Heft 3/2003 - Reality Art


Dokumentation als künstlerische Praxis

Über journalistisches und ethnografisches Arbeiten im Kunstbereich

Jan Verwoert


Welchen Unterschied macht es, wenn ein Dokumentarfilm im Kunstraum läuft und nicht im Kino? Welchen Gewinn verspricht der Kontextwechsel? Ist die offene Form der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Problemen dokumentarischen Arbeitens im Kunstkontext anders und vielleicht sogar produktiver als der institutionalisierte Diskurs über die Funktion des Dokumentarischen in den Disziplinen des Journalismus, den Film- und Kulturwissenschaften, der Ethnografie und Anthropologie? Ist das derzeitige Interesse für Dokumentation nur ein Trend oder das Ergebnis eines längeren Prozesses der Suche nach angemessenen künstlerischen Mitteln zur Darstellung sozialer Inhalte?

Nach den Nachrichten

Die aktuelle Ausstellung »Després de la Notícia – Documentals Postmèdia/After the News – Post-Media Documentary Practices« des CCCB in Barcelona 1 sucht nach Antworten auf diese Frage nach dem Spezifikum künstlerischer Praktiken der Dokumentation. Im programmatischen Text zur Ausstellung stellt Kurator Carles Guerra zwei Thesen auf. Zunächst definiert er künstlerische Dokumentationspraktiken in Opposition zum Journalismus: Die Maschinerie der Nachrichtenproduktion reduziere längerfristige politische Entwicklungen auf ihren tagesaktuellen Nachrichtenwert, ihren Ereignischarakter und ihre Bildfähigkeit. Die Massenmedien brauchen Stories und Ikonen. Alternative Ansätze dagegen, so Guerra, nehmen sich die Zeit, Hintergründe zu erschließen, Stereotypen zu kritisieren und komplexere Darstellungsmöglichkeiten auszutesten. Darüber hinaus vertritt Guerra die These, dass diese alternativen Praktiken der Dokumentation eine neue Öffentlichkeit in Form eines radikal interdisziplinären »postmedialen« Diskurses herstellen. Guerra scheint hier das Ideal eines demokratischen Diskurses vorzuschweben, in dem die Bedeutung eines Beitrags stets Gegenstand einer offenen Debatte ist, weil sie nicht durch die Autorität einer Disziplin oder eines Mediums im voraus festgeschrieben wird.

Das eingängigste Beispiel für einen Journalismus-kritischen Ansatz liefert in der Ausstellung die Videoreihe »Ramallah Daily« (2003) von Article Z. Die Gruppe drehte während des Irak-Kriegs von März bis April täglich eine dreiminütige Dokumentation über das Leben in Ramallah, die noch am selben Abend von Channel 4 zur Hauptsendezeit ausgestrahlt wurde. Ihre Qualität erhält diese Dokumentation dadurch, dass man beim Ansehen der Aufnahmen von den alltäglichen Konflikten in Palästina unweigerlich zugleich die spektakulären Bilder von der Bombardierung Bagdads vor Augen hat. Durch die Suggestion dieser Gleichzeitigkeit von Ereignis und Alltäglichkeit machen Article Z genau das bewusst, was eine ereigniszentrierte journalistische Berichterstattung ausblenden muss: die Verbindung zwischen der dramatischen Eskalation einer Krise und den schwelenden Konflikten im gesamten Krisengebiet. Article Z arbeiten so zwar nicht mit genuin künstlerischen Mitteln. Sie erzielen jedoch durch die strategische Platzierung ihrer Information einen Effekt, den eine klassische Form der Hintergrundberichterstattung nur mit weitaus größerem Aufwand hätte produzieren können.

Unter künstlerischen Gesichtspunkten sind eher die Arbeiten von Asier Mendizábal interessant: In einer unbetitelten Fotoserie (2002/03) hält dieser die Vorbereitungen zu den Aste Nagusia Feiern in Bilbao fest. Man sieht Einheimische nachts in Lagerhallen bei der Arbeit an Umzugs-Wagen. Das gemeinsam mit Iñaki Garmendia gedrehte Video »Goierri Konpeti« (2002) zeigt Jugendliche, die vor einem Autorennen konspirativ an ihren Autos basteln. Die Information, dass es sich um Bilder aus dem Baskenland handelt, lässt diese sozialen Rituale in einem anderen Licht erscheinen. Der Verdacht, es könne sich um ETA-Aktivitäten handeln, bestimmt den Blick auf alles Dargestellte. Ein Phänomen, das offenbar die Berichterstattung der spanischen Medien über Geschehnisse im Baskenland seit jeher prägt. Dass Mendizábal diese Reflexion von Sehgewohnheiten gelingt, beruht letztlich darauf, dass im Kunstkontext das Spiel mit der Skepsis gegenüber den Ambivalenzen visueller Darstellung (seit Magrittes Pfeife) als Methode etabliert und als Pointe nochvollziehbar ist. Im Kinokontext wäre die Dokumentation des Autorennens wohl einfach als Amateurfilm durchgefallen.

Dass Guerras These von der »postmedialen« Verfasstheit eines progressiven Diskurses über dokumentarische Praxis stichhaltig ist, belegt der Gang durch die Ausstellung. Sie zeigt Dokumentationen in höchst unterschiedlichen Formaten. Dennoch ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild. Der gemeinsame Nenner, auf den die verschiedenen Ansätze gebracht werden, ist der Vergleich ihrer Methode: Die Frage »Welche Art von Kritik beinhaltet diese Form dokumentarischer Darstellung?« wird zur Grundlage eines Vergleichs zwischen einer Fotoserie des Bildjournalisten Stanley Greene über die Kursk-Tragödie, einer essayistischen Video-Installation von Ursula Biemann und Angela Sanders über die spanische Exklave Ceuta in Marokko, einem Film von Alan Berliner über die Geschichte seiner jüdischen Vorfahren, Texten des Weblogs Salam Pax über das Leben in Bagdad während des Kriegs und den fiktionalen Historienromanen von W. G. Sebald. Die Pointe dieses Vergleichs ließe sich in etwa so zusammenfassen: Zur Zeit entwerten die Mainstream-Medien dokumentarische Bilder durch ihre massenhafte Verbreitung. Die Kritik dieser Entwicklung formuliert sich auf einer ähnlich breiten Front als Diziplinen-übergreifender Diskurs. Begründet wird dieser »postmediale« Diskurs somit dadurch, dass die Arbeit von ProduzentInnen in diversen Genres dokumentarischer Praxis durch dieselbe repräsentationskritische Sensibilität motiviert wird.

Von der essayistischen Installation zum Film

Abseits von den Thesen der Ausstellung »After The News« ließe sich nun noch einmal allgemeiner nach einer Herleitung der aktuellen Bedeutung des Dokumentarischen in der Kunst fragen. Dabei scheint es sinnvoll, eine Kontinuität zwischen Praktiken der Dokumentation im Medium der Installation und im Medium Video oder Film anzunehmen. 2 In der aktuellen Debatte über die Darstellbarkeit sozialer Realität in der Kunst werden zwar überwiegend Videoarbeiten diskutiert. Die Grundlagen für diese Debatte wurden jedoch in den achtziger Jahren durch Positionen im Bereich der Installation gelegt. 3 Wichtige Bezugspunkte sind hier sicherlich Installationen wie Group Materials »Democracy« (1988/89) oder Martha Roslers »Home Front« (1989). Die methodische Frage, die diese Arbeiten damals aufwarfen, hat auch weiterhin zentrale Bedeutung für die Diskussion aktueller Videoarbeiten: Wenn eine künstlerische Arbeit auf soziologischer Recherche aufbaut, wie lassen sich die Ergebnisse dieser Recherche dann angemessen dokumentieren und einem Publikum vermitteln? Rosler und Group Material erarbeiteten eine Methode der assoziativen Inszenierung dokumentarischen Materials im Installationsraum, die verschiedene KünstlerInnen in den neunziger Jahren konsequent weiterentwickelten. 4

Ein aktuelles Beispiel für diesen Ansatz liefert das Projekt »Narsarssuaq/Nuuk« (2002) des Künstlers Mike Bode und des Kulturwissenschaftlers Staffan Schmidt. Sie nutzen das Format der Installation zur Präsentation einer Fallstudie zur postkolonialen Situation Grönlands. Schmidt und Bode dokumentieren die Lebensbedingungen im Sozialwohnungs-Komplex Narsarssuaq in Nuuk und rekonstruieren die Geschichte des sozialen Wohnbaus, der im Zuge der Entkolonialisierung von Dänemark (von den fünfziger bis in die siebziger Jahre) vorangetrieben wurde. Das recherchierte Material ist in der Installation in offenen Konstellationen im Raum angeordnet wie ein Netzwerk aus diskursiven Querverweisen: Präsentiert werden historische Texte, in denen dänische Stadtplaner ihre Entwürfe für Nuuk begründen, Dias mit Außen- und Innenansichten von Narsarssuaq, ein Video mit Interviewstatements von BewohnerInnen und Texttafeln mit Thesen zur globalen Verbreitung standardisierter Wohnformen. Eine Wertung vermittelt die Arbeit nicht. Sie hält in der Schwebe, ob es sich bei dem Wohnungsbau für die Inuit um eine Errungenschaft des modernen Wohlfahrtsstaats oder um eine Fortsetzung der Kolonialisierung mit anderen Mitteln handelt. So ist man als BetrachterIn aufgefordert, eigene Verbindungen zwischen den Materialien herzustellen und die historischen Ambivalenzen persönlich nachzuvollziehen. Die Installation erschließt ihr Thema somit nicht in Form einer Argumentation, sondern vermittelt es vielmehr als Erfahrung.

Genau diese Methode definiert wiederum Adorno als Charakteristikum des Essays. [5 ] Der Essay setzt dem linear fortschreitenden objektivierenden Denken der Wissenschaft eine andere Form der Erkenntnis entgegen, die auf der Erfassung assoziativ angeordneter Aussagen im Vollzug persönlicher Erfahrung beruht. In diesem Sinne ließe sich das beschriebene Modell des installativen Displays von dokumentarischem Material als »essayistische Installation« bezeichnen. Das Anliegen essayistischer Dokumentationen wäre also, ein nötiges Maß an formaler Kohärenz herzustellen, um Inhalte erfahrbar zu machen, ohne dabei die Komplexität des Gegenstandes durch die Form der Darstellung zu reduzieren.

Warum sollte nun gerade im Medium Video und Film eine Fortführung dieser Bemühungen um maximale Heterogenität in der Dokumentation möglich sein? Die wesentliche Eigenschaft dieser Medien ist doch gerade, dass sie ihr Material einheitlich in Sequenzen anordnen und so einem konventionellen Modell linearer Erzählung entsprechen. Sicherlich sind viele der im Kunstkontext gezeigten Videos dafür zur kritisieren, dass sie diese sequenzielle Erzählform unhinterfragt übernehmen. Die Arbeit des litauischen Künstlers Deimantas Narkevicius zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass er die Form filmischer Darstellung selbst der Kritik unterzieht. Seine Filme arbeiten meist mit stark disjunktiver Montage von Bild und Ton und erzeugen so erhebliche Spannung dadurch, dass es der Vorstellungskraft der BetrachterInnen überlassen bleibt, die Verbindung zwischen dem, was gezeigt und was gesagt wird, herzustellen. Als Inspirationsquelle nennt Narkevicius die Nachrichtensendungen in den frühen Tagen des litauischen Fernsehens, wo frisch gedrehtes Material oft nur grob kommentiert ausgestrahlt wurde und so höchst anarchische Bild-Text-Kombinationen zustande kamen.

Ein mögliches Beispiel für Narkevicius` Methode ist der Ende 2002 im Kunstverein München uraufgeführte 16mm-Film »Kaimietis«. Den Film eröffnet ein kurzer Establishing Shot von Vilnius. Es folgt die Nahaufnahme der Bronzebüste eines Mannes im sowjetisch-sozialrealistischen Stil. Im Kommentar ertönt die Stimme des Bildhauers. Bewegt erzählt er die Geschichte des Partisanen Jonas Zemaitis Vytautas, der bis zu seinem Tod 1949 gegen die russischen Besatzer kämpfte, um daraufhin ebenso dramatisch zu berichten, wie er vom Staat den Auftrag erhielt, ein Denkmal für Vytautas zu gestalten und nur mit Mühe zu einem Ergebnis kam. Im Bild sieht man inzwischen ein akademisch gezeichnetes Porträt des Bildhauers, dessen Lippen tricktechnisch animiert sind. Er klagt über das Fehlen jeder Aufarbeitung der Vergangenheit oder Perspektive für die Zukunft unter dem Druck der aktuellen Konversion zur Marktwirtschaft. Die folgende Sequenz zeigt ein Interview mit einer jungen Litauerin, die in Amsterdam lebt und bekennt, dass sie sich allein aufgrund ihrer Sprache mit ihrer Herkunft identifiziert, da sie ihre persönlichen Erinnerung nur in litauisch artikulieren kann. Im Bild sieht man daraufhin gleitende Schwenks über leere Hinterhöfe in Vilnius, während auf der Tonspur eine Passage aus Wagners »Lohengrin« zu einem donnernden Crescendo anschwillt.

Zum Ausgangspunkt des Films nimmt Narkevicius die völlige Absurdität eines für das neue Litauen im alten Sowjetstil hergestellten Partisanen-Denkmals. Daraufhin konfrontiert er das rhetorische Pathos von Denkmal, Künstlermonolog und Wagnermusik unvermittelt mit einem privaten Diskurs aus persönlicher Erinnerung und Zweifel. Die Frage nach der politischen Situation und historischen Identität Litauens beantwortet er also nicht durch dokumentarische Abbildungen, sondern indem er die Krise aller möglichen Darstellungsformen inszeniert. Der pathetische Diskurs entlarvt sich selbst als historisches Relikt. Die private Rede erkennt die Realitäten zwar an, kann aber keine richtungweisende Aussage über sie machen. Was bleibt, ist das Gefühl, dass die entscheidende Vermittlung zwischen den Formen kollektiver und individueller Repräsentation zur Zeit nur in einer negativen Dialektik geleistet werden kann – und zwar durch einen präzise formulierten Verweis auf das Fehlen ebendieser historisch vermittelnden Instanz.

In Bezug auf die amerikanische Geschichte argumentiert Paul Arthur, dass die Entwicklung dokumentarischer Ästhetiken durch gesellschaftliche Krisen forciert wird. 6 Als Beispiel nennt er die Politisierung des Dokumentarfilms in den dreißiger Jahren im Rahmen des liberalen New-Deal-Programms gegen das Wuchern der Marktwirtschaft – und die Entstehung des Direct Cinema im Kontext der Unruhen der sechziger Jahre. Überträgt man diese These auf die momentane europäische Situation, so lässt sich die verstärkte Diskussion dokumentarischer Praktiken im Kunstkontext auf die Krise der Repräsentation zurückführen, auf die Narkevicius in seiner Arbeit hinweist: Die geschichtliche Abschaffung eines gesamten Vokabulars historischer Darstellung durch das Ende der Sowjetunion – und die Flut von privaten Homevideos und Reality-TV-Formaten, die in diese Leere einbricht. Interessant scheinen momentan deshalb genau die dokumentarischen Praktiken zu sein, die sich den Widersprüchen aussetzen, die diese Krise produziert: indem sie sich durch indexikalische Bilder einer Realität vergewissern, deren Darstellbarkeit sie zugleich durch eine methodische Skepsis infrage stellen.

 

 

[1] 23. Juli bis 2. November 2003.
[2] Diese These übernehme ich mit Dank von Georg Schöllhammer aus einer Diskussion im Hamburger Kunstverein im Sommer 2002.
[3] Eine präzise Studie dieser Grundlagen liefert Nina Möntmann: Kunst als sozialer Raum, Köln 2002.
[4] KünstlerInnen wie Renée Green, Dorit Margreiter oder Sean Snyder erweiterten diese Methode auf je eigene Weise.
[5] Theodor W. Adorno: Der Essay als Form, in: ders.: Philosophie und Gesellschaft, Stuttgart 1984, S.5-32. Vielen Dank an Søren Grammel für den Hinweis.
[6] Paul Arthur: Jargons of Authenticity (Three American Moments). In: Michael Renov (Hg.): Theorizing Documentary, New York/London, 1993, S.108-134.