Heft 2/2008 - Lektüre



Carmen Mörsch, Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.):

Schnittstelle Kunst – Vermittlung

Bielefeld (transcript Verlag) 2007 , S. 71

Text: Susanne Lummerding


Was bedeutet Wissenschaftlichkeit im Feld der kulturellen Bildung? Und: Wie bilden? So lauten vereinfacht die zentralen Fragen, mit denen Carmen Mörsch in ihrer gemeinsam mit Constanze Eckert durchgeführten Begleitforschung zum jüngsten Modellprojekt1 des Landesverbandes der Kunstschulen Niedersachsen dem offiziellen Projektmotto »bilden mit kunst« begegnet. Mit dem Anspruch einer Verknüpfung von Forschungs- und Vermittlungspraxis begleiteten Mörsch und Eckert von 2005 bis 2006 die in diesem Rahmen an sieben Kunstschulen durchgeführten Projekte, die sich entlang der Schnittstelle von Kunstproduktion und Bildungsarbeit mit partizipativen und interventionistischen Strategien der Gegenwartskunst auseinandersetzten. Die vorliegende Dokumentation und Reflexion der Projekterfahrungen, die Text- und Bildbeiträge (inkl. DVD) von TeilnehmerInnen, DozentInnen, Bürgermeistern, Kunstschul- und ProjektleiterInnen sowie der BegleitforscherInnen selbst versammelt, zeigt sowohl Probleme als auch Potenziale partizipatorischer Forschungs- und Bildungsarbeit auf, um neue Impulse für die Kunstvermittlung zu setzen.
Wichtig ist das Buch vor allem auch deshalb, weil es zugleich eine vertiefende und erweiternde Reflexion und Kontextualisierung jenes Konzepts einer teambasierten und selbstreflexiven Vermittlungspraxis ermöglicht, das Carmen Mörsch als wissenschaftliche und konzeptuelle Beraterin der Vermittlung für die documenta12 entwickelte und gemeinsam mit den VermittlerInnen im Rahmen der d12 umsetzte. Die im kuratorischen Konzept der d12 thematisierte Frage der Bildung wurde genutzt, um gemeinsam mit dem Publikum über Kunstvermittlung nachzudenken. Die jeweils eigene Praxis, Modalitäten der Partizipation und Repräsentation, Fragen der kulturellen Übersetzung und der Wissensproduktion wurden von den VermittlerInnen im Rahmen unterschiedlicher Projekte und auch in Kooperation mit einem lokalen Beirat und verschiedenen Öffentlichkeiten sowie in regelmäßigen Forschungs- und Projektforen laufend reflektiert und weiterentwickelt.2
Dieser Anspruch einer selbstreflexiven Vermittlungspraxis als kollektiver Forschungs- und Entwicklungsprozess,3 der hier also gleichermaßen für die Arbeit im Rahmen des Kunstschul-Modellprojekts wie auch für jene im Rahmen der d12 bestimmend war, beinhaltet – und das verdeutlicht das vorliegende Buch – entscheidende Implikationen auch für andere Felder der Wissensproduktion, die weit über den Bereich der Kunstvermittlung hinausgehen. Ein zentrales Moment bildet die Aktualisierung des bereits in den 1970er Jahren entwickelten, aber seither weitgehend vernachlässigten Ansatzes teambasierter Aktionsforschung. Diese erlaubt es, unter der Voraussetzung einer forschenden Positionierung aller Beteiligten, der Transparenz von Analysekriterien und Machtstrukturen, und ohne einem naiv-romantischen Emanzipations- oder Mitbestimmungsparadigma zu folgen, Begleitforschung als kritisch-dekonstruktives Handlungsfeld in Bezug auf neoliberale Trends einer ökonomistischen Qualifikationsvermittlung zu entwerfen. Schon die Gründung der ersten Kunstschulen in Deutschland Ende der 1960er Jahre im Zuge einer Demokratisierung des deutschen Bildungswesens als Reaktion auf die so genannte Bildungskatastrophe war gegen einen Trend zu fortschreitender Didaktisierung, zur Systematisierung operationalisierbarer Lehrinhalte und empirischer Belegbarkeit von Bildungseffekten mittels Testverfahren gerichtet. Gleichzeitig waren bereits dieser frühen Phase Paradoxien eingeschrieben, die sich nicht nur bis heute fortsetzen, sondern vor allem ein strukturell bedingtes Moment kulturpolitischer Instrumentalisierbarkeit darstellen. Neben einem schwierigen Verhältnis zu Gegenwartskunst, einer Rousseau’schen Faszination für das »Kind als Künstler« und vermeintlich primitive Formen sowie einer Ablehnung von Theorie gegenüber davon vermeintlich getrennter Praxis wäre die romantisierende Überhöhung »der Kunst« zu nennen.4 Vor allem die paradoxe Zuschreibung an Kunst, sie sei als das utopische »Andere« der Gesellschaft für Bildung notwendig und gefährlich zugleich, stellt eine historisch tradierte Hypothek dar, die nicht allein die Bildungs- und Vermittlungsarbeit im Bereich der Kunstschulen belastet, sondern weit darüber hinaus auf ihre gesellschaftliche Funktion und Konzeptionen von »Gesellschaft« hin kritisch zu befragen wäre. Die neoliberale Verkürzung eines als Entwicklungsinstrument verstandenen Paradigmas »lebenslangen Lernens« auf Wettbewerbsfähigkeit und Anpassungskompetenz der »workforce«, in der KünstlerInnen zu Rollenmodellen für das flexible und kreative Ich-AG-Individuum werden, stellt dabei nur einen von zahlreichen Aspekten zunehmender Ökonomisierung und unmittelbar vernutzbarer Output-Orientierung dar.
Vor diesem Hintergrund sind die in »Schnittstelle Kunst – Vermittlung« vorgestellten Reflexionsansätze also nicht nur für KunstvermittlerInnen im Schul-, Hochschul-, und Erwachsenenbildungsbereich höchst relevant, sondern für unterschiedlichste Felder kultureller Vermittlung und Forschung – um mit dem Beharren auf Teamorientierung und Vielstimmigkeit einer gegenwärtig verstärkt festzustellenden Programmatik der Einstimmigkeit (etwa bei der Entwicklung von Evaluationskriterien, Legitimationsstrategien oder dominanten Forschungsmethoden und Forschungsfragen) die Entwicklung von Handlungsspielräumen für ein Eingreifen in hegemoniale Strukturen der Wissensproduktion und die Aufrechterhaltung von Ausverhandlungsprozessen entgegenzusetzen.

 

 

1 Der Titel des Modellprojekts lautete »Schnittstelle Kunst – Vermittlung. Zeitgenössische Arbeit in Kunstschulen«.
2 Siehe dazu: www.documenta12.de. Eine Dokumentation dieser sich als kritische Praxis der Ausstellung und der Institution documenta verstehenden documenta12-Vermittlung, die voraussichtlich Ende 2008 erscheinen wird, soll diesen Prozess fortsetzen.
3 Siehe dazu auch: Carmen Mörsch, Regierungstechnik und Widerstandspraxis. Vielstimmigkeit und Teamorientierung im Forschungsprozess, in: Ute Pinkert (Hg.), Körper im Spiel. Berlin/Strasburg/Milow 2008.
4 Siehe dazu vor allem das Kapitel »Im Paradox des großen K. Zur Wirkungsgeschichte des Signifikanten Kunst in der Kunstschule« von Carmen Mörsch, S. 360–379.