Heft 3/2003 - Lektüre



Martin Greve:

Die Musik der imaginären Türkei

Musik und Musikkultur im Kontext der Migration aus der Türkei in Deutschland

Stuttgart (J. B. Metzler) 2003 , S. 77

Text: Dietrich Heißenbüttel


Geschichten zu schreiben statt Geschichte: So lautet eine Forderung, seit Jean-François Lyotard das Ende der großen Erzählungen ausgerufen hat. Was dies im besten Falle bedeutet, zeigt Martin Greves Buch über die Musik in Deutschland lebender TürkInnen. Zum einen nämlich hat Greve statt einer trockenen wissenschaftlichen Abhandlung ein durchwegs lesbares, ja spannendes Werk verfasst, welches eigene Erlebnisse bei seinen Feldforschungen in türkischen Hochzeitssalons und Diskotheken ebenso wenig ausspart wie die unterschiedlichen Erfahrungen seiner InformantInnen. Schritt für Schritt macht uns Greve bekannt mit der Geschichte der Migration aus der Türkei nach Mitteleuropa, mit Orten und Organisationsformen des türkischen Musiklebens, verschiedenen Formen populärer Musik bzw. Kunstmusik östlicher und westlicher Prägung, um in einem abschließenden Kapitel auf deutsch-türkische Interaktionen und hybride Formen zu sprechen zu kommen. Zum anderen wird Greve, indem er individuellen Erfahrungen und ungewöhnlichen Biografien Raum lässt, auch aus wissenschaftlicher Sicht der Komplexität des Themas weit eher gerecht als so manche Arbeit, die ihre Befunde über den Kamm einer einheitlichen Theorie schert.
Da gibt es die Familie Zildjian, die in der Türkei bereits seit dem 15. Jahrhundert, im 19. dann in Europa und, seit 1908 in den USA ansässig, heute schließlich weltweit zu den führenden Beckenherstellern zählt. Da berichtet die Münchner Pianistin Aylin Aykan, sie sei nach Erzählungen ihrer Großmutter Ururenkelin des deutsch-jüdischen Abenteurers Emin Pascha, der im Dienste der Osmanen in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Sudan Kolonialgeschichte schrieb. Es gibt aber auch eine Tradition europäisch-klassischer Musik in der Türkei, die um 1830 mit dem älteren Bruder Gaetano Donizettis beginnt und durch die Bemühungen Paul Hindemiths, der in den dreißiger Jahren die nationale Musik- und Schauspielakademie und das staatliche Konservatorium auf den Weg brachte, feste institutionelle Formen angenommen hat.
Solche Begebenheiten zeigen, dass die Geschichte der Beziehungen zwischen der Türkei und Mitteleuropa nicht erst mit der Arbeitsmigration der sechziger Jahre anfängt. Die Berufung Hindemiths illustriert ferner, welche Konflikte sich mit dem Problem türkischer Identität verbinden. Denn während Kemal Atatürk westliche Kunstmusik förderte, unterdrückte er die osmanische Hofmusik. Während er die Aktivitäten des Sufi-Ordens der Mevlevi unterband, welcher in der Musikgeschichte des Landes eine zentrale Rolle spielt, förderte er Volksmusik als nationale Kunstform. Letztere bildet in der Regel wiederum die Grundlage musikalischer Betätigungen der MigrantInnen, die all ihre Sehnsüchte nach dem Land der Herkunft in ihre Musik projizieren. Freilich definieren verschiedene Landsmannschaften, Aleviten oder Kurden ihre Identität jeweils anders und mit der Dauer der Abwesenheit wandelt sich das Bild der imaginierten Türkei.
Der Bogen spannt sich von den frühen, sozialkritischen Gastarbeiterliedern über die stereotype Arabesk-Mode der siebziger Jahre bis hin zur heutigen Pop Müzik. Mit türkischem HipHop feierte 1995 erstmals eine Musik von MigrantInnen zweiter und dritter Generation aus Berlin im Mutterland Erfolge. Die Regel bleibt freilich eine Fixierung auf die »eigene« Kultur, die zu definieren indes schwerer fällt als vermutet. Seit Edward Saids Epoche machendem Werk wehren sich bekanntlich OrientalInnen, als reine Negativ-Schablone zum westlichen Selbstverständnis herhalten zu müssen. Doch umgekehrt spielen türkische MusikerInnen verdächtig oft selbst mit Orient-Klischees, wie etwa die Gruppennamen Orient Express, Urban Turban oder die Bezeichnung Oriental HipHop verraten.
Den einzigen Ausweg aus dem Dilemma bietet eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den sehr unterschiedlichen musikalischen Systemen: Eine gegenseitige Lernbereitschaft, von der beide Seiten nur profitieren können, sieht Greve aufgrund neuester musikalischer Entwicklungen und dank jüngster Veranstaltungen deutsch-türkischer Kulturvereinigungen bereits heranwachsen. Greves exzellentes, mit Glossar, Diskografie und Musikerverzeichnis ausgestattetes Buch kann eine solche längst fällige Entwicklung nur weiter fördern.