Heft 3/2001 - Netzteil


Kontrollierte Ungleichzeitigkeit

Zur aktuellen Geschichts- und Standortbestimmung elektronischer Kultur anhand des diesjährigen Sónar-Festivals

Christian Höller


Gut zehn Jahre ist es her, dass Techno und die neuere elektronische Musik in den Mainstreamkanon einzudringen begonnen haben. Gut zehn Jahre auch, dass diese Bewegung, die lange Zeit mit der Ideologie der Geschichtslosigkeit und des Anti-Narrativen kokettierte, ihre eigene Geschichte schreibt. Seither ist das diffuse Konglomerat Techno zu einem maßgeblichen Paradigma der Gegenwartskultur geworden. War zuvor federführend von elektronischer Kunst, meist sozial abgeschottet und technizistisch motiviert, die Rede gewesen, so vollzog sich in der letzten Dekade ein großflächiger Umbau und vor allem eine kontextuelle Erweiterung, hin zur elektronischen Kultur. Viele Mythen, die das neue Feld zentral zu kennzeichnen schienen, mussten seither revidiert werden. Autorlosigkeit, Anonymität oder die Enthierarchisierung von High und Low sind einige dieser Mythen, die mitnichten außer Kraft gesetzt wurden, sicher aber Neuformatierungen erfahren haben. Elektronische Musik verfügt heute selbst über einen weitgehend unverrückbaren Kanon – sie, die einst antrat, jegliche Form von Kanonisierung grundlegend aus den Angeln zu heben.

»Agenten« dieser Kanonisierung sind Groß-Events wie »Sónar«, das »Barcelona International Festival of Advanced Music and Multimedia Arts«, das heuer zum achten Mal stattfand und dessen eigene, nicht wegzuleugnende Geschichte auch als stete Expansionsbewegung – inklusive zahlreicher darin enthaltener »Wiederkehrphänomene« – betrachtet werden kann. Konkret bedeutete diese Expansion, dass an drei Tagen und Nächten insgesamt über 80.000 BesucherInnen gezählt wurden – was etwa Kunstgroßausstellungen wie die Dokumenta locker überbieten, wenn auch nicht in so kurzer Zeit. Auch »Wiederkehr« muss nicht grundsätzlich negativ kodiert sein, vor allem, wenn es sich bei den Wiedergängern um vorwärtsgewandte Altmeister wie Jeff Mills oder Richie Hawtin handelt, die in den megalomanen, beinahe surreal wirkenden Messehallen am Montjuïc (wo das Nachtprogramm stattfand) vor rund 10.000 Leuten ihre beeindruckenden Live-Sets hinlegten. Dass Geschichte in diesem Zusammenhang aber noch eine völlig andere Bedeutung hat, belegte die insgesamt sehr offen gehaltene Programmierung, die etwa den Nestor der Minimal Music, Terry Riley, in ein und dieselbe Konzertreihe mit den kalifornischen Soundcollage-Aktivisten Ultra-Red (http://www.comatonse.com/ultrared) stellte, oder den Übervater aller Radio-DJs, John Peel, neben die Berliner Kunst-Minimalisten vom Elektro Music Department (http://www.elektro.fm). Dass mit dem ehemaligen Can-Keyboarder Irmin Schmidt, der Achtzigerjahre-Chanteuse Julee Cruise oder dem vom Wiener Cheap-Label zu internationalem Ansehen gebrachten Barsänger Louie Austen zudem weit auseinander liegende Dekaden und Stilhistorien evoziert wurden, ließ das alte Techno-Ideologem von der uneingeschränkten Gegenwärtigkeit noch zweifelhafter erscheinen.

Wiederkehr der Geschichte also an vielen Fronten, und gerade der admissive Umgang mit unkontrollierter, oft auch unerwarteter Gleichzeitigkeit von Asynchronem verleiht einem Festival wie »Sónar« jene Qualität, die indirekt auch dazu beiträgt, dass die tatsächliche Bandbreite elektronischer Kultur erkennbar wird. Dass diese Bandbreite aber nicht allein aus historischen Tiefendimensionen besteht, sondern auch aus unzähligen Synchronismen, dies verdeutlichte sich in einem weiteren Dezentrierungsmoment innerhalb des Festival-Line-ups: Immer stärker zeichnet sich in der elektronischen Kultur eine grundlegende Neuorganisation der herkömmlichen Musikgeografie ab, und so scheinen ehemalige Knotenpunkte wie London und New York auf der sich neu gestaltenden Karte nur noch bedingt auf. Auch »Sónar« trägt dem verstärkt Rechnung und präsentierte etwa Showcases des norwegischen Labels Rune Grammofon (http://www.runegrammofon.com), der mexikanischen Nortec-Szene (http://www.norteccollective.com), des chilenischen Labels Condormusic (http://www.marciano.cl) oder der brasilianischen Independent-Szene rund um SambaLoco Records (http://www.sambaloco.com.br). Mit Acts wie O Discurso und XRS Land führt SamboLoco vor, wie auf ruppiger Bassdrum/303-Basis (bei ersterem) und geschmeidigerer Drum’n’Bass-Grundlage (bei zweiterem) lokales Flair heute in erster Linie als ideelles Gleitmittel funktioniert und weniger als ortsabhängige Soundkonstante. Im nachmittäglich-sommersonnigen Hof des CCCB, wo die Tagesveranstaltungen stattfanden, war der imaginäre Sprung an einen hybriden Techno-/Exotik-Ort daher mehr als naheliegend, und der Argentinier Leo Garc’a (http://www.fragildiscos.com) unterstrich dies mit dem doppelten Tabubruch, als einer, der sich üblicherweise im abgeschotteten Buenos Aires in hartem Minimal Techno ergeht, gemeinsam mit einem Sänger/Gitarristen selbstkomponierte Latino-Popsongs zum besten zu geben.

Neben der geografischen Dezentrierung ist es aber vor allem die Kontextbreite, welche der elektronischen Kultur heute ihren mächtigen Resonanzraum verleiht und welche auch von »Sónar« mehr und mehr mit einbezogen wird. Ausstellungen, Grafikdesign-Präsentationen, Panels, Netzprojekte, eine ganztägige Film- und Videoschau sowie eine Label-Messe sind die mittlerweile selbstverständlichen Ingredienzien des von »Sónar« großflächig abgedeckten Techno-Verbundes. Dass im thematischen Zentrum der Ausstellung (»Invisible London«) dann doch wieder die pop-gründerzeitliche Metropole stand, mochte zunächst enttäuschen; letztlich wurden darin aber doch vielfältigste Überschneidungen von Musikproduktion, Grafikdesign, Kunstprojekten, Netzaktivitäten und publizistischen Interessen erkennbar (»Invisible London« war von Anne Hilde Neset von der englischen Musikzeitschrift »The Wire« zusammengestellt worden) und ergaben ein angenehm zu lesendes Palimpsest: spiegelt sich in der rezeptiv kaum zu fassenden Parallelität elektronischer Produktion doch allzu deutlich wider, was die Aufmerksamkeitsökonomie der Gegenwart tagtäglich zum Exzess treibt. Dass Ausschnitte und Abrisse genügen müssen, zumal elektronische Produkte in immer geringerem Maße jemals abgeschlossen oder endgültig vorliegen, dies ließ sich anhand von »Invisible London« räumlich komprimiert nachvollziehen.

So ergab etwa die Rekonstruktion des Rough Trade-Ladens, mittlerweile 25 Jahre alt und von zahlreichen Schichten diversester Independent-Bewegungen »überschrieben«, ein physisch begehbares Grafik- und Produktarchiv. Einzelne Designpositionen, die in diesem Umfeld ihre Wirksamkeit entfaltet haben, unterstreichen dies: die Gruppe Intro etwa (http://www.introwebsite.com), deren Sampling-Zugang ein weites Spektrum zwischen digitalem Hochglanz, DIY-Agitprop und unkonventionellem CD-Packaging auslotet; oder Jon Wozencroft, Miteigentümer und Chefdesigner des Touch-Labels (www.touch.demon.co.uk), dessen farbgefilterten Weitwinkel-Landschaftsfotos organisch-warme Räumlichkeiten über die oft sperrigen Klangdystopien von Touch legen; oder das Duo EkhornForss, das mit seinem Redesign für »The Wire« ganz auf serifenlose Neo-Modernität setzt und CDs auch schon mal in Staubsaugerbeuteln verpackt. Demgegenüber spielt ein Kunstprojekt wie Scanners »Surface Noise 2.0« (www.scannerdot.com) mit der synthetischen Verknüpfbarkeit imaginärer und realer Kartografien, in diesem Fall von London, und den daraus erwachsenden oder assoziierbaren Sounds: die Stadt als Raster unterschiedlichst überlagerter Feedback-Zonen.

Welch umwegige Bestätigung des modernistischen Kanons, wenn auch in reformatierter Form, die Techno-Kultur im Augenblick erfährt, dies unterstrich Jeff Mills mit seinen beiden Kunstprojekten: Die Installation »Mono« präsentierte den schwarzen Monolithen aus Stanley Kubricks »2001« inmitten zeitgemäßen Cosmic-Ambient-Sounds; seine Neuvertonung von Fritz Langs »Metropolis« (als Video gezeigt) setzt dem Ringen um Geschichtlichkeit noch eins drauf – der historische Inhalt verflüchtigt sich darin in demselben Maße, in dem die Textur des »Originals« zur aktuellen Sound-Beigabe wird. Worin sich die Ungleichzeitigkeit selbst einmal mehr als treibender Geschichtsmotor erweist.

 

 

Sónar 2001 – 8th Barcelona International Festival of Advanced Music and Multimedia Arts, 14. bis 16. Juni 2001, http://www.sonar.ya.com