Heft 3/2001 - Global Players


Das Museum für Blinde oder das globale Guggenheim

Konstantin Akinsha


Es gibt in Paris ein eigenartiges Museum. Es hat keine Verbindung zum künstlerischen oder kulturellen Leben und ist oft nicht einmal den Parisern ein Begriff. Es wird nicht häufig besucht und selten in Reiseführern erwähnt. Wenn es aufgesucht wird, dann nur von sehr speziellen Besuchern – von Blinden. Es gibt viele verschiedene Objekte in dem Museum. Spiele für Blinde, Globen für Blinde, verschiedene Tische und Trainingshilfen, die im Laufe der Zeit entwickelt wurden, um Blinden einen kleinen Eindruck von der Welt zu vermitteln, die sie nicht sehen können. Viele dieser seltsamen Objekte sind schön. Sie sind aus gefärbtem Holz oder polierter Bronze hergestellt. Doch diese Schönheit ist für die Leute, für die diese Objekte gemacht wurden, nicht sichtbar. Alles, was auf die Erscheinung der Kuben, Tische, Briefe und Globen für Blinde verweist, sind die Form und die Kälte der polierten Bronze oder die Rauheit des Holzes, die ertastet werden können. In einem gewissen Sinn erinnert neuerdings ein Museum für Gegenwartskunst an diese anerkannte französische Institution.

Veränderungen, die sich in Kunstmuseen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vollziehen, sind in den USA besser als in anderen Ländern auszumachen. In vielerlei Hinsicht wurde die Transformation des Museums in eine neue Branche der Unterhaltungsindustrie von der Erfahrung und den Experimenten der amerikanischen Museen während des letzten Quartals des 20. Jahrhunderts vorbereitet. Solange sich die Veränderung darauf beschränkte, dass Museumsshops entstanden, in denen erbarmungslos Kitsch verkauft wurde, um die Institutionen, die der »hohen Kunst« dienten, finanziell zu unterstützen, war noch kein tiefgreifender Wandel bemerkbar. Die Revolution verbarg sich hinter dem Feigenblatt der »Bildungsmission« des Museums, die verpflichtet, so viele Besucher wie möglich anzuziehen. Überraschenderweise wird die gleiche obsolete Selbst-Entschuldigung auch heute im Zeitalter der Museumsglobalisierung oft verwendet.

Wie jede Revolution erinnert auch die Globalisierung der Museumsinstitutionen manche an historische Kataklysmen, wenn schon nicht des Inhalts, dann zumindest der Methoden. Um das Phänomen des globalen Guggenheim zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick zurück auf die Geschichte des Museums als einer Institution im Allgemeinen und während des letzten Jahrhunderts im Speziellen zu werfen.

Das Museum in seiner gegenwärtigen Form war ein Kind der Französischen Revolution und eine der größten Manifestationen der neuen bürgerlichen Kultur. Der Reichtum der Könige ging in das Eigentum des Volkes über. Die für ein paar Auserwählte produzierte Kunst begann für jeden verfügbar zu sein. Deshalb wird der Louvre für uns das erste Museum des neuen Zeitalters bleiben, welches besser als alle anderen Institutionen die Rolle des Museums der Schönen Küste als demokratische Einrichtung definierte und einen internationalen Prozess der Profanisierung der Kunst auslöste. Gleichzeitig symbolisierte die Institution die Größe des napoleonischen Staates, des fortschrittlichsten Reiches der Welt, dazu bestimmt, die Geschichte zu Ende zu führen und deshalb das Recht auf alle Schätze, die die Zivilisation hervorbrachte, zugesprochen zu bekommen.

Das Modell des Louvre dominierte den europäischen Museumsgedanken bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, als er sein Ende im Albtraum unrealisierter Projekte wie Hitlers Museumsfantasien für Linz und des Supermuseums der Weltkunst in Moskau fand; Monster, geschaffen in zwei Ländern, die wie das napoleonische Frankreich gerne das letzte Kapitel in den Geschichtsbüchern geschrieben hätten. Der Kulturfetischismus – gezüchtet in Museen und genährt von der bürgerlichen Gesellschaft – wurde ein integraler Bestandteil sowohl der »rationalistischen« kommunistischen Revolution auf der Bühne des stalinistischen Terrors als auch der »romantischen« reaktionären Revolution des Nazismus. Der Besitz von Kultur bzw. Zivilisation, der sich durch die Aneignung von Kunst für die Einrichtung des größten und besten Museums der Welt als Sieg des Staates und seiner Ideologie manifestieren sollte, beschäftigte Berlin und Moskau gleichermaßen.

Der Zusammenbruch von Nazi-Deutschland und das Aufzeigen seiner »Verbrechen wider die Kunst« während der Nürnberger Prozesse lähmte die klassische Museumswelt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde klar, dass die Einrichtung eines neuen Museums, welches die gesamte Kunstgeschichte vollständig reflektieren könnte, genauso unmöglich ist wie »Gedichte schreiben nach Auschwitz«. Es sah so aus als hörten die Museen auf Monster zu sein und kehrten wie Einsiedlerkrebse in die Gehäuse der alten kaiserlichen Paläste und historischer Gebäude des späten 19. Jahrhunderts zurück und hätten für immer die Lust daran verloren, die Welt zu dominieren. Viele von ihnen wurden nicht nur Museen für Kunst, sondern auch Museen ihrer eigenen Vergangenheit und dienten – im schlimmsten Fall – nationalistischem Gedankengut und imperialistischer Nostalgie.

Eine andere Art von Museum war überall in Europa und Amerika auf dem Vormarsch – das Museum für moderne Kunst und Gegenwartskunst. Das Phänomen eines solchen Museums tauchte erstmals unmittelbar nach der Revolution in Russland auf. Repräsentanten der radikalen Avantgarde, die noch wenige Jahre vor dem Ende des Zarenreiches zur Zerstörung der Museen aufriefen und davon träumten, »die Sixtinische Madonna zu verbrennen«, begannen in dem neuen Staat ihre Aktivitäten mit der Errichtung ihres eigenen Museums. Nach ihrer Konzeption musste das neue Museum nicht nur Zweigstellen in Petersburg und Moskau haben, sondern sollte sich in ein Netz von Museen der Gegenwartskunst transformieren, das über das gesamte Land verbreitet war. Gemeinsam mit der Gründung eines Museums, dessen Aufgabe es sein sollte, ausschließlich avantgardistische Kunstobjekte auszustellen, begann die neue Geschichte der Kunst. Allerdings erbten sowohl die Geschichte des Modernismus als auch das Museum, das zu ihrer Repräsentation geschaffen wurde, die alte Krankheit der klassischen Kunstgeschichte und der Museumspraxis des 19. Jahrhunderts. Die neue Geschichte erinnerte die alte wie das Bild in einem Zerrspiegel das Objekt, das es reflektiert. Die positivistische Leiter des Fortschritts verwandelte sich in der Historiografie der Moderne in eine Leiter des Radikalismus und der »Innovation« (was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Ausstellungen à la »Von Manet bis Picasso«führte).

1929 wurde das MOMA in New York gegründet. Allerdings erschien die amerikanische Institution gerade in dem Moment, als in Russland die konkrete Möglichkeit der Existenz von Kunst als eine »autonome Praxis« in Frage gestellt wurde und die Museen der Avantgarde zu existieren aufhörten.

Das Verbot des Modernismus unter den Nationalsozialisten und den Sowjets gab der Gründung eines Museums für Gegenwartskunst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs neue Impulse. Das Nachkriegsmuseum sollte zwei ideologischen Zwecken dienen: in Europa im Allgemeinen und in Deutschland im Speziellen war es ein Symbol kultureller Entnazifizierung; in der gesamten westlichen Welt war es jene ideologische Institution während des Kalten Krieges, die dazu bestimmt war, die »Freiheit des kreativen Ausdrucks« zu demonstrieren, die den Künstlern jenseits des Eisernen Vorhangs versagt blieb. Die Etablierung von so wichtigen Ausstellungen internationaler Gegenwartskunst wie der Documenta in Kassel, nahe der ostdeutschen Grenze, rückte eben diese Freiheit in die Sichtweite sowjetischer Panzer.

Das Ende des Kalten Krieges, das de-facto mit dem gemeinhin angenommenen Ende der Moderne zusammenfiel, beraubte die Museen der Gegenwartskunst ihrer ideologischen Funktionen. Aufgefächert in Museen für alles, was vor dem Postimpressionismus und danach geschah, wurden Kunstmuseen eine Mischung aus Bildungsinstitution und Touristenattraktion ohne ihre einst klar formulierte soziale Funktion.

Das neue Museumsmodell wurde erst kürzlich in Amerika geschaffen: das »globale Guggenheim«. Die Idee dazu stammte aber nicht aus dem neuen Guggenheim oder von seinem derzeitigen Management, sondern aus den sechziger und siebziger Jahren, als amerikanische Museen darum kämpften, ihr »elitäres Wesen« zu überwinden. Eines der grundlegenden Elemente dieses Wandels war, dass dem Kommerz Einlass in den »Tempel der Kunst« gewährt wurde. Das Aufkommen von Museumshops, das als amerikanisches Phänomen begann, wurde bald in andere Teile der Welt exportiert. Als zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine so respektable Institution des Kapitalismus wie ein Warenhaus zum ersten Mal in Paris seine Pforten öffnete, war das eindeutig eine Art Museumsmimesis. Bon Marche’ war das erste Warenhaus, das tatsächlich jedem zugänglich war. Es war nicht nötig zu kaufen, es genügte zu schauen. Wenn das Museum der Beginn der Profanisierung der Kunst war, war das Warenhaus der Beginn der Profanisierung des Luxus. Die Gründer des ersten Warenhauses sahen eine seiner wichtigsten Funktionen in der »Anhebung des kulturellen Niveaus« seiner Kunden und Besucher, die während ihres Aufenthaltes in den schön dekorierten Hallen »Beispiele des guten Geschmacks« vorfinden sollten. Das Einbinden von Kunstausstellungen und Galerien in die Warenhäuser wurde charakteristisch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte etwas weiteres hervor – das Museum wurde zur Mimesis des Warenhauses. Diese »Transformation« war mit der Eröffnung von Museumshops verbunden, die bald ein Eigenleben entwickelten, aus den Museumsgebäuden ausgegliedert wurden und sich in den Städten (wie die Met Stores in New York) oder im Internet verbreiteten; oder einfach nur Geschäfte ohne Museen wurden, wie etwa die Museum Store-Kette, deren Filialen in jedem amerikanischen Einkaufszentrum oder unter »museumnet.store« zu finden sind, ohne an ein spezielles Museum angeschlossen zu sein.

Die Herangehensweise des Museums der Gegenwartskunst an seine Ausstellungsstücke begann an die Managementstrategien von Macy’s oder Bloomingdale’s zu erinnern. Eine Kultur der Blockbuster-Ausstellungen, die in der zweiten Hälfte der 60er Jahre entstand, sollte die Öffentlichkeit in die menschenleeren Museumshallen locken. Die frühen Blockbuster-Shows konnten sich noch dadurch rechtfertigen, dass sie organisiert wurden, um die so notwendig gebrauchten Geldmittel für die überwiegend akademischen Veranstaltungen aufzubringen. Diese Rechtfertigung ging später jedoch verloren. Eine Riesenausstellung zog viele weitere nach sich. Die Obsession für Publicity und Öffentlich diktierte das einfachste Kriterium für solche Ausstellungen – ihren potenziellen Publikumserfolg. Aus diesem Grund reduzierte sich das Material der Ausstellungen sowohl für klassische Kunstmuseen als auch für Museen moderner Kunst und Gegenwartskunst hauptsächlich auf jene Kunstwerke, die während des 19. Jahrhunderts »Meisterwerke« genannt wurden. Die Idee des »Meisterwerkes« wurde allerdings im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts durch die Idee der »Marke« nachhaltig verändert.

Ein interessantes Beispiel dieser neuen Einstellung ist ein Objekt, das vor einigen Jahren während der Cézanne-Blockbuster-Ausstellung in Philadelphia im Museumsshop zu kaufen war. Ihre Besucher konnten ein ungewöhnliches Souvenir erstehen, das beinahe surrealistische Qualitäten besaß und von Duchamp hätte sein können. Es war ein Golfball mit einem Faksimile von Cézannes Unterschrift. Obwohl der große französische Künstler selbst nie Golf gespielt, geschweige denn Ausrüstung für diesen Sport hergestellt hatte, hielt es der Museumsshop für angebracht, Bälle mit seinem Namen zu verzieren. Das wurde möglich, da der Name Cézanne gemeinsam mit den Namen Rembrandts, Rubens’, Breughels, Manets, Picassos, Duchamps oder Koons’ zu einem Zeichen für Qualität und einer Luxusgüter-Marke wurde.

Eine tiefgreifende Untersuchung der Reduktion eines »Meisterwerkes« hin zur »Marke« wie auch zur Verwendung von klassischer Kunst für Werbezwecke muss noch geschrieben werden. Man kann aber bereits jetzt davon ausgehen, dass das »branding« eine Möglichkeit geschaffen hat, Meisterwerke, die zu Markennamen geworden sind, neben Marken, die das Museum auf das Niveau von Meisterwerken heben wollte, auszustellen. Ausstellungen von Armani oder Harley Davidson im Guggenheim-Museum oder von zeitgenössischen japanischen Kleidungsstücken im MOMA und schließlich die von LACMA organisierte »Made in California«-Ausstellung lösten eine Diskussion in der amerikanischen Presse aus. Die besorgten Beobachter stellten fest, dass Kunstmuseen alles ausstellten – nur nicht Kunst. Die Teilnehmer an der Diskussion erkannten aber nicht die ideologische Finte des kommerzialisierten Museums, das nicht nur vom Sponsoring der Firmen profitiert, deren Produkte es ausstellt, sondern das Wesen der Produkte zu verändern versucht. In Wirklichkeit versuchte das Museum Armani zur »Kunstform« zu erheben, weil es ein Teil der Marketingstrategie war. Die Transformation von Kunst zu »Armani« war dann nur die andere Seite der Medaille.

Steve Wynn, der Begründer der Belagio Kunstgalerie, die sich im gleichnamigen Las Vegas Hotel befindet, erwies sich als ein marginalisiertes Genie des neuen amerikanischen Museums. Noch vor einigen Jahren war es kaum vorstellbar, dass anerkannte Museen dem Beispiel eines flamboyanten Millionärs folgen würden. Er kann nur mit Aristide Boucicaut, dem Gründer des Bon Marché, verglichen werden. Das Belagio-Museum wurde zum ersten Museum in der Geschichte, in dem die Besucher nicht nur schauen konnten, sondern auch kauften durften, und zwar so gut wie alles. Jedes Exponat im Belagio hatte ein Preisschild – die vollständige Verschmelzung des Museums mit dem Museumsshop war vollzogen. Das Museum, im Zentrum der Hauptstadt der amerikanischen Unterhaltungsindustrie, nahm selbst Qualitäten dieser Industrie an. 336 Tage im Jahr, 24 Stunden pro Tag geöffnet, wurde das Belagio zum Model der neuen Museumsexperimente.

Die Umwandlung von Museen in Schaufenster für »Objekte der Begierde«, verkleidet mit Hilfe von ausgedienten Begriffen wie »Kunst«, erinnert an die Situation der sowjetischen Museumswelt während des Konstruktivismus, als die Auffassung, dass »Kunst tot ist«, die vorherrschende Meinung unter den radikalen Intellektuellen war. In dieser Zeit wurde der Begriff der »materiellen Kultur« eingeführt; ein Versuch, den Begriff »Kunst« zu ersetzen. Heute leben wir wieder in einer Epoche der »materiellen Kultur«, die in Museumshallen ausgestellt ist, aber diesmal trägt sie das Etikett »Kunst«.

Ein weiteres Kennzeichen des neuen Museums ist die endgültige Entfremdung des Besuchers mit Hilfe von Audio-Geräten, welche die Museumsbesucher zu einer Horde stiller Geisteskranker werden lassen, die nach dem Diktat eines Tonbandes mit Erklärungen von einem Gemälde zum anderen wandern. Dieser Prozess begann bereits vor der Einführung der Audiokassetten in den späten 60er, frühen 70er Jahren durch die Textualisierung des Museumsraumes, die durch die Verwendung von größeren Schildern und Wandtexten ermöglicht wurde. Auf diesem Gebiet waren jedoch nicht die Amerikaner Pioniere. Die Kultur der Textualisierung des Museums wurde in der UdSSR während der sogenannten Museumsreform entwickelt, die mit dem ersten Fünfjahresplan zusammenfiel. Die Aufgabe der sowjetischen Kuratoren unterschied sich aber wesentlich von der ihrer amerikanischen Nachfolger. Obwohl in Russland und Amerika das Aufkommen von Texten in den Museumshallen als »bildungstechnische Notwendigkeit« erklärt wurde, war ihre tatsächliche Funktion in Russland, die ideologische Interpretation von Kunst durchzusetzen, die bestimmend war und dazu diente, dem Besucher jede eigene Interpretationsmöglichkeit, die politisch inkorrekt sein könnte, zu nehmen. In Russland erreichte die Textualisierung der Museen Ausmaße kafkaesker Absurdität. Anfang der dreißiger Jahre gab die Tretjakow-Galerie sogar eine spezielle Bedienungsanleitung für die BesucherInnen heraus, die erläuterte, wie man die Schilder und Schlagworte zu lesen hatte. Die Galerie benutzte zu dieser Zeit bereits mehr als 50 verschiedene Arten von Schildern, um die »Relevanz für den Klassenkampf« der Exponate zu erklären. Ein paar Jahre später, 1937, wurde Text bei der Ausstellung über »entartete« Kunst in München exzessiv mit derselben Absicht verwendet – um die alleingültige ideologische Interpretation der ausgestellten Kunstwerke zu liefern.

In Amerika herrschte die Versuchung der »sozialen Bestimmung« eine kurze Zeit vor, als die Hinweisschilder an den Museumswänden politisch korrekt erklärten, dass die Ureinwohner Amerikas, die auf den Malereien der Hudson School aus dem 19. Jahrhundert dargestellt waren, von den Weißen unterdrückt wurden. Aber dann verschwand das politisch Korrekte, die Wandtexte hingegen blieben. Ihre neue Funktion war es, eine leicht verdauliche und simplifizierte Erklärung von Kunst zu liefern, die ohne unnötige Anstrengung verstanden werden konnte.

Diese Simplifizierung, das heutige Merkmal der digitalisierten Information, in der alles auf die elementarsten Fakten reduziert wird, war der erste Schritt in der Adaptierung des Museums für die Bedürfnisse der »Blinden«. Die erklärenden Texte zielten auf einen nicht existenten durchschnittlichen Besucher, dessen kulturelles Niveau kaum über Null lag, der jedoch überraschenderweise die Kunst des Lesen beherrschte. Mit der Einführung von Audioführungen verschwand dieser Widerspruch. Der Mythos der »bildungstechnischen Funktion« des Museums endete in einer totalen Vulgarisierung, die das Resultat der meisten Aktivitäten im Bildungsbereich geworden ist.

Vor dem Hintergrund der Kommerzialisierung und Simplifizierung des Museums war der nächste Schritt getan. Am Ende des 20. Jahrhunderts wurden zwei Entwicklungen bestimmend für den amerikanischen Museumsbetrieb. Sie können als die Museumserweiterung und das Museumsfranchising definiert werden. Viele Museen begannen neue Museumsflügel oder neue Gebäude zu bauen und im echten Unternehmensstil zu fusionieren (man erinnere sich nur an das traurige Beispiel der Fusionierung von PS1 und MoMa).

Die historische Analogie zu diesem Vorgang findet man möglicherweise wieder in der Sowjetunion. Während des »großen Bruchs« durch die stalinistische Industrialisierung wurde der Gedanke der Erweiterung der Museen wie eine kulturelle Parallele zur Zentralisierung der Ökonomie behandelt. Dutzende kleine Museen wurden geschlossen und deren Sammlungen in Megainstitutionen wie der Eremitage, dem Russischen Museum, der Tretjakow-Galerie etc. überführt. In manchen Städten wurden zentralisierte Verwaltungsbehörden gegründet, in anderen, wie etwa in Kiew, wurden spezielle »Museumsorte« geschaffen, in denen alle Museen an einem Platz vereint waren. So mussten die Proletarier, die gerade eines der religionsfeindlichen Museen besuchten, nur über die Straße gehen, um schnell einmal eine Kunstgalerie zu besichtigen. (Übrigens eine Situation, die sehr stark an das neue »Museumsquartier« im Zentrum Wiens erinnert.)

Wenn die sowjetische Museumserweiterung vom Glauben an die Effektivität einer zentralisierten Wirtschaft diktiert wurde, dann sieht die gegenwärtige amerikanische Museumserweiterung wie eine Spiegelung der derzeitigen Politik der internationalen Konzerne aus. In diesem Sinne ist das Guggenheim das beste Beispiel für das in der heutigen Museumswelt dominierende Corporate Behavior. Das Guggenheim war die erste Museumsinstitution, die a) Franchising einführte und b) eine starke Corporate Identity aufbaute. Als Museum der modernen Kunst gegründet, fristete das Guggenheim lange Zeit ein abgesondertes Dasein in der Spirale des Frank Lloyd Wright-Gebäudes, das, wie viele Kreationen der architektonischen Moderne Symbol für eine Zukunft wurde, die nie kam. Unter dem neuen Management begann das Guggenheim jedoch damit, sein Modell in die ganze Welt zu exportieren. Das Guggenheim Deutschland und das Guggenheim Bilbao waren somit die ersten Schritte in Richtung einer – wie es die Manager des Museums bewerben – Verwirklichung des »globalen Guggenheim«-Projekts.

Bilbao war extrem wichtig, weil es dem Guggenheim-Museum als »multinationale Firma« seine Corporate Identity gab. Diese Identität ist das von Frank Gehry entworfene Gebäude, das in einer leicht veränderten Version in der Umgebung des New Yorker Meereshafen nochmals auftauchen muss. Gehry gelang es, Architektur ohne Funktion zu schaffen. Seine vergrößerte, dekorative Skulptur, die das Museumsgebäude beherbergt, wurde nicht nur zum Zeichen für das Guggenheim-Museum, sondern auch zum Zeichen der Zeit. Wenn André Malraux mit der Entkontextualisierung von Kunstwerken spielte und dabei versuchte, ein »Museum ohne Wände« zu schaffen, dann ge- lang es Frank Gehry Wände ohne ein Museum zu schaffen. Das einzige Symbol für das Guggenheim Bilbao ist das Gebäude selbst, und es macht keinen Unterschied, was in seinem Inneren ausgestellt wird. Armani oder Malewitsch. Die Architektur Gehrys wurde für das Guggenheim-Museum ebenso wichtig wie die »goldenen Bögen« für Mc Donalds oder das auf den Starbucks-Papierbechern aufgedruckte Mädchen.

Der Stil Gehrys ist nicht nur ein Symbol des »globalen Guggenheim«, sondern auch das Symbol des amerikanischen Museums der Gegenwartskunst im Allgemeinen. Leider gehört Gehry nicht dem Guggenheim alleine, weshalb sein Talent auch für die Erschaffung von Gebäuden wie dem von Bill Gates finanzierten Rock’n’Roll-Museum »the Experience« in Seattle oder dem neuen Flügel des Corcoran Museum of Art in Washington, D.C., verwendet werden kann. Und während Gehrys Architektur in Seattle nur zur Stiftung einer »Gegenwartsidentität« dienen soll, muss sie in Washington einer gesichtslosen Institution mit unartikuliertem Programm helfen, eine »Identität des Gegenwartsmuseums« aufzubauen, womit es beinahe auf das Niveau des Guggenheim gebracht werden soll.

Das Guggenheim-Museum wurde durch das Franchising jedoch nicht eingeschränkt. Kürzlich unterzeichnete das Museum Abkommen zur Zusammenarbeit mit der Eremitage und dem Kunsthistorischen Museum in Wien. Auf den ersten Blick mutete die Auswahl dieser Partner seltsam an. Was könnte ein Museum, das als Symbol der Moderne gegründet worden war, mit zwei alten imperialistischen Institutionen, die einzigartige Sammlungen klassischer Kunstwerke horten, verbinden? Das Management des Guggenheim-Museums klärte diesen Widerspruch auf – Rembrandts aus St. Petersburg und Breughels aus Wien werden in den Räumlichkeiten des Guggenheim in New York ausgestellt. (Das neue Gebäude wird spezielle »Eremitage Räume« einrichten.) Jedoch wird New York nicht die Endstation für diese alten Meister sein. Das Guggenheim-Museum plant im Venice Hotel in Las Vegas eine Zweigstelle aufzumachen, um die Kunstschätze der Alten Welt zu zeigen. Die Lektion des Herrn Wynn wurde gelernt.

Die Idee, Breughels Werke im neuen Gehry-Gebäude in New York aufzuhängen, klingt verrückt, allerdings bietet sich damit dem Guggenheim-Museum die Chance, als erste Institution der durch die Moderne verursachten Trennung der Kunstgeschichte ein Ende zu setzen; eine Trennung, die heute archaisch anmutet. In diesem Fall aber wird die duale Kunstgeschichte nicht durch die Notwendigkeit, überkommene Ideen zu überdenken, herausgefordert, sondern durch das Diktat des Marktes.

Das globale Guggenheim-Museum entspricht mit seiner »Branding-Politik«, Simplifizierung, Kommerzialisierung und seinem Franchising dem schlimmsten Albtraum des »Globalismus« amerikanischen Stils, der von Thomas Friedman in seinem Lied »The Lexus and the Olive Tree« besungen und von Aldous Huxley in »Brave New World« beschrieben wurde. Dieses globalisierte und kommerzialisierte Museum hat alle Möglichkeiten, ein ideales »Museum für Blinde« zu werden. Und da wäre es dann durchaus passend, Peter Breughels »Blinde führen Blinde« auszustellen.

 

Übersetzt von Beatrix Kaiser-Gnan und Brandon Walder