Heft 1/2009 - Netzteil


Anna und Paul halten das Maul

Zur Aktualität kybernetischer Steuerungsmetaphern im Kulturbetrieb

Hans-Christian Dany


Im Sommer 2008 luden der Hamburger Kunstverein und das Theater Kampnagelfabrik im Rahmen des Projekts »Wir nennen es Hamburg« zur »Ersten Hamburger Künstlerkonferenz« ein. KünstlerInnen, TänzerInnen und SchauspielerInnen, KuratorInnen und RegisseurInnen sollten auf einer »Open Space Konferenz« (OSK) miteinander ins Gespräch kommen. Das dabei verwendete Konferenzformat wurde 1985 von Harrison Owen mit dem Ziel der effektiveren Arbeitsteilung erfunden. Der Präsident einer erfolgreichen Unternehmensberatung, die neben vielen anderen Kunden Shell, Boeing und die Weltbank berät, ließ sich zu der Gesprächssteuerung von den »unkontrollierten« Märkten und rituellen Festen in den kleinen Buschdörfern Liberias anregen. Dort sei er zu der Einsicht gekommen, die geometrische Grundform der Kommunikation sei der Kreis. Zu seiner Übernahme aus dem Exotischen gesellte er mit der »Coffee-break-Metapher ein vertrautes rundes Bild. Kaffeepausen wären auf Konferenzen das Effizienteste, in ihnen käme das Wesentliche zur Sprache. Also erfand Owen die Konferenz als endlose Pause. Das Konzept wurde schnell ein großer Erfolg. Nicht nur Unternehmen, auch Kommunen wendeten die Gesprächssteuerung bald an, um ihre Schieflagen geradezureden. Nach einigen Jahren begann man die Anwendung auf soziale Gruppen, seien es »arbeitssuchende« Jugendliche oder jüngst die Hamburger Künstler. In milieuartigen Strukturen bietet OSK die Chance, offene Zusammenhänge kurzfristig in geschlossene Systeme zu verwandeln, um im Mikromodell Transparenz in ansonsten schwer zu durchschauende Gefügen herzustellen.
Die »Open Space«-Technologie ist dem zuzurechnen, was Gilles Deleuze als »Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen« beschrieb. Das »Open« stellt einen offenen Raum vor, meint aber ein Aufschließen mit dem Ziel, Einblick zu verschaffen. OSK soll Energien und Wünsche durchleuchten, um sie in zielstrebigen Anordnungen neu aufzustellen. Erfasste Widerstände oder Reibungsverluste sollen umgedeutet werden.

Zum Einsatz kommt OSK bevorzugt in Zusammenhängen, die sich aufgrund mangelnder Identifikation ihrer MitarbeiterInnen, VerbraucherInnen oder sonst wie Beteiligten in einer Krise befinden. Hier lädt das Management, als das sich mittlerweile fast alle steuernden Einheiten begreifen, zur Entwicklung neuer Leitbilder ein. Das erste Versprechen des inszenierten Ausnahmezustandes liegt darin, dass eine Situation hergestellt wird, in der alle gleichberechtigt seien. Das Management soll in der OSK den zu steuernden Menschen zuhören und in einer Sprache antworten, die alle verstehen. Zur Erzeugung eines gesprächsbereiten, sich kommunizierenden Ausnahmezustandes tut das Management so, als ob es seine Autorität an den Moderator abgibt, der im OSK-Jargon »Begleiter« genannt wird.

Im Open Space gibt es keine Podien und keine RednerInnen, die davon herab sprechen. Die gestufte Anordnung wird durch einen sich flach erstreckenden »Marktplatz« ersetzt, auf dem Kleingruppen sich sammeln und miteinander kommunizieren. Innerhalb der Kreise, die sich um selbst gestellte Einzelfragen zu einem vorgegebenen Hauptthema sammeln, ergreift, wer sprechen will, einen Stift und notiert in Stichworten seinen Beitrag auf einem in der Mitte liegenden Papierbogen. Die Protokolle werden auf Stellwänden zu Wandzeitungen zusammengesetzt. Wer das Interesse an seiner Gruppe verliert, steht einfach auf und schweift zwischen den Kreisen umher, bis ihn irgendwo das Gespräch wieder packt. Der Begleiter erklärt dies als »Gesetz der zwei Füße«, und alle sollten sich als »Schmetterlinge« und »Hummeln« begreifen.

Die ansonsten meist ungefragten, jetzt in Tierbilder verwandelten TeilnehmerInnen der Konferenz sind am Anfang etwas zurückhaltend und misstrauisch. Das Gespräch plätschert dahin. Nach einer Weile entsteigen aber einige ihren Kokons und werden wunderschöne »Schmetterlinge«, weil es sich bei dieser Verwandlung letztlich um eine Arbeitsanweisung handelt, sonst würde das »Gesetz der zwei Füße« sie vermutlich aus dem Raum führen. Immer mehr Münder öffnen sich, auch weil ihre Körper glauben, alle würden das hier tun. Staunend stellen die von der Atmosphäre Weichgespülten sprechend fest, ihnen wird zugehört, große Augen sehen sie an.

Die Handlungsanweisung des Begleiters – »Heute sprechen alle Ungleichberechtigten gleichberechtigt« – wirkt in auf Abhängigkeiten basierenden Verhältnissen als Konfusionsstrategie, da sie einen Widerspruch zwischen zwei unvereinbaren Inhalten in sich birgt. Gezielt dosiert lassen solche paradoxen Handlungsanweisungen ihren AdressatInnen kaum eine Möglichkeit, sich der Paradoxie der Nachricht zu entziehen. Ihre Bindung an den Sender verbietet es ihnen, die Anweisung als Metakommunikation zurückzuweisen.

Die in die Strategie eingeweihten, sich aber ahnungslos gebenden Auftraggeber der Konferenz werden hingegen durch ihren Wissensvorsprung doppelt mit Macht ausgestattet. Einige müssen sich bald beherrschen, aus all dem, was ihnen zu Ohren kommt, nicht sofort Steuerungstechniken abzuleiten und an den sich immer weiter verbal Entblößenden zu erproben. Der Moderator hat ihnen erklärt, sie müssten es stundenlang aus den Leuten hervorquellen lassen. Ziel sei es, im Redefluss der sich Öffnenden nach Redundanzen zu suchen, also wiederholbaren Sequenzen menschlicher Interaktion, die als rückkoppelbare Schlaufen in die zielstrebigen Steuerungsbefehle des Unternehmens oder der sozialen Struktur eingepflegt werden könnten.

Im Mikromodell wird darüber hinaus erzeugt, was die Kybernetik als Homöostase beschreibt. Diese tritt für gewöhnlich in selbst organisierenden Systemen auf. Sie balanciert Bedrohungen eines Gleichgewichts aus, um die Stabilität des Gefüges zu wahren. Bei der inszenierten Homöostase wird die scheinwirkliche Atmosphäre eines selbst organisierenden Organismus hergestellt, um dessen Dynamik im Rahmen fremdbestimmter Arbeit und kontrollierter Gemeinschaft abzuschöpfen.

Hat die perfide Wohlfühlatmosphäre der Konferenz am Abend ein Ende, streben alle schnell auseinander. Manche scheinen peinlich berührt von ihrer entkleideten Subjektivität. Andere fragen sich, ob das ganze Gerede nun die kostbare Zeit wert war. Eigentlich kam kaum etwas auf den Punkt, aber irgendwie war es schön, alle so gelöst, offen und ganz ohne Maske zu erleben.

Da die simulierte Homöostase bei Weitem nicht alles bereinigt, was vergiftet ist, muss das Management den Rest aufarbeiten. Die Auswertung der Protokolle liefert Material dafür, mit welchen Versprechungen die Leute noch bei der Stange gehalten werden können, wie sich Widerstände in die Ziele der Struktur umformen lassen und welche Normabweichungen umgedeutet werden müssen. Umdeutung meint hier, den sprachlichen und emotionalen Rahmen, in dem inhaltliche Fragen beurteilt werden, durch einen anderen zu ersetzen und dadurch deren Gesamtbedeutung zu ändern, ohne etwas an den Bedingungen, in denen der Steuerungskreislauf wirkt, zu verändern.

Den TeilnehmerInnen wird anschließend ein Leitbild oder so etwas in der Art, samt beschämend geschwätziger Protokolle, präsentiert, in denen sich der Konsens ihrer entleerten Wünsche spiegelt. Müssen größere Umdeutungen in der »Seele des Unternehmens« vorgenommen werden, wird die Parole vom »lebenslangen Lernen« bemüht, um besondere Kraftakte oder eine Aufbruchsstimmung einzufordern.

Kybernetik und Revolte
Die Auswertungen einer OSK erinnern nicht zufällig an die systemische Transaktionsanalyse mit ihren »Familienaufstellungen«, da beide Psychotechnologien auf den Erkenntnissen der Kybernetik aufbauen. Die zeitweilig aus der Mode gekommene Wissenschaft der Kybernetik leitet ihren Namen vom griechischen Wort »kybernetes« für Steuermann ab, im Lateinischen wurde daraus der »gubernator« und im Englischen der »governor«. Im Fokus Mitte des vergangenen Jahrhunderts entwickelten interdisziplinären Forschungsgebietes steht eine Betrachtung von biologischen und technologischen Verhaltensformen, in welcher die bis dahin verbreitete Auffassung einer Kausalität der Relation von Ursache und Wirkung durch die Annahme zirkulärer Operationen verdrängt wird. Dieser Paradigmenwechsel wurde zunächst stark durch ein militärisches Begehren angestoßen. Bomber flogen mittlerweile zu schnell, als dass die Flugabwehr direkt auf sie zielen konnte, ohne sie zu verfehlen. Deshalb wollte man die Position des Angreifers an dem Zeitpunkt in der Zukunft ermitteln, an dem das auf ihn geschossene Projektil ihn erreichen würde. Der Mathematiker Norbert Wiener wurde beauftragt, einen Apparatus zur Berechnung des zu erwartenden Verhaltens der feindlichen Piloten zu bauen. Begannen die Angreifer vom dem als Norm ermittelten Verhalten abzuweichen, versuchte der Apparat die Abweichung wieder mit einzubeziehen, um die Kontrolle aufrechtzuerhalten und den Feind weiterhin vernichten zu können. Um diese Herausforderung zu bewältigen, studierten die Pioniere der Kybernetik die Lernprozesse von Polypen oder das Wachstum riesiger Panzer bei Süßwasserfischen. Ihre mathematisch-technologischen Übersetzungen aus der Biologie wollten sie in Sätzen und Mechanismen formulieren, welche »die Glätte eines Eies von Brancusi« haben sollten.

Die geplante Waffenentwicklung scheiterte, ihre Erkenntnisse bildeten das Fundament für bis dahin unbekannte Formen der Kontrolle menschlichen Verhaltens. Was die Bevölkerung verteidigen sollte, wurde nun auf sie gewandt, wie immer selbstverständlich nur zu ihrem Besten.

Zentrales Werkzeug der neuen Vorstellung war das »Feedback«. Steuerbar werden sollte das Verhältnis von Welt und Ziel durch eine optimale Kommunikation via Rückkopplung, also Schlaufen zwischen Fühlern, deren Auswertung an den Computer und ihrer Übermittlung an die als »Greifer« bezeichneten Effektoren.

Gilles Deleuzes 1990 vage in die Welt gesetzter Begriff der Kontrollgesellschaft ließ die kommunizierenden Schlaufen erahnen, von denen eine in alle Richtungen fliehende Bevölkerung zukünftig durchzogen werden sollte. Mittlerweile bewegt sich der Totalitätsanspruch der Kontrolle im offenen Milieu zielsicher auf die Verwirklichung der von Deleuze aufgestellten Prognose zu.

Bei vielen ihrer Anwendungen, wie vielleicht auch bei der »Ersten Hamburger Künstlerkonferenz«, handelt es sich nicht einmal um den vorsätzlichen Einsatz der perfiden Steuerungstechnologie. Eher scheint auch dort die fatale Mischung aus Selbstoptimierung, Opportunismus und politischer Instinktlosigkeit zu wirken, womit allerorts halbbewusste Agenten die Verhältnisse der Kontrollgesellschaft stabilisieren. Konkret geht es solchen VerwalterInnen von Zeit und Raum durch Kultur eigentlich darum, mit allen Mitteln zu versuchen, Anschluss und Einsicht an und in das, was sie bürokratisch »Szenen« nennen, zu bekommen. Kurz: Sie versuchen einfach nur zu funktionieren.

Auch gegen solche fatalen Versuche, funktionieren zu wollen, hat das französische Autorenkollektiv Tiqqun den Begriff des »kybernetischen Kapitalismus« geprägt. Mit ihm lässt sich erstaunlich genau beschreiben, was nach dem durch die Krise des Finanzkapitals eingeläuteten Ende des neoliberalen Regulationsregimes nun zukünftig unter den Leitbegriffen Sicherheit, Kontrolle und Nachhaltigkeit durchgesetzt werden soll. Angesichts dieses vehementen Angriffs auf das, was vom Leben noch übrig ist, stellt sich immer dringender die Frage, in welcher Form man sich noch miteinander austauschen kann, ohne von den Kreisen der Kontrolle erfasst zu werden, oder besser: wie sich diese Erfassung stören lässt. Mit dem Tiqqun-Essay »Kybernetik und Revolte« liegt seit 2007 ein Vorschlag zum Widerstand in deutscher Übersetzung vor, der bisher leider viel zu wenig beachtet wurde.

Im Unterschied zu vielen anderen KritikerInnen der Kontrollgesellschaft klagen Tiqqun darin nicht das Recht einer unversehrten Privatsphäre ein. Denn genau diese bürgerliche Vorstellung eines Anspruchs auf Trennung – sei es des Eigentums oder der Nationen – und die Angst vor ihrem Verlust sind es, mit der die kontrollgesellschaftlichen Übergriffe laufend legitimiert werden.

Zielsicher umschiffen Tiqqun zudem das neomarxistische Missverständnis von Toni Negri und Michael Hardt, die Möglichkeiten der neuen Kommunikationstechnologien könnten auf dem Weg zum Kommunismus umgedeutet werden, in dem alle nicht nur Empfänger seien, sondern gleichzeitig in Sender verwandelt würden, was den Stimmen der Verdammten dieser Erde Gehör verschaffen würde. Tiqqun antworten auf diese Spekulation: »Man (wird) nicht die Reichtümer, sondern die Informationen teilen, und alle werden gleichzeitig Produzent und Konsument sein. Jeder wird zu seinem ›Selbstmedium‹! Der Kommunismus wird ein Kommunismus von Robotern sein!« Gegen die nach der Hässlichkeit der digitalen Revolution nur noch obszöne Analogie von Kommunikation und befreiter Gemeinschaft beschwören Tiqqun im Anschluss an Deleuze weiterhin »leere Zwischenräume der Nichtkommunikation«.

Als Möglichkeiten des Widerstandes gegen die auf Kommunikation bauende Kontrolle erkennen sie die Erzeugung von Nebel und Panik. »Undurchsichtig wie der Nebel zu werden bedeutet zu erkennen, dass man nichts repräsentiert, dass man nicht identifizierbar ist (…) Es bedeutet, mit allen Kräften Widerstand gegen jeden Kampf um Erkennbarkeit und Anerkennung zu leisten.« In solchen diffusen Zonen, in denen der kontrollgesellschaftliche Imperativ der Klarheit nicht mehr greift, wäre es möglich, jenseits der Informationsströme in »asozialen Singularitäten« die Revolte vorzubereiten.

Im kybernetischen Gefüge ausgelöste Panik könnte wiederum zerstörerische Kettenreaktionen im Gefüge der kommunizierenden Schlaufen auslösen. Welche Form solche Angriffe finden und welcher Mittel aus der Kunst sie sich bedienen könnten, gilt es wohl weniger zu beschreiben und damit zu kommunizieren, als sie zu erproben.

Tiqqun, Kybernetik und Revolte. Zürich/Berlin 2007.