Heft 4/2007 - Journal Welt


Aussteigen statt Stimme erheben?

Zu einer »modernen« Genealogie »der Vielen«

Marco Scotini


Der Philosoph Reinaldo Laddaga hat neulich versucht, einige Vorläufer jener Initiativen von KünstlerInnen und KünstlerInnengruppen herauszuarbeiten, die mit dem neuen Jahrtausend entstanden sind und die sich weltweit mit der Definition eines neuen Verhältnisses zwischen öffentlichem Raum und gesellschaftlicher Produktion befassen. Proletarische Theaterprojekte im Moskau oder im Berlin der 1920er Jahre, die Gruppen von Arbeiter-KünstlerInnen im Paris oder im Rio de Janeiro der 1940er und 1950er Jahre sowie die alternativen Räume im New York der 1960er und 1970er Jahre stellen für Laddaga eine erste Liste solcher Vorläufer dar, die allerdings noch nicht ausreicht, um das gegenwärtige Phänomen experimenteller KünstlerInnengemeinschaften sowie jene kollaborativen Prozesse zu erklären, die diese in Bewegung gesetzt haben.1

Auch Martha Rosler bezieht sich in ihrer Aufarbeitung der amerikanischen Gegenkulturszene – angefangen von Frauen an der Westküste wie Suzanne Lacy und Leslie Labowitz, über Musikgruppen wie die Mothers of Invention, bis zu diversen New Yorker Kollektiven – auf das neue Verhältnis zwischen Kunst und Aktivismus, das in Seattle als eine Art »undeutliche« Rückkehr zur politischen Kunst der 1970er Jahre begann. Zugleich empfiehlt sie den neuen ProtagonistInnen, wieder Adorno zu lesen, um sich gegen eine »Mainstreamisierung« dieses Phänomens zu wappnen. Für Martha Rosler ist es heute nicht nur angebracht, sondern absolut unerlässlich, die unterbrochene Debatte zwischen Adorno, Brecht und Benjamin über die Instrumentalisierung des Kunstwerks im Zeitalter der spätkapitalistischen Kulturindustrie wieder aufzunehmen.2

Andere haben in den Schlüsselideen des Situationismus – wie détournement, Herrschaft des Spektakels oder vereinheitlichter Urbanismus – den Ausgangspunkt für eine hypothetische Genealogie der heutigen KünstlerInnenszene ausgemacht. Wieder andere, etwa Suely Rolnik, verlegen ihren Bezugspunkt weiter in die Vergangenheit zur Anthropophagie-Bewegung im Brasilien der 1920er Jahre, die als solche zwar nicht als einzige Vorläuferin aller folgenden brasilianischen Avantgardeströmungen gesehen werden kann, wohl aber als methodische Prämisse für eine Globalisierung der Kunst von unten. Anstatt die ihm zugewiesene untergeordnete und der dominanten Kultur unterworfene Stellung hinzunehmen, »kannibalisiert« in der anthropophagischen Praxis das kolonisierte Subjekt die kulturellen Elemente der Kolonisierer in einer Form der Aneignung – einer Anpassung an die lokalen Repertoires und einer Dekonstruktion des hegemonialen Diskurses.3

Rolnik setzt mit ihrer archäologischen Untersuchung beim Begriff der »flexiblen Subjektivität« an, den sie aus der von Brian Holmes formulierten Gegenüberstellung übernimmt: zwischen dem »autoritären Charakter« als einer typischen Figur der Moderne und der »flexiblen Persönlichkeit« als einem neuen politischen und sozialen Subjekt, das sich mit dem Fortschritt der Computertechnik und der daraus hervorgehenden »virtuellen Klasse« identifiziert.4

Dann wieder gibt es jene, die die Ursprünge der gegenwärtigen künstlerischen und ästhetischen Debatte zur kulturrevolutionären Aktionsbewegung Tucumán Arde in Argentinien verlegen, die gegen Ende der 1960er Jahre Kunst als grundlegend politische Tätigkeit verstand. Sie schlug drei unterschiedliche Ebenen operativer Strategie vor: eine soziologische, die sich mit der Dokumentation der wirtschaftlichen Krise in der argentinischen Provinz beschäftigte, zweitens einer Gegeninformationsstrategie mittels Publikmachung dieser Krise, und schließlich eine, die sich mit Räumen für Kunst befasste und direkt aufklärend wirken sollte.

Catherine David und Jean-François Chevrier haben ihrerseits – vielleicht als erste aus kuratorischer Perspektive – eine Reihe von Ereignissen zwischen 1945 und 1997 aufgegriffen, deren Merkmale von einer radikal kritischen Dimension über eine dogmatische und minimal moderne bis zu den anthropologischen Fundamenten der westlichen Kultur und den Kategorien und Hierarchien von Kunst und Wissen reichten. Künstler wie Marcel Broodthaers, Hélio Oiticica, Öyvind Fahlström, Architekten wie Aldo van Eyck und FotografInnen wie Garry Winogrand und Helen Levitt sind nur einige der ProtagonistInnen dieser Genealogie, die sich als grundlegende Alternative zur gängigen Interpretation der Avantgarde im 20. Jahrhundert präsentiert.5

Ausgehend von all diesen Ansprüchen in Sachen historischer Kontinuität ist deutlich erkennbar, dass die gegenwärtige Wiederaufnahme des kulturellen Projekts der Moderne – soziale Emanzipation, Institutionskritik, Forderung nach mehr Demokratie, Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit – Schwierigkeiten hat, sich bezüglich der Prämissen und Entwicklungen der künstlerischen Moderne zu verorten. Diese subtilen, bruchstückhaften und mannigfaltigen genealogischen Konstruktionen, die das Ergebnis unterschiedlicher Blickwinkel sind, verstellen die Sicht auf jene künstlerischen Praxen, die in den letzten Jahren als unmittelbare Manifestierung diverser modernistischer Ansinnen nach dem Bruch durch die Ära der Deregulierung unter Reagan und des »Es-gibt-keine-Alternative« von Margaret Thatcher sowie der Relativierung aller Werte in den 1980er Jahren entstanden sind.

Es geht hier nicht darum, die Bedingungen einer linearen Geschichte der Moderne, ihrer hartnäckigen Phänomene, der wiederkehrenden Formen ihrer Projekte, Ambitionen und Parameter zu ermitteln. Es geht auch nicht um die Frage, ob sich die Moderne, wie Arjun Appadurai bereits behauptet hat, sich »als ganzes« ein für allemal gewendet hat. Und noch weniger geht es um das Dekonstruieren des einheitlichen Bildes der Tradition von Avantgardebewegungen im 20. Jahrhundert. Vielmehr geht es um die Formulierung einer möglichen Genealogie für das neue Zeitalter der Politisierung, das mit der jüngsten Verbindung zwischen künstlerischen Praxen und Aktivismus begonnen hat. Mein genereller Eindruck ist, dass nicht einmal mehr die Fragen nach Emanzipation und radikaler Kritik, die in der derzeitigen ästhetischen und künstlerischen Debatte gestellt werden, allzu »modern« sind. Deswegen müssen sie auch unter anderen Bezugspunkten (die »vielen« statt »das Volk«), in anderen Partizipationsräumen (das »Hier und Jetzt« statt der institutionelle Ort) und mit anderen Zielen (das Ende der Utopien) gestellt werden, ganz abgesehen von den zahlreichen Strategien, mit denen letztere erreicht werden sollen.

Stellen sich abseits eines sozialistischen Rahmens und in einem völlig veränderten Produktionsregime wie den postfordistischen Problemen überhaupt noch auf die gleiche Weise dar? Gibt es keinen erkennbaren Unterschied zwischen den Demonstrationen der Art Workers’ Coalition und den Protesten bzw. den »Escraches« des Colectivo etcetera? Zwischen der Strategie von Group Material bei »The People’s Choice« (1981) und jener der Gruppe Park Fiction beim »Wunscharchiv« (1996)? Zwischen Hans Haackes Bloßstellung der »Konzernkultur« und der Ausarbeitung der versteckten Netzwerke des Kapitalismus durch das Bureau d’Études? Oder zwischen Adrian Pipers Darstellung der Xenophobie und jener des Black Audio Film Collective?

In Zeiten der »immateriellen Arbeit« – wie sie Maurizio Lazzarato definiert – ist es nicht nur unmöglich, fixe Grenzen zwischen intellektueller Produktion, politischer Aktion und Kultur zu ziehen, sondern überdies undenkbar, Arbeit von anderen menschlichen Aktivitäten zu trennen.6 Wenn der Intellekt, wie Paolo Virno behauptet, unter dem fordistischen Regime außerhalb des Produktionszyklus blieb, so gilt für den Postfordismus von heute das Gegenteil: Arbeit und Nicht-Arbeit entwickeln basierend auf der Verwendung der allgemein menschlichen Fähigkeiten wie Sprache, Gefühl, Sozialität, Ästhetik usw. die gleiche Produktivität. Die Unterschiede zwischen den Formen zivilen Ungehorsams in den 1960er und 1970er Jahren und den rebellischen Aktivitäten der gegenwärtigen Kunstszene werden damit fassbar. Auch ist es kein Zufall, dass Bewegungen wie die des neuen künstlerischen Aktivismus in Wahrheit vor einem gemeinsamen Hintergrund stattfinden, der vom Ende des Politischen bestimmt ist. Das unterschiedliche Verständnis der Rollen von Repräsentation und Macht ist demnach das wirklich Trennende zwischen der politischen Kunst der 1970er Jahre (oder allgemeiner der Moderne) und jener von heute. Man will nicht mehr die Macht im Staat übernehmen (oder in seinen Institutionen wie Museen, Parteien, Fabriken usw.), sondern sich gegen diesen verteidigen oder ihm entkommen. In diesem Sinne manifestiert sich der Widerstand von heute nicht oder nicht so sehr als theoretische Kritik oder aktiver Protest, sondern als Abkehr, Exodus/Auszug und Ausstieg. Der Soziologe Albert O. Hirschman würde sagen »Aussteigen« statt »Stimme erheben«, das heißt, sich zurückziehen statt kämpfen, neue partizipatorische Räume suchen, kleine Schritte machen, Mikro-Aktionen in lokalem Maßstab, Formen der Eigenverwaltung, Selbstorganisation und Selbstermächtigung entwickeln.

Die Kritik an der Institution des Museums verband Broodthaers, Haacke und andere KünstlerInnen ihrer Zeit. Die Art Workers’ Coalition verwendete einen Gutteil ihrer Energie für die Auseinandersetzung mit Museen. Sie drang mit ihrem Poster »And Babies?« gegen den Vietnamkrieg in den Raum des MoMA ein, in dem gerade »Guernica« ausgestellt war, und verkündete 1970 ihre 12-Punkte-Petition an die amerikanischen Museen, in der sie freien Museumseintritt, die Ausweitung der Ausstellungstätigkeit in schwarzen und puertoricanischen Gemeinden, Unterstützungen für Künstlerinnen usw. forderte. Ähnlich bat Group Material die BewohnerInnen des lateinamerikanischen Viertels an New Yorks 13. Straße Ost, für die Ausstellung »The People’s Choice« Gegenstände zur Verfügung zu stellen, die für sie und ihre Familien von Bedeutung waren. Immer bezog man sich auf das Museum und dessen öffentliche Rolle. Als aber Park Fiction die BewohnerInnen von St. Pauli in Hamburg bat, ihre Wünsche zu formulieren, wollte man ein gemeinsames Bauprojekt für einen städtischen Park entlang der Elbe entwickeln. Im Gegensatz zu Marcel Duchamp, der seine »Fountain« – ein Pissoir mit der enigmatischen Signatur »R. Mutt« – bei der Gesellschaft unabhängiger Künstler in New York präsentierte, stellte Marjetica Potrc 2003 eine echte Toilette (»Dry Toilet«) im Slum La Vaga in Caracas auf. Damit verwies sie auf die Spannungen in jener informellen Siedlung sowie auf ein neues Verhältnis zwischen Architektur und Infrastruktur, um somit auch die Initiative von der öffentlichen Institution auf Individuen zu verlagern.8 Ist die »Dry Toilet« nun ein Werkzeug für eine Kunst des Überlebens oder eine Art taktisches Medium vergleichbar mit den kostengünstigen Do-it-yourself-Methoden von MedienaktivistInnen?

Noch viele andere Beispiele bezeugen den Wechsel von einer eindeutigen Vorstellung der Rolle des Autors zu den heutigen mimetischen, rhizomatischen und unvorhersehbaren Formen, die jene angenommen hat. Man denke nur an die großen Veränderungen, was die Bildung flexibler offener Plattformen durch künstlerische Arbeitsgruppen betrifft. Dabei treffen oft TeilnehmerInnen mit heterogenem Hintergrund aufeinander, um zu diskutieren, zu planen und zusammen zu arbeiten, etwa in der dänischen Gruppe Superflex oder bei Chto Delat? (Was tun?) aus St. Petersburg.

Im Hinblick auf das Verhältnis von Kunst und Politik glaube ich, dass man heute eine radikale Abkehr von der Moderne bemerken kann, nicht nur, was die avantgardistische Auflösung der Beziehung von »reiner« und »politischer« Kunst, sondern auch die veränderte Rolle von politischem Engagement in der Kunst betrifft, wie sie von Lukács und Adorno in der Auseinandersetzung um organische (im Sinne Gramscis) und avantgardistische Kunstwerke dargelegt wurde.9 Oder wenn ich bedenke, dass es bei Benjamin noch um die Politisierung der Kunst gegenüber einer Ästhetisierung der Politik ging.

Ob wir nun von Jacques Rancières oder von Bernard Stieglers Theorie des »Sinnlichen« als Schnittpunkt von Ästhetik und Politik ausgehen, oder vom methodischen Zugang des italienischen Operaismus, der auf dem Veränderungsprozess in den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen basiert: Beim Verhältnis von Kunst und Politik geht es um eine direkte Verbindung zwischen Arbeit und Wahrnehmung, zwischen materieller und intellektueller Produktion, zwischen Struktur und Überbau.

Die grundlegenden Fragen scheinen heute folgende zu sein: Welches Modell der »Vielen« setzt man anstelle der vereinheitlichten modernen Bilder der Zugehörigkeit zu Klasse, Volk, Nation, Rasse und Glaube? Was kann die Idee der Utopie ersetzen? Ist die Erfindung nichtrepräsentativer politischer Organe – mit anderen Worten ein nichtrepräsentatives Demokratiemodell – möglich? Kann man die konvergierenden Geschichten von KünstlerInnenbewegungen von der Entwicklung neuer Typen gesellschaftlichen Vorkämpfertums trennen? Und wie steht es um die jeweiligen Produktionsorte? Wenn der Zapatismus erklärt, dass der richtige Platz nicht in der Fabrik, sondern tief in der Gesellschaft ist, können dann künstlerische Aktivitäten Anspruch auf einen besonderen Produktionsort haben?

Paolo Virno hat unlängst gesagt, dass die Themen der Pariser Kommune und die Themen der Sowjets erst heute und nur unter den Bedingungen der jetzigen wissenschaftlichen, intellektuellen und kommunikativen Entwicklung realistisch werden.10 Aber vielleicht geht es immer noch um eine Frage der Genealogie.

Mit freundlicher Genehmigung von »Moscow Art Magazine« (http://xz.gif.ru) und documenta 12 magazines.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

1 Robert Laddaga, Art and Organizations, in: Shifting Map, Rotterdam 2004, S. 16–21.
2 Martha Rosler, Out of the Vox, in: Artforum, September 2004, S. 218–219.
3 Suely Rolnik, Zombie Anthropophagy, in: Collective Creativity, Frankfurt am Main 2005, S. 206–218.
4 Brian Holmes, The Flexible Personality, in: ders., Hieroglyphs of the Future, Zagreb 2002.
5 Poetics Politics, documenta X, The Book, Ostfildern-Ruit 1997.
6 Maurizio Lazzarato, Lavoro immateriale. Forme di vita e produzione immateriale, Verona 1997.
7 Paolo Virno, Grammatica della moltitudine. Per una analisi delle forme di vita contemporanea, Rom 2002 (deutsche Ausgabe: Grammatik der Multitude, Frankfurt am Main/Wien 2005); Esercizi di esodo. Linguaggio e azione politica, ombre corte/cartografie, Verona 2002.
8 Marco Scotini, L’etica del bricolage: Dry Toilet, in: Domus, 891 (April 2006), S. 88–91.
9 Peter Bürger, Avanguardia e engagement, in: Lettera internazionale, 8 (Frühjahr 1986), S. 34–39.
10 Exodus, Uniqueness and Multitude, Interview mit Paolo Virno von Marco Scotini, in: Disobedience, Lugano 2005, S. 3–4.