Heft 4/2001 - future worlds


No Past? No!

Ein Interview mit dem italienischen Postfordismusanalytiker Sergio Bologna

Klaus Ronneberger / Georg Schöllhammer


Die gesellschaftlichen Umwälzungen der letzten zwei Dekaden haben herkömmliche Berufsbilder und Klassenidentitäten hinfällig werden lassen. Traditionelle Formen und Ressourcen einer kollektiven Solidarität, die aus der gemeinsamen Erfahrung der Arbeit unter entfremdeten Bedingungen entstanden war, verflüchtigen sich immer mehr. Der soziale Widerstand tut sich schwer, eine Antwort auf die neuen und flexiblen Strategien des postfordistischen Kapitalismus zu finden. Während die einen gegen die Tyrannei des Marktes auf die Rettung des nationalen Sozialstaates setzen, sind für die anderen mit den veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen neue Formen der Selbständigkeit entstanden. Aus dieser Perspektive hat eine »gewerkschaftlich« orientierte Arbeits- und Sozialpolitik nur noch wenig Chancen, bei den »Arbeitskraftunternehmern« auf Zuspruch zu stoßen.

Sergio Bologna, einer der wichtigsten europäischen Analytiker dieses Wandels, hat mit seinem Buch über die »neuen Selbständigen« in Norditalien die bislang umfassendste Studie der Umstände und Perspektiven dieser Arbeitsform vorgelegt. Im Gespräch skizziert Bologna die Genese der »Klasse« der »neuen Selbständigen« nicht nur als Konsequenz ökonomischer Strategien und technologischer Entwicklungen, sondern auch als Reaktion auf subtile Formen des innerbetrieblichen Widerstands und postmoderne Sozialisationsmuster.

Vor dem Hintergrund der eigenen Lebensgeschichte als linker Aktivist und Intellektueller im Kontext der Autonomia Operaia, der von seinem Universitätslehrstuhl weg in die »neue Selbständigkeit« gezwungen wurde, misstraut Bologna dabei den gängigen Kapitalismuskritikmustern der alten und neuen Linken und plädiert für eine - kulturelle, ja ästhetische - Utopie: für neue Räume, Begriffe und Organisationsformen, für ein »re-engineering« der Stadt als Ausweg aus der gegenwärtigen Agonie der Linken. Einen ersten konkreten Entwurf dazu bildet das Konzept für die Freie Universität Mailand, das wir hier vorstellen.

Klaus Ronneberger: Herr Bologna, in den siebziger Jahren sind Sie im deutschsprachigen Raum als Theoretiker der autonomen italienischen Linken bekannt geworden, der sich vor allem mit der Figur des fordistischen Massenarbeiters beschäftigt hat. In Ihren neueren Arbeiten stehen nun die »neuen Selbständigen« im Mittelpunkt Ihrer Analysen. Welche ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklungen haben Sie dazu veranlasst?

Sergio Bologna: Schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre wurde klar, dass die fordistische Produktionsweise sowohl als Akkumulations- als auch Disziplinierungsmodell große Schwachstellen hatte. Die Fabrikarbeiter hatten - vor allem in Italien mit dem Beitrag bestimmter Intellektuellen-Kreise - eine Kampftechnik entwickelt, welche die Empfindlichkeit der Montagekette gegen genau geplante Streikaktionen zeigte. Eine kleine, an strategischen Stellen des Produktionsprozesses aktive ArbeitnehmerInnengruppe konnte einen Betrieb von 40.000 Beschäftigten paralysieren und den Vorstand einer großen Firma zu Verhandlungen zwingen. Einer solchen Streiktechnik gegenüber, die im Grunde genommen nichts anderes war als das, was die Anarchosyndikalisten schon am Anfang des Jahrhunderts entdeckt hatten, war das Disziplinierungsmodell der wissenschaftlichen Arbeitsorganisation völlig machtlos. Es sei denn, man hätte die Grundfreiheiten der gewerkschaftlichen Ordnung aufgehoben - was politisch nicht durchsetzbar war. Mit einem Wort: Die Maschinerie der fordistischen Produktion konnte mit relativ kleinem Kräfteaufwand gelähmt werden. Zuerst wurde eine Antwort darauf im Bereich der Technologie gesucht: die Robotisierung, das Ersetzen der menschlichen Arbeitskraft durch Roboter. Aber sie waren genauso rigide. Nur die Idee der Flexibilisierung - mit der Reduzierung der Größe der Produktionseinheiten, der Organisation des Produktionsprozesses in Netzwerken von kleinen und mittleren Betrieben, der unendlichen Kette von Subunternehmen, den Entortungen, den atypischen Arbeitsverträgen, den flexiblen Arbeitszeiten und natürlich auch der Repression durch die »sanfte« Entlassung der aktivsten Arbeitergruppen durch Sanierungspläne, Restrukturierungsmassnahmen usw. bis zum Beginn der Informatik-Ära, zur »New Economy« - konnte das Problem des sozialen Konfliktes lösen. Mit einem Personalcomputer und einem Handy ist jeder Mensch ein Betrieb für sich und zwar ein Dienstleistungsbetrieb. Und gegen seinen Computer kann er nicht streiken, weil er im Grunde genommen alleine vor seinem Bildschirm sitzt und oft gar nicht weiß, wer sein Auftraggeber ist.

Das ist aber nur eine Seite des Phänomens. Die andere Seite schien mir vielleicht wichtiger zu sein: Die soziale Organisation der fordistischen Arbeit mit ihrer Perspektive der »festen Stelle« war nicht mehr attraktiv für die neuen Generationen, die anders leben, anderes ausprobieren, ihre Freiheit behalten wollten usw. Sie betrachteten die Streikaktionen der Fabrikarbeiter mit einer gewissen Skepsis. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle hatten diese mit kleinen Lohnerhöhungen geendet, was in Zeiten hoher Inflation, wie die 70er Jahre es waren, zur heillosen Frustration führte. Der Mythos der »starken Arbeiterklasse«, der revolutionären Arbeiterklasse, die die Seele der 68er entflammt hatte, blieb ihnen völlig fremd. Sie sahen keine substantielle Besserung in den sozialen Bedingungen der Fabrikarbeiter. Sie gehörten der desillusionierten Post-68- und Post-Vietnam-Generation an. Der Marxismus spielte für sie keine Rolle mehr. Geschlechtsspezifische Initiativen, sexuelle Freiheit und Umwelt waren ihnen vielleicht wichtiger. Sie hielten die fordistische Form des sozialen Konfliktes für Sisyphus-Arbeit. Jobben war ihnen lieber als eine feste Stelle. Das Neue kam also sowohl von unten als von oben.

Ich hatte schon Mitte der 60er Jahre den Versuch unternommen, eine Theorie des Massenarbeiters zu entwickeln. Den 1972 bei Merve in Berlin erschienenen Aufsatz hatte ich im Jahre 1967 als Referat bei einem Seminar in Padua vorgelegt. 1977, zehn Jahre später, gab es in Italien eine neue Welle von sozialen Bewegungen, und da hatte ich das Gefühl, dass wir zu einem Wendepunkt gekommen waren: Hier gibt es was Neues, Fordismus und 68 sind beide vorbei. Aber was ist »das Neue«? So entstand der Aufsatz »Der Stamm der Maulwürfe«, der bei Feltrinelli veröffentlicht wurde. Und so begann der lange Weg der Suche nach neuen Formen der Arbeit, der mit dem Buch »Die selbständige Arbeit der zweiten Generation« (noch bei Feltrinelli) 1997 eine erste Etappe erreicht hat. Dieses Recherchieren hat zwanzig Jahre gedauert. Dazwischen aber liegt ein Ereignis, das meinen persönlichen sozialen Status verändert hat. Und zwar die Enthebung von meinem Amt als Professor in Padua, kurz danach die entgültige Entfernung von der Lehre und der Beginn einer neuen Existenz als Selbständiger. Ohne diese persönliche Erfahrung, ohne diese soziale Abstufung von der Stellung eines Staatsbeamten zu derjenigen eines »free lance« wären meine Schriften zu selbständigen Arbeitsformen vielleicht nicht entstanden. Sicher wären sie nicht in dieser Form entstanden.

... das vollständige Interview ist in der Print-Ausgabe 4/01 der springerin zu finden.

 

Übersetzt von Maria Fehringer