Heft 2/2001 - Lektüre



Oliver Grau:

Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart

Visuelle Strategien

Berlin (Reimer, 302 S., DM 59,-) 2001 , S. 82

Text: Christiane Wettig


Da glaubt man, die Virtual Reality (VR) sei eine Erfindung des Informationszeitalters - und liegt schon wieder völlig falsch. Internet ist hip, die VR gar der totale Hype, und das soll nichts Neues sein? Aber simulierte Wirklichkeit gab es schon vor mehr als 2000 Jahren. Klar, damals verfügte man noch nicht über die trügerischen Künste der Bits und Bytes, dafür jedoch über recht begabte Freskenmaler. Am besten rundum und möglichst wirklichkeitsgetreu schufen sie die ersten immersiven Bildwelten - Urahnen der Virtualität.

Mit dieser Erkenntnis öffnet Oliver Grau in seinem jüngst erschienen Buch »Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart: Visuelle Strategien« ein neues Kapitel in der Medienkunstdebatte. Der 35-jährige gehört zu den versierten VR-Theoretikern, ist er doch Leiter der internationalen Datenbank für Virtuelle Kunst an der Humboldt-Universität Berlin. Als früheste Wurzel benennt er Kultfresken in der pompejischen Villa dei Misteri aus dem Jahr 60 v. Chr. Dort nämlich holt eine geflügelte Dämonin weit aus zum rituellen Peitschenhieb, der - auf der gegenüberliegenden Wand - eine junge Bacchantin zur Ekstase treiben wird. Fast meint man, ein Sirren zu hören, und duckt sich unwillkürlich vor dem schmerzenden Kultinstrument. Und die Trompe l`OEil-Malerei des Baldassare Peruzzi (1516) täuscht nahezu perfekt eine Säulenhalle vor - mit fein ausgeklügelter Perspektive simuliert sie edel marmorierte Machtarchitektur. Solche Bemühungen um ein glaubwürdiges Panorama lassen sich bis heute nahezu in jedem Jahrhundert nachweisen, das der Kunst der Illusion frönte. 1793 kam Robert Barker auf die Idee, seine mit Landschaft bemalte Riesenleinwand in einer dreistöckigen Rotunde aufzuhängen und raffiniert von oben zu beleuchten. Dieses Stück »Natur« mitten am Leicester Square war von überwältigender Illusionskraft, nicht zuletzt, weil es die Städter von einer luftigen Plattform in der Raummitte aus betrachteten und durch den so erzwungenen Sichtabstand noch besser getäuscht werden konnten. Und auf der berühmten Pariser Weltausstellung 1900 präsentierte man das erste Cinéorama, dessen 360°-Leinwand mit zehn Filmprojektoren synchron bespielt wurde. Die Welt staunte - aber nicht zum letzten Mal, man denke nur an die Expo 2000. »Noch jede Weltausstellung wartete mit neuen bildlichen Suggestiverlebnissen auf und bediente sich der neuesten medialen Mittel ihrer Zeit. Ziel war immer wieder, die Vision einer technisch perfektionierten Zukunft glaubhaft und unwiderstehlich vor Augen zu führen«, schreibt Oliver Grau. Ganz in diesem Sinne markieren inzwischen jene Projekte einen Höhepunkt, die Naturwissenschaft und Kunst fließend miteinander verknüpfen.

Sie stammen von einer neuen Künstlergeneration, die es völlig in Ordnung findet, ihr technisches Know-how professionell zu verwerten. Ebenso wie in den Werken verschwimmen auch bei ihren Schöpfern die Grenzen zwischen Kultur, Forschung und Kommerz. Diese Symbiose ist für hochtechnologisierte Kunst nahezu unverzichtbar, denn Arbeiten mit virtueller Realität kosteten bis vor Kurzem noch Unsummen. Drei Millionen US-Dollar verschlangen beispielsweise 1995 jene Supercomputer, die Charlotte Davis für ihr Projekt »Osmose« benötigte. Als Vizepräsidentin der Firma, die den Dinosauriern des »Jurassic Park« ihr gruseliges Leben einhauchte, verfügte sie über genug Reputation, Kontakte und Wissen, um die teure Entwicklung eines solchen - künstlerischen - Projekts durchsetzen zu können. Bei »Osmose« ist der ganze Körper involviert - mit Bewegungssensoren, Klanguntermalung und einer HMD-Brille. Diese bringt zwei kleine Bildschirme direkt vor das Auge und erzeugt damit einen dreidimensionalen Scheinraum. »Wie ein Taucher«, beschreibt Grau, »einsam und schwerelos, gleitet er durch die virtuellen Szenarien«, auf dieser simulierten Reise durch Wälder und Nebelbänke, durch Gesteinsschichten, knorriges Wurzelwerk oder gar den Mikrokosmos eines luzide schimmernden, virtuellen Baumblatts.