Heft 2/2008 - Secret Publics


Positive Uneinigkeit

Interview mit dem Historiker Dipesh Chakrabarty zum Projekt der Subaltern Studies und der »Provinzialisierung« Europas

Catherine Halpern


Catherine Halpern: Sie gehören zu den Gründungsmitgliedern des Subaltern-Studies-Projekts. Können Sie uns dessen wichtigste Prinzipien und Ziele erklären?

Dipesh Chakrabarty: Subaltern Studies begann als revisionistisches Historiegrafieprojekt, das gegen Ende der 1970er Jahre von Historikern aus Indien, Pakistan und Bangladesh gestartet wurde, unter der Leitung von Ranajit Guha, dem ältesten Mitglied – und Mentor – der Gruppe. Anfangs waren wir acht Mitglieder: zwei in Australien, vier in Indien, die anderen in England. Der erste, gleichnamige Sammelband wurde 1982 veröffentlicht.
Zum Teil handelte es sich um eine Generationenbewegung in der indischen Geschichte. Wir alle – mit Ausnahme von Guha – sind in der Zeit der indischen Unabhängigkeit im Jahr 1947 oder kurz darauf geboren. »Mitternachtskinder«, so nannte Rushdie diese Generation. Unsere Eltern waren die letzte Generation von NationalistInnen (auf indischer wie auf englischer Seite, denn zwei prominente Mitglieder der Gruppe waren englische Historiker). Wir erbten den Nationalismus, standen ihm jedoch kritisch gegenüber und waren unzufrieden mit den beiden bedeutendsten Traditionen indischer Geschichtsschreibung. Auf der einen Seite gab es die nationalistisch-marxistische Geschichtsschreibung, die zwar die Kolonialherrschaft kritisierte, der nationalistischen Elite jedoch das gesamte Verdienst für die Entwicklung eines antikolonialen Nationalismus zusprach. In dieser Art der Historiografie war man mit allen Problemen des Nationalismus sehr nachsichtig, auch mit der Neigung des Nationalstaates, bestimmte Gruppen – zum Beispiel das Volk der Naga – zu drangsalieren und ihnen nach der Unabhängigkeit die Zugehörigkeit zu Indien zu verweigern. Auf der anderen Seite gab es die britische Tradition der Geschichtsschreibung. Wir bezeichneten sie als »imperiale« Tradition, da sie die britische Herrschaft in Indien entweder verteidigte, glorifizierte oder aber in Abrede stellte, dass die BritInnen mächtig genug seien, um einen dauerhaften und nachteiligen Einfluss auf indische Institutionen und die indische Gesellschaft haben zu können. Für uns waren beide Traditionen elitär und nicht willens, sich damit zu befassen, wie »subalterne« gesellschaftliche Gruppen – jene, die in Alltag und Gesellschaft beherrscht wurden – ihre eigenen Beiträge zu antikolonialen und nationalen Bewegungen leisteten.
Das Ziel der Subaltern Studies bestand also darin, historische Analysen hervorzubringen, in denen subalterne Gruppen als Geschichtssubjekte betrachtet werden. Wir kamen aus einer linken Tradition und hatten den Begriff »subaltern« von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci übernommen. Wir verwendeten den Begriff »subaltern« und nicht einfach »Klasse«, weil wir über Menschen schrieben, die nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht einer niederen Klasse angehörten, sondern auch im Alltag Beziehungen aus direkter Herrschaft und Unterordnung ausgesetzt waren. Mit einem Wort, wir wollten den Machtaspekt in die Klassenanalyse einbringen. Wir waren gegen nationalistische Geschichtsschreibungen, nach deren Darstellung nationalistische AnführerInnen Indien in die Moderne führten, während die Mentalität der (Klein-)Bauern und Bäuerinnen als rückwärtsgewandt beschrieben wurde. Für uns waren die »Bauern« – eine Kurzformel für alle scheinbar nichtmodernen und ländlichen Menschen –, die an nationalistischen Massenaufständen gegen die BritInnen beteiligt waren, keine prä-politischen Subjekte (wie in der britischen marxistischen HistorikerInnenschule der »Geschichte von unten« gelegentlich beschrieben), sondern immer schon politisch. Als der erste Band der »Subaltern Studies« erschien, handelte es sich, intellektuell gesehen, um eine Mischung aus gramscianischem Marxismus, dem wir ein umfassendes Verständnis des kolonialen Kontexts und das Interesse für die Macht zu verdanken hatten, einer weitgehend maoistischen Betrachtungsweise des Bauern und einer semiotisch-strukturalistischen Herangehensweise an die Analyse historischer Dokumente mit einigen erkennbaren Einflüssen Foucaults. Unser Gründer Ranajit Guha, der ein Buch über Bauernaufstände geschrieben hat, interessierte sich sehr für die Dekodierung der Semiotik der Macht in der indischen Gesellschaft und war stark beeinflusst von Roland Barthes, Lévi Strauss, Roman Jakobson und anderen. Der Einfluss von Derrida kam später, als Mitte der 1980er die postkoloniale Kritikerin Gayatri Spivak zu der Gruppe stieß.

Halpern: Wie wurden Ihre Thesen aufgenommen?

Chakrabarty: Das war phasenweise unterschiedlich. Die ersten drei Bände wurden von indischen AkademikerInnen begrüßt, von denen viele der Ansicht waren, dass wir »gute«, indische Versionen dessen schufen, was die BritInnen »Geschichte von unten« nannten. Einige kritisierten unseren unorthodoxen Marxismus, doch alles in allem war die Resonanz positiv. Dies änderte sich etwas, als Subaltern Studies in der angloamerikanischen Welt als herausragendes Beispiel dafür übernommen wurde, wie postkoloniale Geschichte geschrieben werden könnte. Gayatri Spivak spielte dabei eine zentrale Rolle. Der von ihr und Guha im Jahr 1989 herausgegebene Band »Selected Subaltern Studies«1, für den Edward Said das Vorwort schrieb, machte die Reihe in Amerika berühmt. Die Kritik aus der postkolonialen Theorie wirkte sich auch darauf aus, wie wir schrieben und dachten. Zwei Kritikpunkte wurden schon sehr früh geäußert. FeministInnen kritisierten, dass wir alle Männer seien, und verwiesen auf das Fehlen von Gender-Fragen in den Subaltern Studies. Die Dekonstruktivistin Gayatri Spivak behauptete außerdem, wir hätten eine unzureichende Vorstellung vom Subjekt, und kritisierte Guhas Bereitschaft, »dem Subalternen die Kontrolle über sein eigenes Schicksal zuzugestehen«. Sie schrieb einen höchst einflussreichen Aufsatz, »Can the Subaltern Speak?« (»Kann der Subalterne sprechen?«)2, in dem sie versuchte, Geschichte und Dekonstruktion zu verbinden. In Indien wurde auch kritisiert, dass wir alle Gelehrte aus höheren Kasten seien – wie sollten wir also das Leben der Menschen niederer Kasten oder gar einstiger Unberührbarer verstehen oder repräsentieren? Mit der zunehmenden Anerkennung in der angloamerikanischen Welt kam hinzu, dass uns FreundInnen in Indien sagten, unsere Wissenschaftlichkeit würde dadurch getrübt, dass viele von uns außerhalb des Subkontinents lebten. Doch auch wenn unsere Theorien kritisiert wurden, waren sie bald sehr bekannt.

Halpern: Die Subaltern Studies haben auch eine wichtige Diskussion über historische Quellen angeregt, die nicht nur für Indien relevant ist …

Chakrabarty: Ja, diese Diskussion gehört heute zur globalen Geschichte. Eines der wichtigsten theoretischen Nebenprodukte der Subaltern Studies war, das historische Archiv selbst als Produkt von Machtverhältnissen zu begreifen. Mit anderen Worten, die LandarbeiterInnen und ArbeiterInnen lassen nicht nur keine Dokumente zurück, sondern die Dokumente, die über sie hinterlassen werden, entstammen den Modalitäten, nach denen sie beherrscht wurden. Die Dokumente selbst sind Teil der Herrschaftsgeschichte. Wir lesen das Archiv an sich kritisch; die Diskussion, warum man dokumentiert wurde und in welcher Form, sollte also selbst Teil der historischen Analyse sein und nicht nur Material, das von HistorikerInnen als gegeben betrachtet wird. Wir begannen uns also dafür zu interessieren, wie die herrschenden Gruppen und Klassen etwas über ihre Subjekte erfuhren, wie sie dazu kamen, sie zu repräsentieren, und wie solche Repräsentationen selbst Teil des Machtverhältnisses wurden, durch das Menschen beherrscht wurden. Dies entwickelte sich zu einem wichtigen Aspekt unserer Auseinandersetzung mit der Frage, ob man Macht in der indischen Gesellschaft in marxistischen oder offen kapitalistischen Begriffen beschreiben könnte.
Die Diskussion brachte schließlich auch Fragen zur Geschichte selbst auf. Wir fragten, um welche Art Meta-Archiv es sich bei der akademischen Disziplin handelt, die wir Geschichte nennen. Eines, das von Natur aus dem Staat zuspielt oder aber dem Vorhaben, eine Nation zu schaffen, wo es vorher noch keine gab? Daraus ergaben sich Fragen zum Verhältnis zwischen Geschichte und Staatsbürgerschaft, zwischen Geschichte und Nation. Die Menschen fragten: »Ist Geschichte die beste Art und Weise, meine/unsere Vergangenheit zu repräsentieren?« oder »Warum sollte ich Geschichte schreiben, wenn ein Roman mir hier bessere Dienste leistet?« Als wir Kancha Ilaih, einen intellektuellen Führer der niederen Kasten, baten, für den neunten Band von »Subaltern Studies« einen Aufsatz zu schreiben, begann dieser mit der Behauptung, die akademischen Methoden der Geschichtsschreibung seien zur Darstellung der Vergangenheit seiner Kaste/Gruppe ungeeignet. Die so genannten Archive, führte er an, seien in ihrer Gesamtheit von den Angehörigen der unterdrückenden hohen Kasten geschaffen worden. Die Wahrheit ihrer Geschichte – der Geschichte der Angehörigen der niederen Kasten – lässt sich nicht auf wissenschaftlichem Wege herausfinden. In einer methodologischen Diskussion stellt sich damit die Frage, ob das, was sich wissenschaftliche Geschichte nennt, stets auf der Seite der Gerechtigkeit ist. Marxistische HistorikerInnen gingen meist davon aus, dass die historische Wahrheit die Unterdrückten begünstige, da sie beweisen würde, dass nur die KapitalistInnen die Menschen täuschten. Doch ganz so einfach ist es nicht. In den 1980ern führten die marxistischen Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger den Begriff der »erfundenen Tradition« ein, den sie für eine wunderbare Möglichkeit hielten, die reaktionäre Mythenbildung zu entlarven. Sie bedachten jedoch nicht, dass die Unterdrückten, aus politischen Gründen und unter bestimmten Umständen, die so genannten Mythen oft auch den Fakten vorziehen könnten, die in den offiziellen Archiven bzw. denen der herrschenden Klasse »entdeckt« werden könnten. Interessante Folgen hatte die These von Hobsbawm und Ranger in Australien. Ein sich für die Rechte der Aborigines in Australien einsetzender Anthropologe dokumentierte vor ein paar Jahren, wie Bergbauunternehmen in Australien ausgebildete HistorikerInnen genau zu dem Zweck engagierten, nachzuweisen, dass es sich bei der Berufung der Aborigines auf die »Tradition« – wenn es um Land ging, an dem die Bergbauunternehmen interessiert waren – lediglich um »erfundene Traditionen« und nichts anderes handeln würde. Also heißt es auf Seiten der Aborigines oder auch der indischen »dalits« (wörtlich: Unterdrückte, eine Bezeichnung für Angehörige einer sehr niederen Kaste) häufig, dass schon die Methode wissenschaftlicher Geschichtsschreibung an sich befangen sei. Sie sieht wissenschaftlich aus, doch die Geschichte, die sie hervorbringt, erzählt nicht von allen ihren Erfahrungen in der Vergangenheit.

Halpern: Was bedeutet der Titel Ihres berühmtesten Buches, »Provincializing Europe«3?

Chakrabarty: In einem Satz zusammengefasst bedeutet er, dass die Modernitätskonzepte, die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert aus Europa kamen und universelle Gültigkeit beanspruchten, nur zum Teil universell waren; gleichzeitig waren sie auch provinziell. Es handelt sich somit um intellektuelle Ressourcen, die zugleich unerlässlich und unzureichend sind, um die Prozesse von Modernität und Modernisierung außerhalb Europas (und vielleicht auch innerhalb Europas) zu begreifen. Aus Europa kamen viele gute, hochherzige Ideen. Wir in Indien fanden sie nützlich; sie bereicherten unser Leben, denn sie brachten uns die universelle Vorstellung von Gerechtigkeit, moderne Formen der Kritik an der Unterdrückung und vieles mehr. Das Problem war jedoch schon immer, dass alles, was auf der einen Seite universell ist, auf der anderen auch beschränkt und provinziell ist. In einem Kapitel zu Marx versuche ich zu zeigen, dass wir zwar universelle Kategorien in unserem Denken benötigen, doch dass keine konkrete Instanz tatsächlich das Universelle verkörpern kann. Ein Beispiel: Marx sagte, es gebe universelle Kategorien wie das Kapital, und wenn man Marx liest, dann könnte man denken, dass diese Kategorie an einem konkreten Ort realisiert wurde, zum Beispiel England. Ich versuche zu zeigen, dass man bei genauerem Lesen feststellt, dass Marx tatsächlich mehrere Arten von historischem Verlauf zulässt, auch in seinem Verständnis der kapitalistischen Transformation. In jeder einzelnen Situation kapitalistischer Entwicklung gibt es Geschichten, die der Logik des Kapitals entsprechen, und Geschichten, die zwar mit kapitalistischen Beziehungen verquickt sind, jedoch auf Horizonte des Mensch-Seins hinweisen, die unbestimmt (oder unterbestimmt) sind von der Logik des Kapitals. Das persönliche Verhältnis von ArbeiterInnen zu ihrem Werkzeug kann beispielsweise geschichtliche Elemente beinhalten, die nicht vollständig in die Logik des Kapitals eingebunden sind. Oder man denke an die emotionale Beziehung eines Konsumenten zum Konsumobjekt. Dieselben Produkte verkaufen sich in verschiedenen Ländern häufig deshalb, weil sie sich in unterschiedliche Geschichten kultureller Praktiken einnisten können. Einige GlobalisierungstheoretikerInnen betrachten den Aspekt des Unterschieds hier lediglich als Folge des Kapitals, nichts weiter. Ich kann dem nicht zustimmen und wehre mich gegen diese Lesart, um zu zeigen, dass eine transzendentale oder universelle Kategorie wie »Kapital« in der Praxis nie realisiert wird. Die Funktion des Lokalen besteht nicht einfach in der Vermittlung des Globalen, und das Lokale ist auch nicht nur ein Produkt des Globalen.
Allerdings möchte ich nicht der Vorstellung universeller Kategorien als solcher widersprechen. Das Universelle ist aus methodologischer und heuristischer Sicht wertvoll, nimmt jedoch nie konkrete Gestalt an, auch wenn es sich ironischerweise nur dann äußert, wenn ein Betrüger seinen Platz eingenommen und etwas Falsches behauptet hat. Lassen Sie mich anhand eines Beispiels erläutern, was ich meine. Stellen Sie sich einen Anatomiekurs vor, in den ein ganz bestimmtes menschliches Skelett gebracht wird. Es ist das Skelett eines Menschen, der einmal gelebt hat und in seiner Art einzigartig war. Im Rahmen des Anatomiekurses jedoch muss dieses besondere und einzigartige Skelett aus Gründen des analytischen Denkens als universelles Skelett des Menschen betrachtet werden. Es steht für das Universelle. Es bringt das Universelle ins Blickfeld, ohne selbst universell zu sein.
Mit dem Ausdruck »Provinzialisierung« wollte ich sagen, dass wir allgemeine und universelle Ideen brauchen, jedoch nicht den Fehler machen dürfen zu denken, dass ein konkretes geografisches Gebilde wie der Westen die Realisierung einer universellen Kategorie wie »Kapital« sein kann. In der kulturellen Konversation zwischen KolonisatorIn und Kolonisiertem sollte man stets wachsam sein, was in dem Gesagten universell und was europäisch-provinziell ist. Die meisten europäischen DenkerInnen wie Kant, Marx oder Hegel gingen davon aus, dass ihr Denken für alle gleichermaßen galt. Ihre Behauptungen waren jedoch häufig europäisch und wurden in Unkenntnis der Geschichte des größten Teils der Menschheit erhoben (was nicht ihr persönlicher Fehler war, es gab keine entsprechende Wissenschaft). Ich denke, wir brauchen universelle Kategorien als regulative Vorstellungen. In dieser Hinsicht bin ich kein Relativist. In »Provincializing Europe« wollte ich zeigen, dass zwar jeder Anspruch auf Allgemeingültigkeit problematisch, die Vorstellung des Universellen jedoch trotzdem erforderlich ist.

Halpern: Ist eine globale Geschichte weiterhin denkbar?

Chakrabarty: Natürlich. Ich stelle die Notwendigkeit universeller oder globaler Kategorien nicht in Frage. Schauen Sie, es gibt schließlich genetische Fakten über Menschen, die nur Gegenstand äußerst umfassender und abstrakt-konkreter Geschichten sein können. Doch anstatt unsere Gedanken über globale Geschichte von dem Streben nach Aussagen leiten zu lassen, die alle einzelnen Geschichten transzendieren – ein kantisches Projekt, zum Beispiel, in dem das Universelle stets über das Lokale triumphiert, denn das ist die Bedingung der »Wissenschaft« –, sollten wir uns globale Geschichten mehr nach dem Konversationsmodell vorstellen. Wenn wir beide miteinander sprechen, setzt sich die Unterhaltung fort, weil wir nicht stets in allem einer Meinung sind. Wir brauchen Uneinigkeit und Unterschiede, damit sich eine Idee entwickeln kann. Würden wir in allem übereinstimmen, gäbe es nichts weiter zu sagen. Diese positive Einstellung gegenüber Uneinigkeit und Unterschied sollte bei der Suche nach globalen, verbundenen Geschichten des Menschen motivierend wirken. Unterschiedliche Vergangenheiten (häufig am selben Ort) haben unterschiedliche Geschichten der Gefühle und Kompetenzen hervorgebracht. Unterschiedliche Arten, Mensch zu sein, um es anders auszudrücken. Ich bin die Geschichtsschreibungen leid, die dazu neigen, die Vielfalt menschlicher Erfahrungen auf eine großartige soziologische Einheitlichkeit zu reduzieren: zum Beispiel die kapitalistische Produktionsweise. Und doch lässt sich die globale Taktung der kapitalistischen Produktion nicht verleugnen, die unsere jeweilige Zeit auf einer gewissen Abstraktions- und Realitätsebene synchronisiert. Ein großer Teil der Weltproduktion wäre nicht möglich, wenn wir unsere Zeitpläne nicht aufeinander abstimmen könnten. Manchmal jedoch funktioniert die Abstimmung nicht. Manchmal »versäumen« einige Menschen ihre Verabredung mit dem globalen Kapitalismus, aber dabei handelt sich nicht einfach um ein »Versäumnis«. Ob in Paris oder in Kalkutta, ich glaube das, was uns verbindet, und das, was verschiedene Geschichten bezeugt, ist gleichzeitig wirksam und schafft unterschiedliche – und interagierende – Gebilde aus Vergnügen und Schmerz. Globale Geschichtsschreibungen sollten den Geist der Konversation zwischen diesen Verschiedenheiten fördern. Wir setzen in einer Unterhaltung nie voraus, dass wir uns absolut klar und vollständig verstehen müssen, damit die Konversation fortschreiten kann, sondern wir handeln konstant Unterschiede aus, um Wissen über bzw. Verständnis füreinander zu entwickeln, das stets ein vorläufiges ist. Wege zu finden, wie wir unser Wissen ausdrücklich als vorläufig kennzeichnen können – auch in dem Moment, in dem wir das Wissen hervorbringen – könnte eine Möglichkeit sein, die Vielfalt der Methoden anzuerkennen, mit denen wir uns darum bemühen, uns auf diesem Planeten heimisch zu fühlen. Vielleicht sollte das Universelle eher wie eine Hypothese betrachtet werden, die sich stets korrigieren lässt.

Die französische Übersetzung dieses Interviews wurde veröffentlicht in »Sciences Humaines«, Oktober 2006 (http://www.scienceshumaines.com).

 

Übersetzt von Anja Schulte

 

1 Oxford University Press 1989; vgl. auch Ranajit Guha (Hg.), A Subaltern Studies Reader 1986–1995, University of Minnesota Press 1997.
2 Die deutschsprachige Ausgabe erschien 2007 bei Turia & Kant, Wien; vgl. die Besprechung in diesem Heft.
3 Princeton University Press 2000.