Heft 3/2002 - Netzteil


Das Label Netzkunst und seine Realität

Die Turiner Biennale BIG wählte das Netz als Gastland

Villö Huszai


Das Label »Netzkunst« ist im Zuge der Popularisierung des Internet Anfang der neunziger Jahre aufgekommen. 1997 präsentierte die documenta X Netzprojekte unter diesem Begriff. Die Ausstellung fiel durch: beim Publikum, weil die Bildschirmpräsentationen die hochgeschraubten Erwartungen an die Avantgarde der Netzgesellschaft nicht zu befriedigen vermochten; und bei den KünstlerInnen selbst, die sich über zu niedrige Gagen oder die Offline-Präsentation beklagten. Im Hintergrund machte sich das Unbehagen bemerkbar, die rebellische Kunst der Gründerjahre des Internet in einem konventionellen Showraum häppchenweise präsentiert zu sehen. Ohne dem Kunstsystem grundsätzlich feindlich gegenüber zu stehen, gehörte es zum Programm dieser KünstlerInnengeneration, sich nicht ins Kunstsystem integrieren zu lassen, sondern selbstdefinierte Ziele zu verfolgen. Erst die Grazer bzw. Karlsruher Ausstellung »net_condition« von 2000 versuchte, erstmals das nicht objekt-, sondern handlungsorientierte Kunstverständnis in einem medientheoretisch-gesellschaftspolitischen Fokus darzustellen.

Nachmoderne Kunst und künstlerische Netzprojekte

Auf der diesjährigen Documenta 11 ist Netzkunst kein Thema mehr. Zu diesem - neuerlich verbreiteten - Trend des Kunstbetriebs stellte sich die kleine, diesen Frühling zum zweiten Mal stattfindende Turiner Biennale BIG1 quer: Denn die Biennale Internationale Arte Giovane wählte das Netz zum Gastland. Ein kuratorischer Gewaltakt, der dem Renommeeverlust des Internet in den letzten zwei Jahren trotzig die Stirn bieten will? Keineswegs: Die Entscheidung des künstlerischen Direktors Michelangelo Pistoletto für das Internet bildete einen Teil des Gesamtkonzepts, dessen Kurzformel »BIG Social Game« lautete. Der Dialog zwischen Kunst und Gesellschaft stand dabei im Zentrum, und die Biennale sollte sich für Kunstformen öffnen, die sich außerhalb der klassischen modernen Kunst-Orte, insbesondere des White Cube, abspielen. Die KünstlerInnen brachten keine Kunstwerke mit, sondern entwickelten sie in Auseinandersetzung mit der Stadt Turin. In einem solchen prozessorientierten Konzept bilden Netzprojekte keinen Fremdkörper.

Dass die Kunst den White Cube verlässt, ist eine längst etablierte Reaktion auf die oft hermetische Kunst der Moderne. Kaum jemand weiß dies besser als Michelangelo Pistoletto, einer der Protagonisten der Arte Povera der sechziger Jahre. Genau in dieser Aktualisierung einer im Kunstsystem schon bekannten Position mittels aktueller Netzprojekte lag dann auch die außergewöhnliche Integrationsleistung der Turiner Biennale: Wie kaum zuvor in der nunmehr zehnjährigen Geschichte des Internet als Massenmedium gelang es einer etablierten Kunstveranstaltung, Netzprojekte in eine unverkrampfte Nachbarschaft zu zentralen Anliegen zeitgenössischer Kunst zu stellen.

Unverkrampft war dieser Bezug auch dadurch, dass die Biennale nicht die Einverleibung dieser neuen Kunstansätze, sondern den Dialog mit ihnen suchte: BIG war nicht das Produkt einer forcierten Schnellbleiche in Sachen Neue Medien, sondern das Produkt einer Zusammenarbeit zwischen der etablierten Position Pistolettos und der mit Neuen Medien arbeitenden Künstlergruppe calc (casqueiro atlantico laboratorio cultural)2. Pistoletto hatte calc ins Kuratorenteam eingeladen und den Mitgliedern Teresa Alonso Novo, Lukas Brunner und Tomi Scheiderbauer bei der Auswahl der »BIG-Guests«, der KünstlerInnen aus dem »Gastland« Internet, freie Hand gegeben.

Formel »Gastland Netz« statt Label »Netzkunst«

Zur Unverkrampftheit trug auch die Formel »Gastland Internet« bei. Denn sie ermöglichte es den KuratorInnen und KünstlerInnen der BIG, das Label »Netzkunst« zu umgehen: Das oft beschworene »Scheitern« der Netzkunst Ende der neunziger Jahre hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sich das Medienkonglomerat Internet nicht als Trägermedium eines eigenständigen Kunstgenres eignet. Vielmehr sollte es als ein Element aufgefasst werden, das in künstlerischen Arbeiten je nach seiner spezifischen Verwendungsweise mehr oder weniger wichtig sein kann. Die Künstlergruppe etoy, eine der namhaftesten Repräsentanten der so genannten Netzkunst der neunziger Jahre, dokumentierte mit ihrem für BIG entwickelten Projekt, dass das Netz zwar immer noch grundlegend, aber nicht alleiniges Thema und schon gar nicht alleiniges Trägermedium ihrer Kunst ist: etoy schleuste rund 30 Schulklassen während der Biennale durch einen Crashkurs in Videoproduktion und erinnerte durch die Aufschrift www.etoy.com auf zwei im Zentrum Turins aufgestellten orangen Containern effektvoll an die digitale Existenzform von etoy; zugleich aber geht es in »etoy.daycare«3 um das nicht-internetspezifische Medium Video und den Computer als digitales Videoproduktionslabor; darüber hinaus stellte sich etoy den alles andere als virtuellen Turiner Kinderscharen.

Ebenso wenig als »Netzkunst« rubrizieren lässt sich das Projekt »Etni-Città«4 von Samantha Longoni und Martin Roth. Roth hat in Zusammenhang mit dem Schweizer Expo-Projekt »Cyberhelvetia«5 so genannte »Fotobots« entwickelt: hinter Schaufenstern installierte, mit Digitalkameras ausgerüstete Bildschirme, mit denen PassantInnen Aufnahmen von sich herstellen können. Die Bilder werden von den Straßenstandorten aus direkt auf einen Server gespeist und können via Internet abgerufen werden. Der Dialog mit der Turiner Bevölkerung bestand darin, dass Etni-Città (wie etoy mitten in Turin gleich neben dem Stadthaus platziert) die PassantInnen aufforderte, über Fragen zu Politik und Medien abzustimmen: In der Mitte steht die jeweilige Frage, rechts ein »no«-Fotobot, links ein »si«-Fotobot. Das Netz ist wesentlicher Bestandteil der Installation, aber daneben spielt vor allem der öffentliche Raum eine entscheidende Rolle. In Bezug auf das Label »Netzkunst« stellt sich auch die Frage, wie stark es den MacherInnen von Etni-Città noch auf den Kunstaspekt ankommt. Die im Design von RAI-Uno gehaltene Ästhetik ist offenkundig auf Publikumswirksamkeit angelegt und nicht Ausdruck einer Suche nach eigenständiger Ästhetik.

Anders das Projekt »./logicaland«6, das mit einer strengen grafischen Ästhetik operiert und als rein virtuelles Projekt auch am ehesten in ein rigides Verständnis des Kunst-Genre »Netzkunst« zu passen scheint. Doch gerade hier ist von der Interaktion mit dem Turiner Standort nichts wahrzunehmen.

Netz-Aktivismus und Kunstsystem

Die politische Interaktion wurde Pistoletto und seinem Team jedoch etwas zu direkt, als Mitglieder des Netzprojekts »Everybody is an expert« Flugblätter mit dem Spruch »Basta con Berlusconi« auf der Straße verteilten. Nach gescheiterten Verhandlungen kam es zur Ausladung der KünstlerInnen. Hätte sich diese Agitation auf das Netz beschränkt, so Pistoletto im einem Interview während der Biennale, so hätte er sie als Teil des Kunstwerks wohl akzeptieren können; im realen öffentlichen Raum von Turin sei sie aber direkte politische Aktion gewesen und habe damit den Kunstrahmen der Biennale gesprengt. Netzaktivismus und Kunstsystem gerieten hier in einen Konflikt, der die Diskussion über das Verhältnis von Kunst, Netz-Aktivismus und Politik jedoch weiter anregte.7

Insgesamt bleibt das Label »Netzkunst« weiterhin problematisch - ein Kunstgenre, zu dem sich KünstlerInnen nicht recht zugehörig fühlen. Zu denken gab schon in den neunziger Jahren, dass damalige »Berühmtheiten« wie Heath Bunting, Vuk Cosic oder Olia Lialina sich des Labels eher ironisch denn enthusiastisch bedienten.8 Veranstaltungen wie die Turiner Biennale, in der netzbasierte Kunstprojekte auch ohne dieses Label wahrgenommen werden, stellen eine glückliche Ausnahme dar. Weil »Netzkunst« immer noch ein eingängiger und viel versprechender Begriff ist, wird er allein aus strategischen Gründen nicht einfach aufzugeben sein. Obwohl Heath Bunting die Bezeichnung Netzkünstler eigentlich nie, zumindest nicht in den letzten Jahren, hat gelten lassen, ist sein neustes Kunstprojekt von der Tate Gallery als »Net.art-Projekt« gesponsert worden.

 

 

1 http://www.bigtorino.net
2 http://www.calcaxy.com
3 http://www.etoy.com/daycare
4 http://www.etnicitta.com
5 http://www.cyberhelvetia.ch
6 http://www.logicaland.net
7 Im Vorwort der zweiten Ausgabe des BIG-Katalogs äußerte sich Pistoletto zumindest in allgemeinen Worten zu diesen Konflikten, die Position der von den Netaktivisten ®™ark unterstützten Gruppe »Everybody is an expert« lässt sich im Netz nachlesen. (http://rtmark.com/torino).
8 Vgl. http://www.ljudmila.org/~vuk/books