Heft 3/2005 - Netzteil


Favela Funkeiros

Zum weltweit erwachten Interesse am Phänomen Baile Funk

Petra Erdmann


Baile Funk, Rio Funk oder Cacota Funk. So heißt eine der (Wieder-)Entdeckungen auf den wichtigsten europäischen Elektronikfestivals und CD-Kompilationen der letzten Zeit. Die räudig produzierte Mischung aus Miami Bass, Old School HipHop der achtziger Jahre und portugiesischem Rap ist der Sound der Favelas von Rio De Janeiro. Ein lokales Genre, das rund zwanzig Jahre vollkommen isoliert außerhalb des (inter-)nationalen Aufmerksamkeitsradius existierte. Benannt ist der Funk der Armen nach den »bailes«, den Partys unter freiem Himmel, auf denen er aus hauswandhohen Lautsprechern wummert.
Baile Funk hat sich mittlerweile in Brasilien zur größten Jugendkulturbewegung ausgewachsen und den Samba als typischen Rio-Soundtrack abgelöst. An nur einem Wochenende finden in Rio um die fünfhundert Funkpartys statt, die in ihrer Größe variieren. Vom nachbarschaftlichen Hinterhoffest bis zum Rave-artigen Megaevent mit Feuerwerk und mit bis zu 10.000 Tanzenden.
Einer der wichtigsten Vertreter des Genres ist der seit rund 25 Jahren aktive DJ Marlboro. Auf den Listen der Booker von amerikanischen und europäischen Elektronik-Happenings wie Sonar rangiert er als exotischer Stammgast weit oben. DJ Marlboro ist Mitte vierzig, hostet eine der meist gehörten Radioshows in Brasilien. Der Volksheld ist ein unermüdlicher Promoter und eine Art Vaterfigur seiner Szene. 1989 hat DJ Marlboro die LP »Funk Brasil« mit ausschließlich portugiesischen Raps aufgenommen, mit dem Resultat, dass von Mitte der neunziger Jahre an die örtlichen Soundsystems zur Gänze mit eigens produziertem Funk bespielt wurden.
In einer globalisierten Clubszene machen sich »Favela Chic« – mittlerweile auch der Name eines Pariser Clubs – und »Ghetto-Realness« breit. Der deutsche DJ und Musikjournalist Daniel Haaksman ortet die Begeisterung für Baile Funk außerhalb Brasiliens in einer seit etwa fünf Jahren anhaltenden Krise der westlichen elektronischen Tanzmusik, »illustriert zum Beispiel durch den notorischen Hang zum Nostalgischen, sei es in Referenzen an Disco, Eighties-Wave oder Siebzigerjahre-Electronica bei aktuellen Veröffentlichungen. Die CD-Käufer suchen neue Impulse, und es gibt eben an vielen Orten der Welt regionale Ausprägungen global zirkulierender Zeichensysteme wie etwa House Music oder HipHop, die es zu entdecken gilt. Das ist Kwaito in Südafrika, Reggaeton in Puerto Rico oder eben Baile Funk in Rio.«
Haaksman hat nach einer ausgedehnten Recherchereise für sein Label essay Recordings die CD »Rio Baile Funk – Favela Booty Beats« zusammengestellt. Ein Beitrag mehr, der den Baile Funk vom Undergroundphänomen in den Mainstream übergeführt hat.

Follow Me Follow Me
Ein monströser Nissan-Geländewagen geleitet schlammige Läufer durch eine urbane Betonlandschaft. Zu den geschliffenen Werbebildern des Auto-Multis hämmert der Funk-Track »Quem Que Caguetou« von den Brasilianern Tejo, Black Alien and Speed. Nach Erscheinen dieses Spots bekam die energetische Musikunterlage massives Airplay auf Radiostationen weltweit.
Die Dynamik des Kapitalmarktes, der sich hybride Ästhetiken einverleibt und diese in Reingewinn umwandelt, steht der Ghettorealität gegenüber: Ein junger aufsteigender MC, der wie fast alle seine KollegInnen in den Favelas wohnt, erhält für seinen abendlichen Baile-Auftritt rund fünfzig Euro – genauso viel, wie wenn er eine Woche lang seinen Brotjob ausübt, etwa das Autowaschen.
Trotz ihrer Popularität kämpfen die »Funkeiros« gegen eine starke Stigmatisierung. So sind sie etwa als Sprachrohr der Drogenkriege verschrien. Bis in die neunziger Jahre wurden auf den »bailes« weit gehend friedliche Rituale rivalisierender Banden auf der Tanzfläche ausgetragen. Durch einen Korridor getrennt, provozierten einander die Gangmitglieder durch rhythmisches Herumgeschaukle, das von Aufpassern unter Kontrolle gehalten wurde.
Im Jahr 2000 traten die Medien eine Entrüstungswelle über ungeklärte Todesfälle und das Gewaltpotential der »bailes« los. Daraufhin schränkten neue Gesetze das Abhalten der Festivitäten ein. So wanderten die Funkpartys immer weiter in die Slums hinein, wo sie unter die Patronanz der Drogenkartelle fielen. Die Kriminellen rühmen sich, in ihre Community zu investieren, indem sie in »ihren« Favelas Veranstaltungen organisieren. Das Selbstmarketing amortisiert sich nebenbei, denn die »bailes« kurbeln auch das Drogengeschäft an.
DJ Marlboro hat in seiner Karriere an die 3000 Songs aufgenommen. Sein Soundsystem zeigt Einschusslöcher, die von den Waffen der Polizei stammen, die »bailes« immer wieder gewaltsam räumt. »Oft werden die Songs falsch als Aufruf zum Verbrechen interpretiert. Wenn MCs aber über Dealer und Morde durch die Polizei rappen, dann ist das beängstigend, weil unser Alltag wirklich davon geprägt ist. Und nur weil die Leute über die Realität singen, wollen die Behörden Funk den Mund verbieten.« (DJ Marlboro)
Funkstücke, die ungeschönt und auch authentisch vom gewaltvollen Dasein der Musiker erzählen, sind auf den Basaren nur unter der Hand zu kriegen. Und zwar so gut wie nie auf Vinyl, sondern mit Piratensoftware fabriziert und billigst gebrannt auf CD oder Kassette. Über die »Proibidão Tracks«, verbotene Huldigungen von Drogenbossen, könnte die Polizei die wahren Identitäten von MCs und DJs ausfindig machen und sie ins Gefängnis stecken. Deshalb kursieren die Aufnahmen als entschärfte Re-recordings der illegalen Originale.
Viele Lyrics widmen sich dem Thema Sex. Welche fetten Autos beeindrucken oder wie man Frauen körperlich beglückt, darüber singen auch viele weibliche MCs. Mother Blonde, eine ehemalige Schönheitskönigin, Darstellerin eines TV-Dramas über die Funkszene und Inhaberin eines Soundsystems, wurde bei den Kommunalwahlen in Rio Dritte, nachdem sie eine Plattform für die Rechte der »Funkeiros« initiierte.
Neuerdings findet auch ein Transfer der Funk-Subkultur in die wohlhabenden Stadtteile Rios wie nach Copacabana und Ipanema statt. »Die favelados haben dort keinen Zugang«, erzählt Daniel Haaksman, »da stehen sie praktisch nur auf der Bühne und tanzen oder arbeiten als DJs.«
Die Frage, ob analog zum amerikanischen Rap dem brasilianischen Funk in nächster Zeit ein kommerzieller Ausverkauf drohe, nimmt DJ Marlboro gelassen. Er hofft vielmehr darauf, einen ähnlichen Reputationsgewinn für die »bailes« zu erlangen wie ihn der Karneval von Rio hat. »Wir sind von Natur aus Underground«, proklamiert DJ Marlboro, »wir brauchen die Medien und Marketing nicht«.
Das Funklied aus der zuvor erwähnten Autowerbung kann man sich längst als Klingelton herunterlanden. Der britische Beatbastler Fatboy Slim hat dazu erfolgreich seinen Remix »Follow Me Follow Me« auf die UK-Charts losgelassen. Der Dancefloor-Shootingstar M.I.A. hat ebensfalls die druckvolle Kraft von Baile Funk erkannt und ihn spielerisch – neben ihren tamilischen Einflüssen – in ihrer Musik verarbeitet. Auf seiner vor kurzem erschienenen CD »Coconut FM« hat der deutsche Elektroniker Uwe Schmidt a/k/a Südamerika-Connaisseur Señor Coconut neben anderen hybriden lokalen Stilen wie Cumbia Villera, einer Art Afro-Pop mit Techno-Facetten aus den peruanischen Slums, auch eine Auswahl von Baile-Funk-Tracks zusammengestellt. Daniel Haaksman plant seine nächste Baile-Reminiszenz für das Jahr 2006. Insofern hat Baile Funk eine Dimension erreicht, an der sich vielerlei kulturelle und transkontinentale Wechselbeziehungen zwischen Brasilien, Europa und den USA festmachen lassen.

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