Heft 4/2007 - Netzteil


possibleworlds.org

Aus dem bloßen Leben der »(post-)modernen« mexikanischen Wirklichkeit

Fran Ilich


Wir befinden uns an einem ungewissen Moment des 19. Jahrhunderts kurz vor dem Beginn des 20. in einem Kaffeehaus, das an Wien erinnert. Wir sehen gut gekleidete Herren und katholische (alkoholische) Damen, die den Werken von Avantgarde-Komponisten lauschen. Ein Exzentriker unter ihnen erzeugt merkwürdige elektrische Sinustöne, die stark von den objektiven Geräuschen einer Mars-Umlaufbahn oder von den BewohnerInnen des einzigen natürlichen Trabanten der Erde inspiriert scheinen. Obwohl niemand weiß, wie man sich richtig verhalten soll, sind alle still, einfach weil es der Trend des Augenblicks zu sein scheint. Gekleidet sind sie sichtlich nach der letzten europäischen Mode; sie trinken Wein und nicken sich gegenseitig quer durch den Saal zu. Außerhalb dieser weiß getünchten Zelle bevölkern schwitzende Massen von Indios die Straßen, fahren mit der U-Bahn zur Arbeit, die unter elenden Ausbeutungsbedingungen stattfindet. Doch Moment! Es handelt sich nicht um das 19., sondern um Mexikos Neue-Medien-Szene im 21. Jahrhundert. Und obwohl Computer da sind und die Globalisierung über die Welt hinweg fegt, während die Bauern genetisch veränderten Mais aus den Vereinigten Staaten ausgerechnet auf jenen Ländereien essen, auf denen Mais als erstes gezüchtet wurde, werden diese nicht als unerlässliche Hardware zur Gewinnung und Verarbeitung von Information aus der Welt der Netzwerke verwendet, sondern als Werkzeuge für den sozialen Aufstieg von Virtuosen. Anstatt als Befreiungsinstrument zu dienen, fungieren sie als Accessoire des Status quo.
Die mexikanischen ModernistInnen der 1920er Jahre verwendeten neue Techniken wie Fotokamera, Schreibmaschine, Radio, Druckerpresse, Film und natürlich Wandmalereien zur Kommunikation mit den gesichtlosen unterdrückten Proletariermassen. Sie verhandelten Themen, die sie als revolutionär verstanden und die von Gesundheitsvorsorge über Bildung, Fließwasser, die Elektrifizierung und Industrialisierung der Städte bis hin zu Klassen- und Rassenproblemen reichten. Siebzig Jahre später, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, verwendeten die unabhängigen AutorInnen und KünstlerInnen Zeitschriften, um ihren Schlafzimmerschwulst einem größeren städtischen Netzwerk vor Augen zu führen. Sie investierten ihre hart verdienten Pesos in die Veröffentlichung ihrer Texte im Eigenverlag oder in Lo-Fi-Produktionen ihrer Visuals, ihrer Musik oder gar Videos. Es entstand ein gut vernetztes Kommunikationssystem von KünstlerInnen und AktivistInnen, die es trotz ihrer »Medienkompetenz« im Grunde nicht schafften, sich irgendeiner Äußerung der Medienkonzerne entgegen zu stellen, ganz zu schweigen von der langfristigen Etablierung von kostenlosen Medienzugängen (es gibt natürlich auch Gegenbeispiele). Das Höchste, was diese Generation erreichen konnte, war, sich als spezialisierte TechnikerInnen jenen Massenmedien anzudienen, die sie leidenschaftlich zu hassen vorgaben. Wo sind diese »Zines« heute? Oder waren sie nur dazu da, um Karrieren wie Raketen am Himmel der bürokratischen Kunst- und Kulturinstitutionen oder Medienkonzerne zu lancieren?
Mitte der 1990er Jahre ging eine Staatsinstitution in Tijuana sogar soweit, ein »Institutions-Fanzine« zu drucken (als ob es so etwas geben könnte). Sie versammelte die ihrer Meinung nach besten »Federn« der lokalen Alternativszene und bot diesen an, ihren Veröffentlichungen mehr Qualität und Reichweite zu verleihen. Das hieß besseres Papier, ähnlich übrigens wie das braune Papier von Jausentüten. Sie verwendeten dasselbe Kleinformat wie »Cinemátik« (eine von ein paar MittelschülerInnen gemachte unabhängige Zeitschrift über elektronische, Rave- und Gettokultur), und imitierten deren Logo, eine Ellipse mit dem neuen Zeitschriftennamen darin: »El Puente«. Das bedeutet wörtlich »die Brücke«, was den illoyalen Wettbewerb hinter den verspiegelten Kulissen erfolgreich verschleierte. Diese wunderbare Metapher war auch unschuldig genug, um wie ein erfolgreicher Versuch von KulturmanagerInnen zu wirken, der unabhängigen Szene etwas zurückzugeben – auch wenn kein/e AutorIn jemals ein Honorar sah. Der Firmenschmäh wurde dadurch evident, dass das Heft gratis verteilt wurde, während die besser aussehenden Zines von ein paar Cents bis zu wenigen Dollars kosteten. In der Folge wurden Hefte wie »Cinemátik« (das auf meinem PC unter Mithilfe von zahlreichen TeenagerfreundInnen redigiert und gestaltet worden war und das uns mit einer Auflage von 1.000 Exemplaren genug einbrachte, um elektronische Audio-, Foto- und Videoausrüstungen kaufen, ja sogar Stipendien vergeben und Geräte verleihen zu können) vom Markt gedrängt. Die Institutionszeitschrift hatte große wirtschaftliche Auswirkungen, denn es war nicht nur schwer, mit etwas zu konkurrieren, das professioneller aussah und zugleich gratis war, sondern sie schuf auch eine Kluft zwischen jenen KünstlerInnen und AutorInnen, die dabei waren, und denen, die nicht dabei waren. Wir waren dabei, was es uns noch schwerer machte, weil wir unbeabsichtigt zu KomplizInnen unseres eigenen Untergangs wurden. Heute, zehn Jahre später, wäre es interessant zu erfahren, was aus vielen der Beitragenden zu »El Puente« geworden ist. Wo sind sie hin? Was machen sie heute?
Mit der Einführung des Internets, der Telcos und Dotcoms erlebten viele der vordem gedruckten Publikationen ein allzu frühes Revival. Die sich aus dem Bürgertum rekrutierende unabhängige elektronische Boheme wurde durch etwas wiederbelebt, was wie eine Pixel-Bonanza aussah, in der alles möglich schien. Netzwerke wurden aufgebaut und alle E-Mail-Adressen waren KandidatInnen, um auf Mailinglisten gesetzt zu werden. Alle waren plötzlich Dotcom-UnternehmerInnen, ganze Schlösser wurden aus HTML gebaut, und zum Glück war nicht alles, was glänzte, bloß eine Flash-Animation. Auf jedem Server schlossen virtuelle Communities, die ganze Zivilisationen werden wollten, wie Pilze aus der Erde. Das brachte meiner Generation natürlich jede Menge Ideen und Chancen. Endlich waren wir wieder auf Schiene, doch diesmal wollten wir vermeiden, jedes nur greifbare Geld einfach zu verbrennen. Langsam nahm unser Alltag neue Formen an, was bedeutete, während der Arbeits- oder Schulzeit ein reales Leben in faden Vorstädten zu führen und nachts ein virtuelles Leben im unermesslichen und endlosen Netz. Doch die Internetszene bedeutete nichts für jene, die konkrete materielle Ergebnisse wie Bücher oder Ausstellungen sehen wollten. Anderen wiederum verschwamm die Grenze zwischen wirklichem und virtuellem Leben. Ich selbst wurde Herausgeber der Kulturzeitschrift »Sputnik«, die sowohl gedruckt als auch online erschien und die landesweit vertrieben wurde, ja sogar eine UKW-Radiosendung hatte. AutorInnen aus ganz Mexiko diskutierten Textverarbeitungstechniken, Für und Wider des Schreibens auf Papier oder gar elektronische Bücher, die hoffen ließen, bereits in den kommenden Wochen die Verlagsindustrie zu zerstören.
Zur gleichen Zeit gewann erstmals seit siebzig Jahren eine andere Partei die Wahlen – was Demokratie bedeutete! Weiter bedeutete es, dass staatliche Transparenz kommen würde, freier Zugang zu Information, und dass bald alle ihr eigenes Weblog haben würden. Der große Verlierer der Präsidentenwahl hatte »Englisch und Computer als Basiswissen« versprochen, was ja alle in Mexiko wollten. Doch auch wenn die Moderne ein Ding der Vergangenheit war, so war sie nicht die Antike, sondern eher ein unerfülltes Versprechen: Die Leichen von hunderten Frauen, die in transnationalen Fabriken gearbeitet hatten, wurden eine nach der anderen gefunden; ein mestizischer Subcomandante mit schwarzer Gesichtsmaske, der keine Revolution, sondern die Anerkennung autonomer Bildungs-, Gesundheits- und Wirtschaftsrechte forderte, führte einen Indioaufstand im Südosten an; LandarbeiterInnen bekämpften die Zentralregierung gegen die Enteignung ihrer Gebiete wegen des Baus eines neuen internationalen Flughafens für Mexico City. Zudem wurden die Millionen EmigrantInnen, die über Jahrzehnte aus wirtschaftlichen Gründen in die USA ausgewandert waren, noch vor der Erdöl- und der Tourismusindustrie zur wichtigsten Einkommensquelle des Landes. Sie machten sich bemerkbar, organisierten sich in alternativen Handelsnetzwerken und veranstalteten mithilfe von Websites wie myspace.com sogar einen landesweiten Streik. Die digitale Kluft wurde zu einer Priorität der ersten so genannten demokratischen Regierung Mexikos, weil sie den dringenden Bedarf nach Bildung, Gesundheitsvorsorge und anderem deutlicher machte. Höchste Priorität hatten aber trotzdem Computer und Microsoft-Software, sogar in Schulen unter freiem Himmel oder Gegenden ohne Elektrizität. Und in den Salons der Großstadt bildete sich eine neue Ausdrucksform, die unter dem Namen Netzkunst bekannt wurde. Viele der ersten NetzkünstlerInnen plädierten für den Ausdruck »web art« oder sogar »net.art« und für freien Zugang zu ihren Werken von jedem Computer aus, ohne ein Museum besuchen oder in eine andere Stadt reisen zu müssen. Doch wer sollte diese Werke verstehen? Welche Art Ausbildung und welche kulturellen Bezüge wären dazu vonnöten? Ganz zu schweigen von welcher Art Prozessor oder welcher Art DSL-Verbindung. Netzkunst in Mexiko war eine wunderbare Kunst für Konsulate.
Fünf Jahre später war beinahe die Zeit der nächsten Präsidentschaftswahl gekommen. Ich beschloss, ein neues Unternehmen namens »Sab0t«1 zu gründen. Es handelt sich um eine Zeitschrift, die etwas subversive Netzkultur und Kunststrategie in den Straßen verbreiten soll, anstatt umgekehrt Aktivismus in Galerien zu bringen. Zur gleichen Zeit tauchte Subcomandante Marcos aus dem Urwald von Lacandon auf, um die Zivilgesellschaft aufzurufen, sich mit den ZapatistInnen zu treffen. Ich war also einer jener naiven StadtbewohnerInnen, die stundenlang mit dem feuchten Traum in ein Land ohne Zement oder Fließwasser reisten, Marcos grenzüberschreitende Computer-Hacks und Telenovelas für ZapatistInnen vorzuschlagen. Stattdessen fand ein Austausch statt, und ich kam aus ihrem Dorf mit der Idee zurück, ähnlich ihrer autonomen Städte einen kooperativen Server zu installieren. So wurde possibleworlds.org geboren. Bald schon hatten die ZapatistInnen ihre Website auf possibleworlds.org, und außerdem noch circa vierzig künstlerische, kollektive, literarische und soziale Projekte aus Mexiko, aber auch Deutschland, Peru, Spanien, den Vereinigten Staaten usw. Weiters wurde auf dem Server eine Online-Mediathek und eine virtuelle Community-Bank2 zur Vergabe von Krediten und Schenkungen an gleichgesinnte Projekte eingerichtet (wir können aber noch kein eigenes Geld drucken!). Ebenso wurden auf possibleworlds.org unabhängige Kunst- und Sozialprojekte, ja sogar Telenovelas veröffentlicht. Die letzte davon – »Fea y rebelde« (»Hässlich und rebellisch«, frei nach der kolumbianischen Serie »Ugly Betty/Verliebt in Berlin« und der argentinischen RBD-Soap, mit unfreiwilligen Nebenrollen der kolumbianischen Sängerin Shakira und von Subcomandante Marcos) – wurde wegen angeblicher Urheberrechtsverletzungen auf Betreiben von Televisa auf YouTube zensiert. Zur Zeit des Abfassens dieses Artikels eröffnet possibleworlds.org gerade einen unabhängigen Forschungs- und Produktionsraum3. Papier und Pixel werden in diesem Zusammenhang neu abgemischt. Und die Idee, dass eine andere Welt möglich ist, geht wie ein endloser Beat immer weiter und weiter.

 

Übersetzt von Thomas Raab