Heft 3/2002 - Lektüre



Martina Löw:

Raumsoziologie

Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2001 , S. 78

Text: Marc Ries


Der jahrzehntelangen »Raumblindheit« in sozialwissenschaftlichen Analysen wurde in den letzten 10 Jahren mit einer differenzierten Publikationsvielfalt begegnet. Darin kam nicht zuletzt die Heterogenität der Fragestellungen in Bezug auf die Komplexität der Raumbeziehungen innerhalb der spätmodernen Vergesellschaftungsverhältnisse zum Ausdruck. Die vielleicht den Beginn markierende neo-marxistische Raumstudie Edward Sojas wurde schnell bereichert durch feministische Studien zur Raumaneignung bzw. Raumausgrenzung, sozialgeografische und avancierte städtebauliche Analysen sowie kulturwissenschaftliche Versuche, »space and identity« zusammen zu denken. Dennoch überwiegen im allgemeinen Verständnis zwei einander widersprechende Raumvorstellungen: zum einen die Rede von der durch Mobilitäts- und Globalisierungstechniken ermöglichten »Raumüberwindung« oder gar »Raumauflösung; zum anderen eine gewisse Raumvertrautheit - zu wissen, was mit dem konkreten Lebensraum gemeint ist. Somit drängt sich eine »Soziologie des Raumes« geradezu auf, die den Raum als soziale Konstruktion und alle anderen gesellschaftlichen Konstruktionen wesentlich mitprägende Instanz denkt.

Martina Löw beginnt ihre Abhandlung mit der Feststellung, dass »gesellschaftliche Entwicklungen, die offensichtlich eine räumliche Dimension haben, wie Verinselung der Lebenswelten, Globalisierungsprozesse und die Folgen neuer Technologien«, nicht bloß mit dem lapidaren Hinweis auf eine Zerstörung oder Überwindung des einen Raumes zu disqualifizieren sind, sondern vielmehr eine diese Entwicklungen mitreflektierende neue Raumbegrifflichkeit entworfen werden muss, welche es erlaubt, die real ablaufenden Vergesellschaftungsprozesse auch als räumliche zu verstehen.

Im Zuge einer präzisen Gegenüberstellung von traditionell absolutistischen Raumvorstellungen - der Raum als unbewegt-homogener Behälter, Container, der jegliches Handeln und alle Körper neutral umschließt und in der Tradition der euklidischen Geometrie wahrgenommen wird - und dem unter anderem auf der Relativitätstheorie aufbauenden relativistischen Raumkonzept - Raum entsteht zuallererst aus den relativen Lagen und Handlungen der Körper - wird eine klare Vorentscheidungen für einen »relationalen Raumbegriff« getroffen.

Zunächst unterzieht die Autorin jedoch den ortsgebunden-soziologischen, den territorial-stadtplanerischen und den formal-kantianische Raumbegriff einer Kritik und analysiert anschaulich die gesellschaftlichen Veränderungen der Raumphänomene, von Piagets konstruktivistischer Theorie der Raumwahrnehmung über die »verinselte Vergesellschaftung« und die geschlechtsspezifischen Raumvorstellungen, das Aufbrechen der territorialen Raumgebundenheit in der elektronisch-virtuellen Kommunikation, bis hin zu den Global Cities und einem veränderten Körperverständnis. Gerade der Exkurs zu letzterem, der den Körper als »kleinste soziologisch relevante Raumdimension« und als »relationales Gefüge« denkt, macht offensichtlich, dass viele der gängigen Körperdiskurse mit ihrem Ausblenden des handlungstheoretischen Bezugs auf das Phänomen Raum einen empfindlichen Mangel aufweisen.

Löw definiert die Entstehung von Raum in der Wechselwirkung von Handeln und Struktur als »relationale (An)Ordnung von Körpern - von Lebewesen und sozialen Gütern -, welche unaufhörlich in Bewegung sind, wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert«. Zwei Prozesse, »Spacing« und »Syntheseleistung«, sind an der Konstitution von Raum beteiligt. »Spacing« ist das Platzieren, Errichten und Bauen von Objekten und Körpern, während erst in der Synthese durch die RaumbenutzerInnen eine Verknüpfung der Objekte und Körper zu einem Raum stattfindet und ein »Raumhandeln« möglich wird. Unter Zuhilfenahme von Anthony Giddens' Strukturierungsbegriff und Pierre Bourdieus »Habitus« werden räumliche Strukturen untersucht, die sich durch die beiden Strukturprinzipien Klasse und Geschlecht in die Körperlichkeit einschreiben und repetitive Alltagsszenarien leiten. Auf die Dominanz sozialer Ungleichheit in ihrem räumlichen Ausdruck wird hingewiesen: »Die Prozesse des Spacing und der Syntheseleistung sind abhängig von den Ressourcen Reichtum, Wissen, Hierarchie und Assoziation«.

Neben dieser Primärarbeit gewinnt Löw jedoch in der weiteren Differenzierung Einblicke, die es ihr erlauben, die Entstehung von mehreren Räumen an einem Ort durch unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zu begreifen, ebenso wie das Phänomen eines »vernetzten Raumes«, der die Verknüpfung geografisch weit auseinander liegender Raumfragmente entweder technisch-medial oder in der Vorstellung der BenutzerInnen ermöglicht.

In abschließenden Fallstudien zu gegenkulturellen Schulräumen, geschlechtsspezifischen Räumen und städtischen Milieus wird die »Raumsoziologie« auf ihre Anwendbarkeit geprüft. Martina Löws Arbeit zeichnet sich durch hohen theoretischen »Gestaltungswillen« im Zusammendenken unterschiedlichster Vorläufer aus, aber eben auch in dem Vorschlag einer neuen Logik sozialer Raumkonstitution und Raumproduktion.