Heft 4/2002 - Artscribe


8. Baltische Triennale für Gegenwartskunst: Centre of Attraction

14. September 2002 bis 10. November 2002
Contemporary Art Center CAC / Vilnius

Text: Brigitte Huck


Wer hätte gedacht, dass der geografische Mittelpunkt Europas weit im Osten liegt, in der Nähe der litauischen Hauptstadt Vilnius. Diesem verblüffenden Umstand verdankt der gewitzte Kurator der 8. Baltischen Triennale, Tobias Berger, Titel, Thema und Methode seiner Ausstellung. »Centre of Attraction« befasst sich mit dem Sex-Appeal des Phänomens Zentrum, aber auch mit klassischeren Aspekten wie Dichte und Leere, Chaos und Struktur, Macht und Kontrolle.

Als überzeugter Biennalen-Fan verteidigt Berger das heiß diskutierte Format aus mehreren pragmatischen und strukturellen Gründen: Schließlich generiere es Zentren, wo ursprünglich keine waren, und damit Aufmerksamkeit, wo Wahrnehmungsdefizite herrschen. Seit 1979 gibt es »The Baltic Triennial of Young Contemporary Art«, und sie bot zu Zeiten der sowjetischen Okkupation die einzige Möglichkeit, aufzuzeigen. Seit der Unabhängigkeit Litauens im Jahr 1990 findet die Show im schwerelosen White Cube des Contemporary Art Center in Vilnius statt, einer der größten und einflussreichsten Kunstinstitutionen Osteuropas. Dort, wo man dem größten litauischen Künstler, George Maciunas, ein berührendes Devotionalienkabinett eingerichtet hat, trat Tobias Berger, Fluxus-Spezialist aus Kassel, mit dem ehrgeizigen Masterplan an, die baltische Liga mit den Center Courts der Kunstwelt zu vernetzen.

Die Recherchen verliefen in konzentrischen Kreisen (!), vom Nukleus Litauen ausgehend, über Skandinavien, Polen und Weißrussland nach Westeuropa, und weiter bis Japan, Neuseeland und die Vereinigten Staaten. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Eine Show von hoher Visualität und spürbarem Enthusiasmus für jede einzelne Arbeit, spannend choreografiert und voller Überraschungen. Ein federleichter Parcours durch klassische Museumsräume im CAC und eine abgeschrammte Druckerei, wo einst die »Prawda« über die Rotationsmaschinen ging, machte deutlich, dass »Ostkunst« als Genre nicht mehr existiert. Bergers Modell war erfreulich undoktrinär und ersparte dem Besucher die momentan stark angesagten, tiefschürfenden Erläuterungen zur kuratorischen Meinungsbildung, selbstbezügliche Belehrungen aller Art sowie partizipatorische Zwangsverpflichtungen.

Am Wort waren 60 KünstlerInnen, von denen einige situationsspezifische Arbeiten vorstellten: Christian Jankowski hatte den litauischen Präsidenten Adamkus zu Kunst und Politik befragt und die Antworten mit Verfolger-Scheinwerfern aus dem Weltausstellungsfundus des Landes im großen Saals des CAC projiziert.

Auch die Videoarbeit von Audrius Novickas im Eingang drehte sich um den - mittlerweile von den Wählern stark gebeutelten - Präsidenten, der mit seinen Gästen, von Chirac bis Schröder, durch die Innenstadt zieht, immer denselben Weg, immer dieselbe Routine, die Europäische Union immer im Auge. Schräg darunter setzte sich die Präsidentenachse mit Sarah Morris' Film »Capital« fort: Clintons Helikopterlandung in Washington, wohlbekannt - und fabelhaft.

Im Oberlichtsaal hatten die Schweizer Kühne/Klein eine Stadtlandschaft aus Cut-Outs von Reiseprospekten aufgebaut, Mark Lombardi zeichnete Netzwerke, die den Kollaps einer Investment Bank nachvollzogen, Platzhirsch Deimantas Narkevicius chauffierte in 8 Minuten zum Mittelpunkt Europas, der unterwegs von einem geografischen Ort zur ideologischen Konstruktion wird. Katarzyna Józefowicz hat ihre manisch dichten »City«-Skulpturen gestapelt, und Monica Bonvicini »Stone Walls 2« in den Hof gestellt, ein Stahlgerüst mit zerbrochener Glasscheibe, als Referenz an New Yorker Polizeiattacken in den 60ern.

Im dunklen Erdgeschoß der Druckerei gab's Video: Eglé Rakauskaité ließ die Morgenröte über dem litauischen Markt Gariunal aufgehen, Asta Gröting beobachtete lakonisch den täglichen Nahkampf um Parkplätze und Ilppo Pohjola verwöhnte mit einer Hommage an Virilio und die Geschwindigkeit, im Timbre früher Experimentalfilme. Sylvie Fleury nahm die Formel 1 als letzte Männerbastion im Sport auf die leichte Schulter, und Nathalie Melikian, aus dem kulturellen Schmelztopf Kanada, brach das Genre Actionfilm auf intertextueller Ebene um.

Zu beobachten war ein »sculptural turn« ins Dreidimensionale. Zwischen Thomas Bayrles Flechtwerk zum Thema Produktion/Distribution und Marjetica Potrc' Rekonstruktion einer Slum-Hütte platzierte sich der Nachwuchs Björn Dahlem und Réne Zeh mit grandios konstruierten Trasharrangements. Performatives mit Witz, Ironie und ein wenig Hardcore kam von der sibirischen Bluenose-Truppe und der polnischen Boys Group Azorro, Sozialintervention von Pawel Althamer. Francis Alÿs dachte an Diogenes und Santiago Sierra an urbanen Stress, in Martha Colburns Höhle saß der Teufel und Vadim Fishkin fragte sich, wer denn die Engel wären. Konzeptuelles in Fotografie und Plakat von Sean Snyder und Jakob Kolding kontrapunktierten üppige Malerei-Installationen (Ieva Mediodia) und Computersimulationen (Rieko Akatsuka). Franz Ackermann hat einen Bauzaun bemalt, Peter Robinson seinen Identitätsbasar »The End of the 20th Century« mitgebracht, Lukasz Gorczyca sammelte Postkarten von Plattenbauten und Vladimir Arkhipov folkloristische Gebrauchsgegenstände aus Russland.

Aus der Ferne erklang Ennio Morricones betörendes »Once upon a Time in the West«. Sala Tykkäs Dreamboy schwang sein Lasso, und einem schüchternen Teenager schlug das Herz bis zum Hals: Alles war gut.