Heft 2/2008 - Lektüre



Gayatri Chakravorty Spivak, aus d. Engl. v. Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny:

Can the Subaltern Speak?

Postkolonialität und subalterne Artikulation

Wien (Turia & Kant) 2007 , S. 74

Text: Sabine Rohlf


Es gibt Texte, über die viele Menschen (vorzugsweise in kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontexten) reden, ohne sie je gelesen zu haben: Das gilt für so manche Zeile von Karl Marx, Judith Butler oder Naomi Klein, aber auch für einen Klassiker postkolonialer Theoriebildung, den Aufsatz »Can the Subaltern Speak?« der indisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak. Der 1988 erstmals veröffentlichte Text geht der Frage nach, ob und wie sich Menschen in einer weitgehend machtlosen Situation artikulieren können. Seitdem sorgt er immer wieder für Diskussionen, die Spivak zu Stellungnahmen und zu Überarbeitungen des Texts veranlassten, ohne ihn je zu relativieren. In der Reihe »Es kommt darauf an. Texte zur Theorie der politischen Praxis« bei Turia & Kant ist nun die deutsche Erstübersetzung der »Originalfassung« erschienen. Sie gibt Gelegenheit, sich den Text noch einmal auf Deutsch vorzunehmen, oder ihn – endlich! – das erste Mal zu lesen.
Spivaks Ausgangspunkt ist ihr offenkundiger Ärger über die Haltung linker Intellektueller, die ihre eigene Bedeutungslosigkeit beteuern und die subversive Energie unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen beschwören. In einer solchen Rhetorik sieht sie nichts anderes als eine Verleugnung der eigenen komfortablen Situation. Französische AkademikerInnen (ihre Beispiele sind Michel Foucault und Gilles Deleuze) hätten nun einmal, ob sie es wollten oder nicht, eine viel bessere Sprechposition als Menschen, die in der Dritten Welt auf der Straße leben oder als LandarbeiterInnen um ihr Existenzminimum kämpfen.
Den Begriff »subaltern« führt Spivak mit Blick auf Gramscis Verwendung des Begriffs ein – dieser bezeichnete damit Teile der ländlichen Bevölkerung des italienischen Südens: arm, heterogen und nichtorganisiert. Um den Begriff genauer zu bestimmen, stellt sie das indische »Subaltern Studies«-Projekt vor, das nach bäuerlichen Gruppen fragt, die lange Zeit weder in kolonialen noch in neokolonialen Historiografien Indiens einen Platz hatten. Die betreffenden Menschen schrieben nichts auf, die indischen Eliten wie die britischen Kolonialherren schwiegen sie tot. Den MitarbeiterInnen des Projekts, dem sich Spivak Mitte der 1980er Jahre anschloss, geht es insbesondere um den Status dieser Gruppen als politisches Subjekt, immerhin beteiligten sie sich an einer Reihe von Aufständen gegen die britische Besatzung. Eine zentrale Herausforderung der Forschung über sie, so Spivak, sei der Umgang mit Differenz: Wie kann man ihre Geschichte(n) schreiben, ohne die Unterschiede zwischen ihnen zum Verschwinden zu bringen? Wie lassen sich etwa verstreute mündliche Überlieferungen bündeln, ohne ein Subjekt des Subalternen zu essentialisieren? Was ist, wenn überhaupt keine mündlichen oder schriftlichen Spuren auffindbar sind?
Am Beispiel der umkämpften Praxis der Witwenverbrennung spitzt Spivak das Problem geschlechtsspezifisch zu. Zwischen lokalen frauenfeindlichen Traditionen und dem Rassismus der BritInnen hätten die Witwen keine Chance gehabt, sich zu artikulieren: Die einen feierten sie als Heldinnen, ja verhießen einen über Selbstopferung gewonnenen Subjektstatus, die anderen instrumentalisierten sie in ihren Diskursen über »barbarische Zustände«. Für eine eigene Position der Frauen war da kein Platz. Spivaks Fazit lautet entsprechend: »Die Subalterne kann nicht sprechen.« Diese harsche – und viel zitierte – Einsicht provozierte Diskussionen über Repräsentation, Möglichkeiten der Politik, Handlungsfähigkeit und akademische Arroganz. Der Begriff des Subalternen kam trotzdem (oder gerade deswegen?) in Mode und wurde bald für jegliche Form der Unterprivilegierung verwendet.
Spivaks »Klassiker« ist kein selbstgerechtes Manifest, sondern ein komplexer, geisteswissenschaftlichen Tugenden verpflichteter Aufsatz, der seinen LeserInnen einiges abverlangt. Wer wie sie die Schriften Jacques Derridas (den sie ins Englische übersetzt hat und den sie von ihrer Kritik ausnimmt) schätzt, denkt genau über die Bedingungen und Ausschlüsse des eigenen Denkens und Handelns nach. Spivak fordert dazu auf, genau zu lesen, sei es Foucault, Deleuze, Derrida, Marx, Gramsci, indische »Subaltern Studies« oder Quellen zur Witwenverbrennung, und genau nachzudenken, etwa über den Unterschied zwischen Sprechen (speak) und Reden (talk). Denn ihr geht es nicht ums schlichte Reden, sondern um die Möglichkeit, für sich selbst zu sprechen und damit auch Gehör zu finden.
Neben dem offenkundigem Nutzen, den ihre Überlegungen für politische Debatten haben, sind sie ein faszinierendes Beispiel für ein Lesen, das die Nuancen des Bengali ebenso ernst nimmt wie die Komplexität der Rhetorik eines Marx-Textes. »Can the Subaltern Speak?« zeigt (wie so manch andere ihrer Arbeiten auch), dass es die Spannung zwischen den Sprachen, sozialen Wirklichkeiten und Kulturen ist, die Spivak nicht nur zu einer scharfsinnigen politischen Theoretikerin, sondern zu einer der spannendsten Literaturwissenschaftlerinnen der Gegenwart macht.
Hilfreich bei der Lektüre ist das Vorwort Hito Steyerls, die den Text einführend zusammenfasst und auf die aktuelle politische Situationen hin fluchtet. Die Vehemenz, mit der hier der oft mit Spivak in Verbindung gebrachte strategische Essentialismus und eine postkoloniale »Politik der Differenz« als »Kakophonie von Monaden« kritisiert werden, kann durchaus irritieren, zumal sie in die Forderung, ein »politisches Subjekt jenseits von Staat, Kultur und Identität zu konstituieren« mündet. Es gibt gute Gründe, politischen Subjekten skeptisch gegenüber zu stehen. Nicht umsonst haben Jahrzehnte der Theoriebildung darum gekreist, welchen Preis Subjektkonstruktionen haben, was sie zum Schweigen bringen, welche Ausschlüsse, toten Winkel und Homogenisierungen sie bei allem guten Willen bewirken. Andererseits passt die Einleitung zu Spivaks Text, geht es beiden doch um die Möglichkeiten tatsächlicher politischer Veränderung. Insofern ist Steyerls Forderung nach einer praktikablen politischen Perspektive in vergleichbarer Weise sperrig – und bestechend – wie Spivaks verklärungsfreie Bestandsaufnahme.
»Ein Gespräch über Subalternität« aus dem Jahr 1993, in dem Spivak auf die Rezeption ihres Texts eingeht, sowie eine editorische Nachbemerkung der Übersetzer der 1999 veröffentlichten zweiten Version betten den Aufsatz historisch ein, kommentieren und belegen ein bewegtes Kapitel Theoriegeschichte. Diese Kontextualisierung macht Spivaks Text zugänglicher als er bei einer isolierten Lektüre wäre, und die Übersetzung erlaubt auch Menschen, die keine Gelegenheit hatten, avanciertes Akademiker-Englisch zu lernen, einen Zugang. Auch wenn LeserInnen ohne poststrukturalistisches und marxistisches Vorwissen hier und da Fragezeichen an den Rand malen werden, wird klar, warum Spivak so nachdrücklich darauf beharrt, dass Menschen von gesellschaftlicher Mitsprache, von der Produktion von »Wahrheit« und Wissen ausgeschlossen sein können. Und zwar nicht nur zwischen Scheiterhaufen und kolonialer Unterdrückung, sondern überall auf der Welt, jeden Tag und zu »unserem« Nutzen hier in Europa.
Was mit dieser Einsicht anzufangen ist, zeichnet sich ab, wenn sich Spivak im Interview von der Frage »Wer spricht für wen?«, die ja eine logische Konsequenz ihres Texts ist, abwendet: »Der Punkt ist meines Erachtens nach eher, wer für wen arbeitet«, es gehe ihr darum, etwas Konkretes zu tun – mit dem Fernziel, den »subalternen Raum« aufzulösen. Das ist nach ihren Ausflügen in marxistische und poststrukturalistische Theoriebildung, in indische Sprach-, Übersetzungs- und Überlieferungsprobleme eine recht handfeste Position. Spivak selbst folgt ihr bekanntlich, indem sie neben ihrem Lehrstuhl an der Columbia University in einem Projekt der Lehrerbildung in Westbengalen arbeitet.