die Staatsstrukturen delegitimiert und in Frage gestellt werden. Jemand könnte beginnen, sich zu überlegen, wie existierende Privilegien verteidigt werden können, und ich glaube, das ist es auch, was zur Zeit passiert.

Was ist die Funktion von Rassismus und Sexismus, wenn es darum geht, diese Privilegien innerhalb des existierenden Welt-Systems aufrechtzuerhalten? Sie sprachen zum Beispiel darüber, dass sowohl Rassismus als auch Sexismus Mittel selektiver Inklusion ins Welt-System seien – allerdings zu schlechteren Bedingungen. Das bedeutet, dass rassistische und sexistische Zuschreibungen nicht zum Ausschluss aus den Verwertungsstrukturen des kapitalistischen Welt-Systems führen, sondern zur Entwertung der Arbeitskraft der so Bezeichneten oder dazu, dass ihnen fundamentale Rechte vorenthalten werden, die es ihnen verwehren, sich als politische Subjekte zu konstituieren. Dem entspricht Ihre These, dass antirassistische und antisexistische Bewegungen solange erfolglos bleiben, bis sie nicht die fundamentalen Strukturen des Systems selbst ins Visier nehmen.

Das ist in gewissem Sinn natürlich wahr. Rassismus und Sexismus sind zwei der fundamentalen strukturellen Prinzipien der kapitalistischen Welt-Wirtschaft – sie sind ihrer Funktionsweise inhärent, sie könnte ohne sie nicht funktionieren, und solange sie existiert, werden Rassismus und Sexismus ebenfalls existieren. Man kann den Schaden an den Rändern begrenzen, aber man kann die Situation nicht fundamental verändern. Dies ist natürlich ein zweischneidiges Schwert – einerseits ist das eine der Methoden, wie das System zusammengehalten wird. Auf der anderen Seite sind dies auch Verhältnisse, die antisystemische Gefühle in vielen Menschen erzeugt haben. Es entsteht also wieder eine Situation, in der eben die Verhältnisse, die das kapitalistische Welt-System erhalten, auch diejenigen sind, die es auflösen. Die Tatsache, dass heute ein viel breiterer antirassistischer Kampf existiert als vor 50 oder 100 Jahren, und zwar weltweit, ist ein Ergebnis zunehmenden Widerstands, zunehmenden Drucks und zunehmender Spannungen. Und da dies ein Teil der gegenwärtigen Situation ist, wird es auch nicht verschwinden. Das Problem wird nicht gelöst werden, sondern ich glaube, dass es zu den Elementen gehört, die das System auflösen werden.

Was halten Sie von der Verlagerung der Debatten um globale Zusammenhänge auf das Feld des Multikulturalismus? Innerhalb des Rahmens vieler poststrukturalistischer oder sogenannter postkolonial orientierter Modelle ist eine deutliche Konzentration auf Themen wie Kultur und Identität zu spüren. Das Welt-System wird als eine Kakophonie konkurrierender Kulturen begriffen. In diesen Ansätzen werden ökonomische oder politische Aspekte oftmals ausgeblendet. In ihren Ansätzen werden Konzepte wie Kultur und Identität als Effekte politischer Auseinandersetzungen begriffen. Können Sie Ihre Position an diesem Punkt noch etwas genauer darstellen?

Kultur ist ein sehr merkwürdiger Begriff. Auf der einen Seite benutzen wir das Wort, um etwas Fundamentales zu beschreiben, das alle Veränderungen des ökonomischen und politischen Systems überdauert. Auf der anderen Seite wissen wir, dass fast jeder einzelne Aspekt von Kultur ein äußerst veränderliches Phänomen darstellt. Man muss also Kultur nicht als etwas denken, das – wie soll ich sagen – einfach DA ist, sondern als ein Phänomen der Gegenwart, das dadurch Legitimität anstrebt, dass es sich als aus der Vergangenheit kommend darstellt. Das ist die politische Haltung, die sich in dem Wort Kultur ausdrückt – es ist etwas, das in der Gegenwart erzeugt wird, sich jedoch darauf beruft, dass es verteidigt werden sollte, weil es schon hundert oder tausend oder zehntausend Jahre alt ist. Das ist natürlich objektiv falsch, aber die Leute glauben das, und das ist ein Teil der Überzeugungskraft dieses Konzepts. Soviel zu Kultur. Die andere Frage betrifft die Identität. Das ist dasjenige, von dem wir glauben, dass es mit unserer Position in einem weitergefassten sozialen System in Zusammenhang steht. Es hat damit zu tun, wie wir uns bezeichnen und von anderen bezeichnet werden. Das ändert sich allerdings auch sehr schnell und drastisch. Nehmen wir das Beispiel der Ethnizität. Jeder scheint zu wissen, was eine ethnische Gruppe ist, aber jeder, der diese Gruppen historisch studiert, kann zeigen, wie bestimmte Namen über einen Zeitraum von 50 oder 75 Jahren auftauchen und wieder verschwinden. Warum? Nun, das muss mit der politischen Realität innerhalb dieses Zeitraums erklärt werden. Das bedeutet, dass sowohl Kultur als auch Identität politische Forderungen der Gegenwart darstellen. Vielleicht sind das berechtigte, unberechtigte oder aber neutrale Forderungen, aber wir müssen sie als das begreifen, was sie sind: als Versuche von bestimmten Gruppen von Menschen zu sagen: Wir haben Rechte, oder: Wir haben nicht genug Rechte, oder: Wir möchten irgendetwas anders machen und werden daran gehindert. Man muss sich von der Denkschablone befreien, dass Kultur und Identität ursprüngliche Angelegenheiten seien – die erklären sollen, wieso einige Leute weniger Lohn bekommen oder kein Wahlrecht haben und so weiter. All diese Konzepte sind als Rhetorik zu verstehen. Wir müssen erkennen, dass es sich dabei um Rhetorik handelt und dass es für gewisse Menschen zu bestimmten Zeitpunkten wichtig sein kann, eher ihre eigene Sprache zu benutzen als eine andere.
Warum sollte zum Beispiel eher deutsch gesprochen werden als slowenisch? Dafür gibt es Argumente. Man könnte sagen, dass in Österreich mehr Leute deutsch sprechen und dass es demzufolge Sinn macht, die Staatsangelegenheiten auf deutsch abzuwickeln. Aber jemand in einer Ecke Österreichs könnte es vorziehen, slowenisch zu sprechen, da er oder sie sich als zweitklassige Person behandelt fühlt, wenn er oder sie auf die Post oder auf die Polizeiwache geht und denkt, er oder sie sollte dabei seine eigene Sprache sprechen können. Dies ist eine ernsthafte, unmittelbar politische Fragestellung, die ausgehandelt und gelöst werden muss. Es gibt keinen Automatismus, der besagt, dass es deutsch sein muss, oder auch deutsch und slowenisch. Man muss die Situation betrachten.

Auf der anderen Seite brüstet sich Jörg Haider in Kärnten mit seiner angeblich »vorbildlichen« Minderheitenpolitik. Diese Form rein kultureller Anerkennung kann aber auch eine Form kulturrassistischer Apartheidsmodelle begründen, in denen die kulturelle Differenz der anderen als Grund dafür herhalten soll, sie so fern und isoliert wie möglich zu halten.

Wenn man die Politik von unterdrückten Gruppen weltweit über einen Zeitraum von 50 bis 75 Jahren betrachtet, sieht man, dass sie fast immer einen Zick-Zack-Kurs verfolgen, in dem sie eine Zeitlang mehr Integration verlangen und dann wieder weniger Integration wollen und dafür ihre Selbstbestimmungsrechte in den Vordergrund stellen. Auf der anderen Seite betreibt die dominante Seite ebenfalls diese Zick-Zack-Politik und sagt entweder: Ihr müsst euch integrieren – oder aber: Ihr dürft euch nicht integrieren! Es ist eine chancenlose Situation – das ist das Problem – wegen der tiefgreifenden Ungleichheiten. Das beste, was man also tun kann, ist die momentane Situation zu verbessern, ohne der Illusion zu verfallen, dass dies die Situation fundamental ändern wird. Es wird bei einem Patchwork bleiben.

 

 

Schriften von Immanuel Wallerstein (Auswahl):
The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century. New York 1974 (dt.: Das moderne Welt-System. Frankfurt 1986).
The Modern World System II: Mercantilism and the Consolidation of the European World-Economy. New York 1980 (dt.: Das moderne Welt-System II. Wien 1998).
The Politics of the World-Economy. The States, the Movements, and the Civilizations. Cambridge 1984.
The Modern World-System III: The Second Era of Great Expansion of the Capitalist World-Economy, 1730-1840. San Diego 1988 (dt: Das moderne Welt-System III. Wird in Kürze erscheinen).
Unthinking Social Science. Cambridge1991 (dt.: Die Sozialwissenschaft »kaputtdenken«. Frankfurt 1995).
Utopistics. Or, Historical Choices of the Twenty-first Century. New York 1998 (dt. in Kürze).

Schriften zu Immanuel Wallerstein:
Andre Gunder Frank, Barry K. Gills (Hg.): The World System. Five Hundred Years or Five Thousand? London 1996.
Thomas R. Shannon: An Introduction to the World-System Perspective. Boulder 1996.