Heft 4/2002 - Netzteil


Grenzübergang Öffentlichkeit

Zu den Arbeiten der kroatischen Künstlerin Andreja Kuluncic

Matthias Dusini


Im Juni 2000 erregt ein Plakat im Zentrum Belgrads das Aufsehen der PassantInnen. An zehn der bestgelegenen Reklametafeln ist das Porträt einer ungestylten Frau zu sehen. Die kroatische Bildunterschrift lautete: »NAMA - 1908 Angestellte, 15 Kaufhäuser«, und es hängt neben den Porträts glücklicher Models - jenen, mit denen Parfüms und Kosmetikartikel verkauft werden sollen. Das Logo von »NAMA« ist in der 1974 von der International Typeface Corporation erneuerten Universal-Schrift Herbert Bayers gestaltet, die den Namen Bauhaus trägt.

Das Plakat ist eine Werbung, welche die Künstlerin Andreja Kuluncic für eine Pleite gegangene Kaufhauskette gestaltet hat. In den lokalen Medien löste sie eine Debatte über die sozialen Folgen des Übergangs des postkommunistischen Kroatiens zur freien Marktwirtschaft aus. »Die Angestellte auf dem Poster symbolisiert die individuellen und kollektiven Desaster im Gefolge der Veränderungen in der Wirtschaft Kroatiens«, schreibt die Kuratorin Natasa Ilic über Kuluncic's Arbeit (siehe den Text in der Beilage »Gazet'art« zu dieser Ausgabe). Schließlich handelt es sich bei NAMA um ein im jugoslawischen Kroatien überaus erfolgreiches staatliches Unternehmen. Der Name NAMA geht auf das Begriffspaar »NArodni MAgazin« hervor, was so viel heißt wie »Shop des Volkes«. Als der freie Markt an die Stelle des Staates trat und die KonsumentInnen an die Stelle des Volkes, geriet das Unternehmen in eine paradoxe Situation: Die Angestellten halten die Läden offen, obwohl der Betrieb pleite ist und alle Geschäftsaktivitäten eingestellt hat. In den sechs Monaten, bevor Kuluncic's Poster in der Stadt zu sehen war, gingen die Angestellten jeden Tag in ihre Filiale: Eine Art stiller Aufschrei, der die Regierung an ihre Verantwortung erinnern sollte. »Sie warteten acht Stunden vor leeren Regalen auf eine Entscheidung: Würde das Unternehmen verkauft werden oder würde die Regierungen die Schulden begleichen«, sagt Kuluncic. »Mir schien das Poster das beste Medium zu sein, um einen öffentlichen Dialog über das Thema des ökonomischen Übergangs zu entwickeln. Zuerst habe ich allerdings das Thema ausgewählt und erst dann das Medium, mit dem ich mein Thema am besten transportieren kann.« Und da heißt es, die Botschaft auf klare Weise zu vermitteln: »Der Passant hat maximal zwei Minuten Zeit, um das Thema zu erfassen, wenn überhaupt.«

Ähnlich prägnant waren die »City Light«-Poster, die Kuluncic heuer auf der Manifesta 4 an verschiedenen Orten Frankfurts platzierte. Es waren Porträts von zehn teilnehmenden KünstlerInnen. Der Bildtext verwies auf das Herkunftsland, das dortige durchschnittliche Jahreseinkommen und das jeweilige Jahreseinkommen des/der abgebildeten, anonym bleibenden Künstlers/Künstlerin. Mit diesen statistischen Minimalinformationen skizzierte die Künstlerin lokale Unterschiede im Verhältnis zwischen Kunst und Ökonomie. Auch im Projekt »City Walks« griff die Absolventin der Fakultät für angewandte Kunst und Design auf konventionelle Kommunikationsmöglichkeiten im öffentlichen Raum zurück. In der kroatischen Küstenstadt Zadar führte sie Interviews mit EinwohnerInnen und ließ die Resultate in einen Info-Folder einfließen, wie er für gewöhnlich TouristInnen ausgehändigt wird. Auf diese Weise entwarf sie ein den TouristInnen unsichtbares Bild der Stadt.

Bei zwei weiteren Projekten mit den Namen »Embryo« und »Distributive Justice« bedurfte es komplexerer Rahmenbedingungen, um die von ihr angestrebte Interaktion mit dem Publikum zu gewährleisten. Im Internet, in einer Galerie, in Form von Publikumsdiskussionen und durch die Zusammenarbeit mit WissenschaftlerInnen, AktivistInnen und StudentInnen sollten die Themen Genforschung und Verteilungsgerechtigkeit Schritt für Schritt erarbeitet werden. »Diese Arbeitsweise erfordert größere finanzielle Möglichkeiten, mehr Energie, Zeit und Einfallsreichtum, um das Projekt voranzubringen.« Diese Art von Gruppenarbeit kann sich über Jahre erstrecken. »Die Projekte würden ohne eine aktive Beteiligung der Interessierten nicht existieren.«

Das bei der Biennale junger Kunst in Turin, der Documenta11 und kürzlich bei der Ausstellung »Plus Ultra«1 in Innsbruck vorgestellte Projekt »Distributive Justice«2, in dem es um Frage der Verteilung öffentlicher Güter und Dienstleistungen geht, bietet mehrere Einstiegsmöglichkeiten. Zum einen war da einmal eine Art Computerinstallation: Eine kreisförmige Sitzgruppe um einen Tisch mit Bildschirmen. Die BesucherInnen können dort zum einen abrufen, was Kuluncic zum Thema Verteilungsgerechtigkeit gesammelt hat: einen Überblick über Gerechtigkeitstheorien von John Rawls oder Ronald Dworkin bis hin zu Amartya K. Sen. Kurze Filme enthalten Interviews mit ungenannt bleibenden Intellektuellen. In einer Art Simulationsspiel verteilen die TeilnehmerInnen nach Belieben materielle und nicht-materielle Güter und bauen damit eine sich dynamisch verändernde »Gesellschaft« auf. Unter den Begriffen »Geld«, »Freiheit« oder »Öffentlicher Dienst« kann man eine Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen zusammenbasteln. Die Optionen reichen von »Gesundheitsversorgung nur für Eigenverdiener« bis zu »Gesundheitsdienste für alle«. Am Ende des Spiels werden verschiedene typische Gesellschaftsformen erkennbar.

Offline können die BesucherInnen an Umfragen teilnehmen oder Video- und Audiokassetten aufnehmen. Von Ausstellung zu Ausstellung verändert und entwickelt sich dieses Material. Die Beteiligung vieler verschiedener Länder führt dazu, dass jedes Land seine Spuren in der Arbeit hinterlässt, die dann Bestandteil der Ausstellung werden. Die tatsächlichen und potenziellen TeilnehmerInnen erhalten so einen eigenen virtuellen Raum zum Informations- und Meinungsaustausch (Mailing-Liste, Forum, Chat), zum Aufbau von Datenbanken usw. Auf diese Weise wird aus dem Projekt nach und nach ein dauerhaftes offenes Forum. Aus einem Kunstprojekt könnte so eine Infrastruktur für einen universitären oder zivilgesellschaftlichen Gebrauch entstehen.

Kuluncic lebt und arbeitet in Zagreb. »Nach der wirklich schwierigen Periode von Anfang bis Mitte der Neunziger ist es leichter geworden, in Kroatien Kunst zu machen.« Leicht sei es zwar immer noch nicht, aber es gäbe eine positive Energie und eine Reihe neuer Initiativen, die von starken Einzelpersonen mit viel Enthusiasmus und einigen Kunstgruppen und Institutionen ausgehen. »Kunst ist in Kroatien dennoch vom Staat abhängig. Es gibt kein Galeriennetzwerk und keine private Kunstsammler. Die Ankäufe durch Institutionen sind minimal, auch gibt es niemanden, der uns im Ausland kommerziell vertritt. In diesem Sinne steht jeder von uns, wenn es darum geht, seine Existenz und neue Projekte zu finanzieren, am Anfang.« Viele KünstlerInnen würden daher mit dem ersten Erfolg das Land verlassen, und wer das nicht macht, landet immer in der alternativen Kunstszene – unabhängig von der Qualität oder Komplexität seines/ ihres Werks. »Ich finde interessant, dass viele meiner Kollegen aus dem Westen davon sprechen, wie unabhängig unsere Arbeiten und unsere Art zu denken dadurch sind. Ich weiß nicht, ob das stimmt, weil sich nur mutmaßen lässt, wie dies unter anderen Umständen funktionieren würde. Nur so ließe sich abschätzen, was mehr Energie erfordert.«

 

 

http://www.andreja.org

1 Kunstraum Innsbruck, 12. Oktober bis 21. Dezember 2002
2 http://www.distributive-justice.com