Heft 3/2001 - Netzteil


Still und leise das Feld verlassen

Anmerkungen zum Tod der Netzkunst

Olga Goriunova


Heath Bunting1 behauptet überall, sich aus der Netzkunst zurückgezogen zu haben. Die berühmte Seite jodi.org, die sich permanent veränderte und nie ein Projekt als totes Portfolio abspeicherte, kehrte kürzlich wieder zu ihrem Interface zurück, das sie vor fünf Jahren benutzten. Auch Vuk Cosic2 hat die Netzkunstszene verlassen und arbeitet zur Zeit in einer kommerziellen Webdesign-Firma. Aleksej Shulgins3 Aktivitäten der letzten zwei Jahre liegen fast ausschließlich im Musikbereich. Und sie alle halten Netzkunst für tot.

Wie auch immer, ihre Nachfolger oder vielmehr diejenigen, die sich derzeit mit sogenannter Netzkunst beschäftigen, argwöhnen, dass die »Totengräber« gerade dabei sind, sich den Begriff, die Aktivitäten, die Strategie, die monumentale historische Phase und so weiter anzueignen (mit anderen Worten: sich das Trademark zu sichern). Der mit diesem Vorwurf verknüpfte Einspruch ist offensichtlich und oft festgehalten worden: Keiner der ehemaligen »NetzkünstlerInnen« hat eine beneidenswerte Karriere gemacht, die eine hohe und beständige Position innerhalb einer angesehenen Kunstinstitution, hohe Honorare oder Zugang zu fetten Kunststipendien einschlossen hätte. Sie scheinen einfach still und leise das Feld verlassen zu haben.

Wo liegt also der Grund für die Kälte, welche die Netzkunst im Augenblick umgibt? An welcher Krankheit leidet - vielleicht auch: starb - die Netzkunst? Die Antwort ist ziemlich eindeutig: am Eindringen der Kunstinstitutionen und deren Autoritäten in die ehemals autonome Zone. Neue Strategien, die diese KünstlerInnen verfolgten, wurden im Bereich der Neuen Medienkunst großflächig implementiert. Eines der interessantesten Merkmale, dessen sich die KünstlerInnen bewusst waren, einer der interessantesten Kämpfe, den sie führten, war die unabhängige Aktivität, die die Hierarchien innerhalb der Kunst, die kapitalistische Ordnung, Systeme von Markennamen und die Absurdität des Künstlerischen und fast jedes anderen Unternehmens, an die sich jeder in der sogenannten ersten Welt seit langem gewöhnt hatte, zu überwinden versuchte.

Die außergewöhnlichsten der frühen Arbeiten zielten auf die Gestaltung alternativer Kommunikationsräume ab, die nicht von Institutionen abhingen (so wie die Nettime-Mailingliste4, die 1995 von einer Gruppe junger Leute in Venedig gegründet wurde, da sie enttäuscht waren von dem, was sie auf der damaligen Biennale gesehen hatten); auf eine Unterwanderung der Kulturindustrie und des kapitalistischen Lebensstils; auf die Etablierung eines direkten Kontakts zwischen KünstlerInnen und Publikum (es sollten nichtkommerzielle Multiuser-Umgebungen geschaffen werden; beliebt war auch »Groupware«, und viele Unternehmungen in diese Richtung gingen vom Berliner Thomas Kaulmann von der Internationalen Stadt5 aus); schließlich auf die Bildung einer lebhaften Atmosphäre und die Verständigung während Konferenzen (für deren Organisation eine spezielle parasitäre Strategie entwickelt wurde, nämlich den Körper der Kunstinstitutionen anzuzapfen). Wohin ist diese Stimmung verschwunden? Warum kann die jüngere Künstlergeneration nicht mit ähnlichen Aktivitäten fortfahren? Schließlich steht sie vor genau denselben Problemen, die natürlich nicht gelöst werden können - was im Übrigen einer der Gründe für die sich selbst unterwandernden und ironischen Motive war, die Netzkunst von Anfang an kennzeichneten.

Was bleibt, sind Aktivitäten wie jene des MoMA San Francisco, das kürzlich die Ausstellung »010101 - Art In Technological Times«6 organisierte, mit jener Art von Internetprojekten, in denen es meist um die Illustration der neuesten Technologien geht, mit denen sich smarte und verfeinerte Umgebungen kreieren lassen. Interaktion wird darin auf eine sichere, »click-and-see-it-flashes-back«-Weise präsentiert. Die Projekte verharren ausschließlich im Kunstumfeld und werfen keine politischen oder sozialkritischen Fragen auf - Projekte, die schließlich mit freundlicher Unterstützung von Intel oder Apple entstehen. Ein kurzer Blick auf die Webseite zur Ausstellung genügt, um zu sehen, welche Bedürfnisse diese erfüllt. Es wird empfohlen, einen Pentium mit 500 MHz oder mehr zu haben, eine Kabel- oder DSL-Verbindung und so weiter. Hier dient neue Medienkunst einzig als Händler für neue Technologien. Es scheint, als produzierten die KünstlerInnen, denen es gelungen ist, Zugang zu Hochtechnologien zu bekommen, überwiegend teure und komplexe, aber letztlich nutzlose Environments oder Geräte, die dann wunderbar als Zeichen künstlerischer Kraft funktionieren. Im selben Moment, in dem Geld und institutionalisierter Ruhm so massiv auftreten, geht jede Offenheit, Kommunikation und Bedeutung verloren.

Ein besseres Beispiel ist eine Gruppe von KünstlerInnen/ProgrammiererInnen, die sich nach einer Figur Dostojevskys - Netochka Nezvanova7 - benannt haben und die die neuen unangezweifelten Stars sind.

Sie scheinen die wahren Sieger der net.art-Tradition zu sein. Im besten Sinne nutzen sie viele der in den »goldenen Jahren« der net.art ausgearbeiteten Strategien. Bei allen großen Medienfestivals wird ihre Arbeit präsentiert, ihre Postings nehmen die Hälfte der Syndicate-Liste ein.8 Besonders intensiv wenden sie eine Variante des gängigen E-Mail-Stils und eine Webinterface-Ästhetik an, die vor wenigen Jahren von Jodi eingeführt wurde. Sie bevorzugen schockierendes und subversives Verhalten, das einmal charakteristisch für Heath Bunting war. Sie versuchen ironisch zu sein, was ebenfalls eine Strategie der Netzkunst Mitte der Neunziger war. Sie scheinen das Starsystem zu negieren, indem sie hübsche Schauspielerinnen als Stellvertreterinnen zu den Festivals schicken (vorzugeben, ein Cover Girl zu sein, kann als kritisches Statement gegenüber der Kulturindustrie gesehen werden, die aus einer Frau eine Puppe macht, es kann aber auch als smarte PR-Aktion gelten). Ihr bekanntestes Projekt - eine Software - verkaufen sie für dickes Geld!

Es scheint nichts übrig geblieben zu sein von der »Open Source-« oder »Geschenkökonomie«-Ideologie. Netochka Nezvanova sind so sehr mit ihrer eigenen Vermarktung beschäftigt, dass manchmal unklar bleibt, was eigentlich ihr vorrangiges Projekt ist - die Software, die sie programmieren, oder die umfangreiche, ärgerliche Werbekampagne, die sie führen. Schließlich stellt sich in Bezug auf ihre Software heraus, dass diese im Grunde ziemlicher Mainstream ist (Echtzeit-Manipulationen von Multimedia-Daten - etwas, das man vor wenigen Jahren mit SGI machen konnte und zu dem man künftig mit einem Palm Pilot in der Lage sein wird). An der Oberfläche bewahrt die Gruppe viele Merkmale der klassischen NetzkünstlerInnen, tatsächlich aber verhalten sie sich wie ein modernes E-Commerce-Unternehmen mit allen dazugehörigen Attributen: kommerzielle Produktlinie mit Online-Vertrieb, aggressive Werbung, Branding, Marketing, PR-Abteilung etc. Sie repräsentieren damit den ultimativen egozentrischen und entfremdenden Zustand eines westlichen, mit der Macht digitaler Technologien ausgestatteten Individuums. Hier begegnet uns eine neue Marketingstrategie: nicht KünstlerInnen, die als High Tech-WerberInnen fungieren, sondern kommerzielle Unternehmen, die vorgeben, KünstlerInnen zu sein.

Fast jede Kunstinstitution hat dieser Tage eine Website sowie Netzkunstabteilung, -kritikerInnen und -kuratorInnen. Fast jedes als Netzkunst angekündigtes Projekt zielt darauf ab, in den Händen einer Institution zu landen. Jegliche Aufregung um die Netzkunst ist verschwunden. Die einzige Aufregung entsteht zur Zeit um die von NN promoteten Postings, eine neue Art der Werbekampagne für eine Produktlinie, deren Preise bei 600 $ aufwärts liegen. Deswegen sehen einige Leute Netzkunst, wie man sie kannte, als tot an.

Es hat keinen Zweck, zeitgenössische KünstlerInnen an die Aufrichtigkeit der vor Jahren verfochtenen Ideen zu erinnern. Eine detaillierte Analyse könnte möglicherweise einige ökonomische und soziologische Gründe aufdecken, warum es für das System nützlich war, von KünstlerInnen neue Räume und neue Strategien entwickeln zu lassen. Es war ein einzigartiger Moment, der vor einem speziellen historischen Hintergrund möglich war, ähnlich wie Dadaismus oder 1968. Zahlreiche Faktoren kamen beim Auftauchen der temporären autonomen Zone, des World Wide Web, Mitte der neunziger Jahre zusammen (der Fall der Berliner Mauer und die Einführung des grafischen Internet-Interfaces gehörten dazu). Aber es scheint, als könne diese Art von Raum in der modernen Welt, in der sich die kommerzielle Aneignung alternativer Ideen sehr schnell vollzieht, nicht lange existieren kann, und nun migriert er woanders hin.

Auch wenn Kunstpraktiken nie in der Lage sein werden, das System drastisch zu verändern, so spielen sie dennoch eine wichtige Rolle bei der Findung von Widerstandsformen gegen die Kontrolle und den Druck von Seiten der Autoritäten und des Kommerzes. Wenn das nächste Mal eine TAZ auftaucht, kann sich die frühe net.art in die Liste alternativer Praktiken, von denen man lernen und auf die man sich beziehen kann, einreihen.

 

Übersetzt von Vera Tollmann