Heft 4/2002 - Netzteil


Der Ball ist rund

Die aufstrebende Medienkunstszene in Seoul

Gregor Jansen


»Be the Reds« lautete der Schlachtruf der Koreaner während der Fußballweltmeisterschaft in diesem Jahr, und es waren sicher die enthusiastischsten und friedlichsten Spiele, die der Westen je erlebt hat – erstaunlich für ein Land, in dem Baseball weitaus populärer als Fußball ist –, und das in der gemeinsamen Ausrichtung mit der alten Kolonialmacht Japan eine ebenso gespannte wie politisch relevante Annäherung erkennen ließ.
Das Leid jahrzehntelanger Unterdrückung und die historische Schuldfrage stellen ein offenes Thema in Korea dar, schließlich ruhen die Fundamente der japanischen Kultur doch in dieser Geschichte, hingegen ist Japan bei aller Kontaktsuche noch weit entfernt von einem allumfassenden Schuldzugeständnis. Die Probleme liegen somit außenpolitisch im Osten, innenpolitisch im nördlichen Landesteil offen auf der Hand, und die zahlreichen Proteste gegen die amerikanischen »Besatzer«, die Nordkorea in die
Achse des Bösen stellten, sind mitunter lautstark zu vernehmen. Auf den Straßen Seouls ist im Allgemeinen jedoch deutlich spürbar, wie offen, freundlich und neugierig diese Nation gegenüber dem Fremden eingestellt ist. Ein Grund mag in der erstaunlich geringen Ausländerquote von nur 4 % liegen, und in der Konversation, die genauso häufig auf Englisch wie auf Deutsch geführt werden kann, ergeben sich oft Parallelen mit Deutschland – der ehemaligen Teilung in West und Ost entspricht dort jene, immer noch aktuelle, in Nord und Süd. Aber die Grenzen weichen langsam auf, und fast täglich gib es erfreuliche Meldungen über neue Annäherungen.
Korea erlebte in den letzten Reformjahren nach dem Börsencrash und der Finanzkrise 1998 einen ökonomischen Boom, der auch Auswirkungen auf die kulturelle Landschaft hatte. Die Etablierung dreier Biennalen (Kwangju – nach längerer Pause –, Pusan und media_city Seoul)1 im internationalen Ausstellungsgeflecht bekräftigt zusammen mit den gewaltigen staatlichen wie privaten Investitionen das nationale Selbstwertgefühl und bestärkt viele KünstlerInnen darin, nach dem Studium im Westen wieder in ihre Heimat zurückzukehren, gleichwohl die Arbeits- und Ausstellungsbedingungen im dortigen Kunstsystem kaum mit westlichen Verhältnissen verglichen werden können. Mittlerweile studieren mehr Koreaner als z.B. Japaner an europäischen und insbesondere deutschen Universitäten und Kunstakademien, und die real erlebten politischen, sozio-kulturellen und künstlerischen Erfahrungen ziehen auch Auswirkungen auf die Strukturen im eigenen Land nach sich.
Die über 200 professionellen Kunstgalerien, die der Seoul Art Guide2 monatlich listet, zeigen die gängige figurativ-volksnahe oder abstrakt-konstruktive, zumeist akademische Kunst einer Nation, die den eigenen (modernen) Stil noch sucht. Mietgalerien wie in Japan bestimmen die Landschaft, in denen für eine nicht selten horrende Summe (je nach Renommee bis zu 2.000 Euro die Woche) der Raum gebucht wird – aber andererseits knapp 100 % des Verkaufspreises an den Aussteller fließen. Es gibt sehr wenige Galerien, die auf dem internationalen Markt mitmischen. Die Kukje Gallery3 ist seit Jahren auf der Art Basel vertreten und zeigte im Sommer Jeff Wall und Rachel Whiteread. Deren ehemalige künstlerische Leiterin Kyungmee Park hat mittlerweile zwei Ecken weiter ihre eigene Galerie pkm4 eröffnet und die bekannteste Künstlerin und zugleich wichtigste Repräsentantin des neuen koreanischen Selbstverständnisses, Lee Bul, gleich mitgenommen. Momentan zeigt sie neueste Designarbeiten von Jorge Pardo.
Als Non-Profit-Ableger eines prosperierenden Unternehmertums müssen das Art Center Nabi5, das Art Sonje Center6 und Ssamzie Space7 in Seoul genannt werden, in denen erfolgreich an der Kombination von lokaler Wertsetzung und globalen Visionen gearbeitet wird. In der Nähe der City Hall im vierten Stock des SK-Hochhauses gelegen, stellt Nabi seit zwei Jahren Medienkunst vor und aus. Neben den Ausstellungen werden auch Arbeiten produziert, Seminare und Symposien organisiert und nicht zuletzt KünstlerInnen Kontakte zu Firmen und technischer Support geboten. In dem zuletzt präsentierten Projekt »Watch Out« des Franzosen Maurice Benayoun geht es um die drahtlose Vernetzung. Und in einem internationalen Symposium wurden die Auswirkungen des Mobiltelefonzeitalters erörtert. Die Etablierung international funktionierender Netzwerke – mit TheoretikerInnen, KritikerInnen und KuratorInnen – wird von allen Instituten angestrebt, und entsprechende Aktivitäten garantieren dies auch. Daneben dominieren kurzzeitige Projekte wie jene in den Projekträumen des Art Sonje Centers, in dem zuletzt die junge Videokünstlerin Hyunmi Yoo ausstellte. Inhaltlich ist das von Sun-jung Kim geführte Haus auf die gesamte Ostasienregion inklusive Australien spezialisiert. Die aktuelle Hauptausstellung bediente mit dem Japaner Tatsuo Miyajima erfolgreich das – auf den in Korea allseits verehrten Nam June Paik zurückgehende – Medienkunstinteresse.
Der wohl einflussreichste Kunstraum der jungen Generation ist Ssamzie Space, ein seit zwei Jahren auf sieben Stockwerken angesiedeltes, engagiertes Multifokus-Laboratorium im angesagten Stadtteil rund um die Hong-ik-Universität im Westen Seouls. Es wurde aufgrund der allgemeinen finanziellen Notlage 1998 von der gleichnamigen Design- und Modefirma initiiert, die es seither auch finanziert. Hier wechseln einander sechs bis acht parallele Einzel- und Themenausstellungen auf drei Ebenen ab, die in erster Linie den einheimischen avantgardistischen KünstlerInnen ein Forum bieten. Wesentlich ist die Verknüpfung und Reflexion von Kunst und Leben bzw. Kunst und Öffentlichkeit, die in der Etablierung eines Diskursraumes der Pluralisierung des Kunstverständnisses Vorschub leisten möchte. Hierbei bilden Paarungen und Auseinandersetzungen von arrivierten und jüngeren KünstlerInnen den Schwerpunkt. Seit einem Jahr öffnet Direktorin Hong-hee Kim auch ausländischen KünstlerInnen die Türen. In den drei oberen Stockwerken leben bis zu 15 KünstlerInnen, die am Ende ihres bis zu zwölf Monaten dauernden Gastaufenthaltes eine Studioausstellung präsentieren und ein Werk der hauseigenen Sammlung zuführen. Ein Medientheater, Archiv, Clubräume und zahlreiche Veranstaltungen – bemerkenswert ist etwa der »Young Collectors Corner«, der sich um die Akquirierung neuer Sammlerschichten bemüht – sowie auch Performances und Musikkonzerte runden die wohl vielschichtigste und lebendigste Institution in Seoul ab.
Ein wichtiger Vertreter der jüngeren Medienkunst ist Suzung Kim8 (geboren 1967), der im Jahr 2000 eine virtuelle Ausstellung für das Art Center Nabi einrichtete. Die Arbeit basiert auf einem Gitternetz, wobei die über eine Maus geführte Interaktion permanent neue visuelle Attraktionen generiert. In seinen neuesten Arbeiten kombiniert er effektvoll architektonische Gebäudeelemente aus New York und Seoul, die als über Kopf projizierte Deckensymmetrien an die Himmelsausblicke zwischen den realen Hochhaustürmen erinnern. Einen Gegenpol dazu bilden die Gemälde von Sunny Kim (geboren 1966), die in den USA und Niederlanden studierte und seit fünf Jahren wieder in Seoul lebt. Mit ihren in monochromen Landschaften passiv verharrenden Schulmädchen in Uniformen schildert sie auf der abstrahierten Basis einer fotografischen Vorlage die Konflikte des Individuums, vor allem des weiblichen in der asiatischen Gesellschaft, auf eine stille, eindrucksvolle Weise. Die Uniform als Signum einer vor allem formal bestimmten Realität des Subjekts.
Die primären Vehikel für den Bedeutungstransport sind auch in der koreanischen Kunstszene im 21. Jahrhundert der Körper und die Medien. Dabei fällt auf, wie erzählerisch und meist klassisch-figurativ orientiert die junge Szene ihre Ausdrucksmöglichkeiten sucht. Da verschmelzen ganz unverkrampft, beinahe verspielt, eigenartige Motive der nationalen und westlichen Kunstgeschichte mit neuen Materialien und ungewöhnlichen Formen – das Resultat eines lustvollen Experimentierens und neugierigen Schielens auf die internationale Kunstwelt und den eingeschränkten heimischen Markt. Dazu muss festgehalten werden, dass Lee Bul aus formaler Sicht eine absolute Ausnahmeerscheinung darstellt. Die Jüngeren wissen aber ebenso wie Bul, dass NACH dem Spiel VOR dem Spiel ist: Der Ball ist global gesehen immer rund. Und die Begeisterung kennt keine Grenzen.