Heft 1/2009 - Art on Demand


Anormale Wirkungsweisen

Die Kunst Pawel Freislers in den 1960er und 1970er Jahren

Lukasz Ronduda


Pawel Freisler studierte in den 1960er Jahren an der Warschauer Akademie der Schönen Künste und wurde dort stark von Oskar Hansen und seiner Theorie der »Offenen Form« beeinflusst.1 In den Jahren 1965–1967 nahm Freisler quasi Hansens Werkstatt, das »Plane and Solid Figure Design Studio«, in der Fakultät für Bildhauerei in Beschlag. Im Rahmen einer praktischen Studienarbeit errichtete er dort einen Kubus ausgestattet mit einem Tisch und zwei Stühlen (aus Brettern, Holzrahmen und Sperrholz) und schuf sich so seinen privaten Raum im öffentlichen Raum. Freislers 2 m³ großer Kubus mit der Aufschrift »Die Interaktion zwischen zwei Menschen kann ein Kunstwerk sein, muss es aber nicht« stand fast zwei Jahre in Hansens Werkstatt und diente als Treffpunkt, als Ort für Spiele, spontane Präsentationen, Ausstellungen, Minibühnenshows – wobei der intime Raum einen »Kontrapunkt zum Publikumsverkehr« der Werkstatt bildete. Aufgrund der Aktivitäten, die der Kubus mit sich brachte – das spontane Auftreten einer »offenen Form« –, rechnete Hansen dem jungen Studenten die Leistung auch für die Folgesemester an. Für Freisler war besonders der intellektuelle Aspekt an Hansens Theorie von Interesse: seine Vorstellungen von Prozesshaftigkeit und Unbestimmtheit, die konzeptuelle Interpretation von Form und vor allem sein einzigartiger Zeitbegriff (der Fluss der Zeit, die Veränderung von Form im Laufe der Zeit, die Veränderungen, die eine in der Zeit existente Form in der Wirklichkeit bewirkt, usw.).2Hansens extremer Rationalismus irritierte Freisler jedoch so sehr, dass er versuchte, diesem in seinen Aktionen eine irrationale Komponente entgegenzusetzen.

Eine wichtige Persönlichkeit, die der Künstler zu einem relativ frühen Zeitpunkt seiner Karriere kennenlernte, war Gerhard Jürgen Blum-Kwiatkowski, Leiter der Galeria EL in Elblag. Auf der Suche nach neuen Talenten besuchte dieser 1966 die Warschauer Kunstakademie und bot Freisler eine Art Artist-in-Residency in Elblag an. Diese beinhaltete auch die Möglichkeit, zusammen mit den ArbeiterInnen der mechanischen Fabrik Zamech an einem Großprojekt zu arbeiten. So verbrachte Freisler zwischen 1966 und 1969 viel Zeit in Elblag, half Blum-Kwiatkowski beim Aufbau seines Kunstzentrums Laboratorium Sztuki3 und zeichnete mitverantwortlich für die Atmosphäre und viele der Ideen, die dort geboren wurden.

Das Standard-Ei
Freislers Einladung nach Elblag resultierte in einem Ei aus Metall, das er in der Fabrik Zamech fertigte – was sicher auch auf Kwiatkowskis Bedürfnis nach übergroßen Raumskulpturen (Freisler nannte sie ironischerweise »Windmühlen«) zurückzuführen war. Zunächst suchte er zusammen mit den Damen der Fabrikkantine nach dem »schönsten«, dem perfekten Hühnerei, dann lernte er unter Aufsicht der Vorarbeiter der mechanischen Abteilung, die Drehbank und die Fräsmaschine zu bedienen, bis er schließlich das perfekte Modellei aus Edelstahl fertigte, ein Standard-Ei, das dazu dienen sollte, andere Eier vergleichen zu können, um anhand der Norm deren Qualität und Konformität zu beurteilen.4

Bei Zamech galt Freislers Augenmerk insbesondere den Arbeitsbedingungen, der Präzision der IngenieurInnen, den Idealmaßen, mit denen die Industrie operierte, den detaillierten Mustern und Designs, nach denen die hoch komplizierten Maschinen (unter anderem Turbinen für die Schwerindustrie) hergestellt wurden. Ihn faszinierte die vor allem für den Konstruktivismus interessante Idee der materiellen Dimension von Meter und Kilogramm: die Präsenz einer idealen ideellen Existenz, wie die des Meters und des Kilogramms, und ihr materielles Äquivalent in Form aller möglichen technischen Standards und Maßeinheiten, wie beispielsweise die Meter- und Kilogrammstandards der Internationalen Behörde für Gewichte und Maße BIPM in Sèvres, Frankreich. Die perfekte Synchronisation einer Idee mit ihrer materiellen Dimension, die Grundlage der Industrie, interessierte Freisler konzeptuell, weckte jedoch auch seinen Widerspruchsgeist. Nirgendwo anders, dachte Freisler, träfe man auf eine rechtlich sanktionierte und geschützte Beziehung, die sich durch ihre präzise Konformität zwischen der Welt des Universellen und dessen physischer Repräsentation auszeichnet – der Traum aller KonzeptualistInnen. Das völlig zweckmäßige Wesen dieser Beziehung beunruhigte ihn. Er begann darüber nachzudenken, in der Fabrik einen subversiven Materialstandard im Stil der Sèvreschen Maßprototypen zu schaffen, einen perversen Standard irgendeiner Idealform aus der Welt der essentiellen konzeptuellen Größen, wie etwa den Idealmeter oder das Idealkilogramm. Er entschied sich schließlich für das Ei, sowohl eine ideale geometrische Größe als auch ein alltäglicher Gegenstand der Realität. Freisler wollte mit diesem Projekt zeigen, dass die beiden Bereiche unmöglich zu synchronisieren seien. Es war der Versuch, bestimmte Ideen zu liberalisieren – sie aus den Fängen der technokratischen Ideologien, Standards und Vorstellungen zu befreien. In einem Brief an die Behörde für Gewichte und Maße BIPM in Sèvres schlug der Künstler vor, neben den Prototypen für Meter und Kilogramm auch den von ihm in der Zamech-Fabrik gefertigten Ei-Prototypen in ihre Sammlung aufzunehmen. Er empfahl dem BIPM außerdem, alle Eierproduzenten der Welt dazu aufzufordern, sich an das in Sèvres hinterlegte Standard-Ei zu halten (leider erhielt er nie eine Antwort).5

Offensichtlich kritisierte Freisler die (in Elblag stark vertretene) konstruktivistische Faszination für die Person des Ingenieurs, die Industrie, die Wissenschaft und die Technikkultur. Er schuf eine extrem interessante »Konzeptkunst«-Situation mit Elementen des surrealistisch-dadaistischen Humors. Er war einer der ersten KünstlerInnen in Elblag, die sich von der dort vorherrschenden Betonung auf Form, Physikalität und Monumentalität wegbewegten und stattdessen einen radikal konzeptuellen Ansatz verfolgten – einen Ansatz, der, ganz typisch für die Konzeptkunst, auf die Sphäre des Ideals, auf konzeptuelle Größen verwies, auf Operationen auf der Ebene der Vorstellungskraft und des Intellekts, die schließlich wichtiger wurden als die vorherigen Verstrickungen in Fragen der Ästhetik, wichtiger als das Material, das Objekt, als Sichtbarkeit oder mediale/räumliche Besonderheit. Wir sehen hier einerseits eine gewisse Selbstironie, einen Versuch, die Person des Konzeptualisten herauszufordern, die behauptet, Zugang zum Bereich der Idealgrößen und -vorstellungen zu haben. Andererseits strebte Freisler in seinen Folgeprojekten aber auch danach, Konzepte und Vorstellungen aus ihren übermäßig funktionalistischen und materialistischen Gefängnissen zu befreien.

Freisler, Golas, Belmondo
Das Edelstahl-Ei aus der Zamech-Fabrik in Elblag war erst der Anfang eines einzigartigen Kunstprojekts. Als Freisler nach Warschau zurückkehrte, begann er in Kunst- und Literaturkreisen Interesse für das Ei zu wecken. Er erzählte verschiedene widersprüchliche Geschichten hinsichtlich seines Ursprungs und Zwecks. Einmal behauptete er beispielsweise, er hätte aus Sèvres eine negative Antwort auf sein Schreiben erhalten. Man hätte ihm (den man offensichtlich für einen verrückten Wissenschaftler aus Osteuropa hielt) empfohlen, sein Anliegen in Moskau vorzutragen. Freisler ging es darum, mit der ständig neu erfundenen Geschichte desselben Objekts die Neugier der Menschen zu wecken, sie zu verzaubern und zu inspirieren, die Geschichte weiterzuerzählen. Dabei freute er sich über jede Veränderung und Neuerung, die sich im Laufe solch eines Kommunikationsprozesses vollzog. Mit der Schaffung von Geschichten und Legenden verfolgte Freisler ein künstlerisches Interesse. Es faszinierte ihn, »mentale Realitäten« zu schaffen, Wahrheiten und Fakten, die rein sprachlich, also nur auf imaginärer Ebene produziert wurden und die sich weder physisch materialisieren, noch als real erweisen mussten. Freisler dokumentierte seine Arbeit absichtlich nicht. Sein Schaffen sollte lediglich als Legende existieren, auf rein imaginärer Ebene, in mentalen, immateriellen Räumen. Dazu muss man wissen, dass der Künstler und seine Familie sehr unter der kommunistischen Herrschaft gelitten hatten. Schon damals verbot ihm sein Widerwille gegen eine auch nur irgendwie geartete Legitimierung des Regimes, materielle Beweise seiner künstlerischen Aktivitäten zu schaffen, welche die FunktionärInnen des Regimes hätten nutzen können, um sie als etwas zu präsentieren, das sie unterstützt oder zu dem sie beigetragen hätten.6 Aufgrund dieser Faktoren war dem Schöpfer des Standard-Eis daran gelegen, eine Gemeinschaft von Menschen zu schaffen, die durch eine mysteriöse Geschichte (ob real oder imaginär) miteinander verbunden waren. Der Künstler betrachtete die Legenden, die in Verbindung mit seinem Projekt entstanden, als Katalysatoren der gesellschaftlichen Situation, die zur Entstehung einer mentalen Gemeinschaft beitrugen. Eine bedeutende Entwicklung innerhalb des Projekts war die Einführung einer ungewöhnlichen, exzentrischen, die Fantasie anregenden Figur, die aus dem Nichts mit dem idealen Prototyp auftauchte, dem »Standard-Ei«, wie eine dadaistisch-surealistische Repräsentantin der Internationalen Behörde für Gewichte und Maße.

»Theater«7 war ein weiteres Charakteristikum Freislers künstlerischer Praxis (der Künstler benutzt diesen Begriff absichtlich in Abgrenzung zu Begriffen wie »Aktion«)8. Nach einiger Zeit beschloss Freisler, »das Theater zu professionalisieren«, die Geschichten, die in Verbindung mit dem Elblag-Ei entstanden, zu institutionalisieren, indem er sich mit einem Schauspieler, einem professionellen Mythen- und Legendenmacher, zusammentat. Er schrieb die Namen von zehn Personen aus Film und Theater auf und zog einen davon. Der Gewinner war Wieslaw Golas, ein bekannter Schauspieler, dem Freisler daraufhin die Teilnahme an diesem ungewöhnlichen Projekt anbot. Der Schauspieler erklärte sich einverstanden, das Ei ein Jahr mit sich herumzutragen und es jedem zu zeigen, der ihn darauf ansprach (bzw. auf Nachfrage zu bestätigen, dass er es bei sich hatte)9. Und schon war eine weitere bizarre Legende geboren: Wieslaw Golas trug das Ei mit sich herum, was aber nur verifiziert werden konnte, wenn man den Schauspieler persönlich danach fragte. Als das Jahr vorüber und die Zusammenarbeit mit Golas (der immer noch das Gefühl hatte, Freislers Projekt fehle »irgendetwas«) beendet war, zog der Künstler erneut den Namen einer Berühmtheit aus der Film- und Theaterwelt, aber diesmal der internationalen: Jean Paul Belmondo. Freislers Timing sollte hier nicht unerwähnt bleiben. Das Ganze trug sich im Frühjahr 1968 nach den »März-Unruhen« in Polen zu. Und so beschloss Freisler im Sommer 1968 das Edelstahl-Ei einem Freund zu geben, der nach Frankreich auswandern wollte, damit dieser dem Schauspieler das Ei überreichen konnte. Dieser Freund war einer von seinen vielen Bekannten, die Polen damals aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verlassen mussten. Allerdings tauchte er in Frankreich unter und schickte das Ei einige Zeit später per Post zurück, ohne jegliche Information darüber, ob Belmondo es in den Fingern gehabt hatte oder nicht. Obgleich der Filmstar höchstwahrscheinlich keinen Schimmer von der Existenz des Eis hatte, autorisierte Freisler verschiedene Personen, Geschichten darüber zu erfinden und weiterzuerzählen, was der französische Schauspieler angeblich mit dem Standard-Ei aus Zamech angestellt habe. Eine der beliebtesten Versionen ist die, in der Belmondo das Ei (bei extrem langsamer Geschwindigkeit) auf der Motorhaube seines Luxuswagens durch die Straßen von Paris fährt.10 Freisler führte das »Theater«-Projekt rund um das Ei auch später noch fort.11

Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang eine Begebenheit zwischen Freisler und Wieslaw Gola. Als der Schauspieler ihn nach einer Anekdote fragte, die er als witzige Antwort auf die Frage, wozu er das Ei brauche, erzählen könnte, überlegte Freisler eine Zeitlang und suchte schließlich ein Fragment aus »Anatomie des Gag« (1966) von dem damals schon anerkannten tschechischen Bühnenautor und Schriftsteller Vaclav Havel heraus. Beeinflusst durch diesen Text begann der Künstler Auftritte rund um das Thema Farce und Komödie zu organisieren. Bei seinen Auftritten verwies er auf Gags aus klassischen »Slapstick«-Stummfilmen. So nahm Freislers künstlerische Tätigkeit nach und nach eine einzigartige Erzählstruktur an: eine Verbindung unterschiedlichster, scheinbar fernab voneinander existierender Elemente der Wirklichkeit. Die Tätigkeit des Künstlers wurde zu einem narrativen Archiv aus Gesten, Ereignissen, Objekten (Zamech, das Stahl-Ei, eine Legende, das Theater, Golas, Havel, der Gag), in dem ein Element übergangslos zum nächsten führte und so weiter und so fort. Freisler entwickelte seine künstlerische Erzählweise stets weiter, ohne sich zufälligen Ereignissen zu verschließen. Er verlieh ihnen eine Apriori-Bedeutung, hierarchisierte die Bedeutung der einzelnen Elemente anders als in der von Funktionalismus und Pragmatismus beherrschten Wirklichkeit. Bei seiner heterogenen Erzählweise, der prozesshaften Aufeinanderfolge unterschiedlicher Elemente war für Freisler ein Aspekt von entscheidender Bedeutung, die Zeit – auch entscheidend für die Konzeptkunst –, die »Kontinuität« des existentiell-künstlerischen Prozesses.

Zeit
Freisler interessierte sich nicht nur für die Analyse des (im Grunde modernistischen) Konformitätsverhältnisses zwischen einer idealen, imaginären Vorstellung von Form (oder einer essentiellen Idee von Raum) und ihrer tatsächlichen Umsetzung, sondern auch für die verkehrten Wirkungsweisen dieser Beziehung. Dieses Thema war ihm bereits in Hansens Werkstatt in Elblag begegnet. Das Projekt vom idealen Ei störte die Utopie – die optimale, perfekte Übereinstimmung der beiden Bereiche, welche Ideen und Vorstellungen freisetzte und ihnen ein Überleben in der Konfrontation mit der Realität bot. Im Geiste eines essentiellen Konzeptualismus interessierte sich Freisler mehr für ideale, immaterielle Größen und allgemeine Vorstellungen als für deren physische Äquivalente und Prototypen. Wie bereits erwähnt, bestand das eigentliche Material seiner Projekte neben seinen eigenen Vorstellungen aus denen anderer Leute, die er mit dem »Theater«, das seine Projekte erzeugten, zu verzaubern suchte. 1969 wurde Freisler von Gerard Kwiatkowski eingeladen, an der 3. Biennale der Räumlichen Formen in Elblag teilzunehmen. Sein Beitrag war die Arbeit »Eine Theorie der Zeit«. Sie bestand aus einer Sammlung von Flaschen gefüllt mit Metallstückchen. Ähnlich wie in seinen vorherigen Arbeiten, die aus der Faszination für das Verhältnis zwischen der wesentlichen Dimension des Raums (der Idee des Kilogramms und des Meters) und seinem materiellen Äquivalent (dem Standard) entstanden waren, ging Freisler hier der Vorstellung von Zeit auf den Grund, ihrem Fluss, ihrer Dauer – im Verhältnis zu ihren physikalischen Prototypen (Kalender, Uhr), ihren pragmatischen Messungen, ihren mechanischen Unterteilungen in einfach zu messende Einheiten (Sekunde, Stunde, Tag, Monat, Jahr). Die Metallstücke waren in chemische Reagenzien getaucht und sollten über die Jahre korrodieren, wodurch ein Maß für das Vergehen von Zeit entstehen würde. Freisler interessierte die Lebensdauer dieser Flaschen, die Analyse des Zeitflusses, der Abdruck, den die Zeit auf einem bestimmten Fragment der materiellen Realität hinterlassen würde. In Absprache mit Gerard Kwiatkowski nahm das Projekt die Form einer Galerie an, in der einige Hundert Flaschen12 permanent ausgestellt wurden, und zwar in den Räumlichkeiten des Laboratorium Sztuki.13

Eine ähnliche Reflexion zum Thema Zeit fand sich in der Arbeit »Der Kalender« (1970). Ihre Lebensdauer war aber um einiges geringer. An eine Wand in der Nähe der Galerie hängte der Künstler 365 Stücke gewöhnliches graues Papier, die an einen Wandkalender erinnern sollten, und riss sie anschließend eins ums andere ab, so wie man die Seiten eines Kalenders abreißt und damit das Vergehen von Tagen, Wochen, Monaten markiert. Der Künstler schrieb: »Ein ›Kalender‹, 365 plus ein Vorrat an Einpackpapier, eine Grundlage für Metaphern oder das Bild einer Metapher, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat.«14 Nach eigenen Angaben wollte er damit die allgemeine Vorstellung von Zeit, den Zeitbegriff von allen Maßeinheiten, all den Spezifikationen befreien, die wir ihm auferlegen.

Mysterium
Freislers Gag-Auftritte fanden oft ohne Publikum statt, ohne Vorankündigung, spontan und an öffentlichen Orten, so zum Beispiel die Aktion15 »Ich sehe meine Teekanne als übergroß an«, in der er mit einer großen blauen Emailteekanne, an der ein Zettel mit dem Titel der Aktion befestigt war, vor dem Gebäude des Kultusministeriums steht. Oder jene, bei der er mit einem rot angemalten Ohr die Krakowskie Przedmiescie hoch und runter spaziert. In dem Projekt »Eine Handbedeckung kann aussehen wie ein Geigenkasten, aber eine Nasenbedeckung sollte angemessen sein« bastelte der Künstler aus der Ecke eines Kopfkissenbezugs eine Nasenbedeckung, die er weiß anmalte und mit zwei Schnüren an seinem Kopf befestigte, so dass er aussah wie »Pinocchio mit kurzer Nase« (eigene Beschreibung des Künstlers). Die Nasenbedeckung setzte er auf, sobald die Unterhaltung mit einem Gegenüber ihn zu langweilen begann oder wenn er ihren Verlauf ändern wollte (ansonsten hing die Nasenbedeckung ihm wie eine Halskette vor der Brust).

Auch Freislers komplexe Projekte mit einem Tisch und Stühlen sowohl in seiner »Galerie« als auch in der Galeria Sigma sollten in diesem Zusammenhang Erwähnung finden.16 Die Elemente faszinierten durch ihre simple Funktionalität. Sie waren bei nahezu allen Ausstellungen in der »Galerie« und im Sigma präsent und leisteten somit einen entscheidenden Beitrag zur Schaffung des sozialen und kreativen »Kapitals«, zum Aufbau einer Gemeinschaft, und sie waren überdies identitätsstiftend. Wie mit dem Standard-Ei führte Freisler auch mit dem Tisch und den Stühlen allerlei Aktionen durch: Er nahm sie mit auf einen »Spaziergang« durch Warschau, schleppte sie zum Platz vor dem Kulturpalast, ließ sie dort stehen und bat andere KünstlerInnen, mit ihnen zu interagieren (hier nahm Ryszard Winiarskis berühmtes Spiel »Auf einem Tisch für einen Stuhl«, 1972, seinen Ursprung,17 es gab eine Auf-dem-Tisch-Performance der Band Grupa w Skladzie18, ein Konzert von Jacek Malicki und Andrzej Biezan19 und einen Filmworkshop mit Waclaw Antczak). Freisler bestieg den Tisch, um zusammen mit dem Schauspieler Kuba Peksa20 Übungen vorzuführen, er schrieb einen Brief an die SchriftstellerInnen Warschaus und bat sie um eine Definition von »Tisch«, er stellte den Tisch für eine Ausstellung in der Galerie Zacheta (»Mensch und Arbeit«)21 zur Verfügung, er führte davor öffentliche Unterhaltungen,22 nahm ihn mit auf Trampertouren nach Elblag und Krakau. Als Folge derartiger Aktionen gingen etwa sechs Tische zu Bruch, die er jeweils durch identische Exemplare aus der Warschauer Universität ersetzte. 1972 versuchte er im Rahmen einer Aktion in Elblag, ganz in Weiß gekleidet und mit einem langen schwarzen Bart, beladen mit einem weißen Tisch und einem Stuhl, eine Straßenbahn zu besteigen, eine Messe zu »hören«, das Restaurant Restauracja Slowianska zu betreten (in dem der Tisch gedeckt und seine Speisen darauf serviert wurden), und erregte damit jedes Mal die Neugier von PassantInnen, RestaurantbesitzerInnen, KirchgängerInnen etc.23 Wichtig war dabei der Status des Tischs als »Grundidee« – als Objekt, das so gewöhnlich war wie ein Ei oder eine Flasche. Auch hier interessierten den Künstler die anormalen Wirkungsweisen in Bezug auf das Verhältnis zwischen einer bestimmten universellen Idee – dem Tisch (das »Wesen« eines Tischs) – und seinen verschiedenen materiellen Manifestationen, Zerstörungen, Verwandlungen, Austauschungen. Er wollte etwas erfahren über die Unendlichkeit des Prozesses, der aus einer universellen Idee immer neue Tische werden lässt (die Tatsache, dass es trotz aller Aktionen immer noch ein und derselbe Tisch ist). Wie Freislers andere Arbeiten entwickelte sich auch dieses Projekt prozesshaft mit der Zeit. Innerhalb der Erzählstruktur, die der Künstler gesponnen hatte, kam eins zum anderen.

In seinen Aktionen mit dem Tisch und anderen »Theater«-Vorstellungen und Aktionen versuchte Freisler stets zu erstaunen, ohne jedoch auch nur den geringsten Hinweis auf die tatsächliche Bedeutung seiner Aktivitäten zu geben. Auch mit dem »Gag-Theater« trat er in seiner »Galerie« auf; dafür organisierte er zahlreiche komische Kunstprojekte (zum Beispiel »Der Grashüpfer« oder »Hatte er ein Grübchen am Kinn oder nicht?«)24. Ein anderes Langzeitprojekt, das Teatr Hildegarda, bestand darin, verschiedene Objekte (Spielzeuge oder Lebensmittel) zusammenzutragen und damit kleine Geschichten zu erzählen, die das Publikum neugierig machen und ermutigen sollten, von dem Gesehenen eigene Interpretation und Versionen zum Besten zu geben.25

Freislers Aussehen spielte bei seinen Aktionen und Performances eine bedeutende Rolle. Sein exzentrisches Erscheinungsbild – ein dichter schwarzer Bart und Haarmopp kombiniert mit weiß gestrichener Arbeiterkleidung – radikalisierte er noch weiter, indem er im Rahmen des »Theater« seine Brille vor dem Publikum ebenfalls weiß anstrich oder demonstrativ Make-up auftrug. (Teatr Hildegarda, Galeria Repassage, 1975). Dann platzierte der Künstler ein solches Porträt von sich (auf dem er fast wie ein Wesen aus dem All aussah) in der Zeitschrift »Linia«26 und gab ihm die absurde Bildunterschrift »Mir wird Schokolade gegeben von dem Moment an bin ich abwesend ich nehme an keiner weiteren Sekunde meines Lebens mehr teil mir wird eine Milliarde Mal Schokolade gegeben«27. Der exzentrische Auftritt und sein Verhalten wie aus einem Slapstickstummfilm28 waren für Freisler bewusst gewählte Strategien. Einerseits wollte er die Neugier des Publikums wecken, es dazu zwingen, althergebrachte Ansichten zu hinterfragen, es dazu ermutigen, seine eigenen Erzählformen zu finden, während er andererseits das Mysterium der Bedeutung seiner Praxis und seiner Kunst sehr gut hütete. Er duldete kein klares Bild von sich, zeigte sich nur verschwommen. Ähnlich wie ein anderer Künstler seiner Zeit, Marek Konieczny, versuchte er mittels seiner Aktionen, die in Kategorien wie Mysterium, Verwirrung, Intrige (sowohl im öffentlichen Raum als auch in der »Galerie«) aufgeteilt waren, das Publikum zu »de-standardisieren«, seine Vorstellungskraft zu stimulieren. Die BetrachterInnen sollten andere Personen so ansehen, als seien sie unentdeckte, faszinierende Rätsel. Er wollte den Status quo der Realität verneinen und die Menschen dazu ermutigen, sich alternative, imaginäre Ordnungen zu schaffen. Die Verwertung filmischer und theatralischer Vorstellungen war Freisler ein nützliches Hilfsmittel in seinem Kampf gegen Standardinterpretationen, gegen Versuche, das Wesen seiner künstlerischen Praxis – seine Existenz – zu objektivieren und zu instrumentalisieren. Ein Hilfsmittel, das es ihm fortwährend ermöglichte, auf eine andere, imaginäre, alternative Realität zu verweisen.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen

 

1 Professor Oskar Hansen war eine Schlüsselfigur für die junge KünstlerInnengeneration und ihre Experimente. Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit entwickelte er die sogenannte »Offene Form«, die auf die Utopien der Avantgarde zurückging. Demnach war Raum für ihn eine von Menschen geformte mental-gesellschaftliche, dynamische Struktur.
2 Freisler verstand den Kubus als die erste Manifestation seiner »Galerie«. Ende 1969, Anfang 1970 organisierte er in Warschau eine Reihe von Miniausstellungen mit dem Titel »Dreißig Meter von einem Wunder entfernt«, in deren Rahmen er in öffentlichen Räumen (in Empfangshallen, auf Parkbänken) kleine Anordnungen verschiedener Objekte zur Schau stellte.
3 Das Laboratorium Sztuki, in den 1960ern von Gerard Kwiatkowski gegründet und bis 1974 in der Galeria EL in Elblag betrieben, wurde zu einem der interessantesten Kunstzentren Polens.
4 Mehrere mysteriöse (unkommentierte) Fotos, die den Entstehungsprozess des Eis zeigen, sind zu sehen im Ausstellungskatalog »Pokaz Nr 1«, Warschau 1970.
5 Wojciech Przedwojewski, Ingenieur bei Zamech und damaliger Mitarbeiter von Freisler, bestätigt, dass ein solcher Brief an das BIPM geschickt wurde.
6 Wenn der Künstler mit einem Statement an die Öffentlichkeit ging (zum Beispiel in der Aktion um die Zeitschrift »Linia« oder in Józef Robakowskis Film »The Living Gallery«), war dieses entweder extrem widersprüchlich, zweideutig oder verschwommen. Freislers eigene »Galerie« auf der Krakowskie Przedmiescie in Warschau folgte der Maxime, nie einen Katalog zu veröffentlichen, um bloß kein »Kapital« für ihren Sponsor zu erwirtschaften, die Sozialistische Vereinigung Polnischer Studenten (SZSP).
7 Der Künstler setzt das Wort »Theater« stets in Anführungszeichen, ebenso wie die »Galerie«.
8 Freisler nahm Mitte der 1960er Jahre mit seinem Projekt »Teatr Grozy Bydlak«, bei dem er sich während der Vorstellungen sehr flegelhaft benahm, an verschiedenen studentischen Theaterfestivals teil (Torun, Wroclaw).
9 Die Vereinbarung zwischen dem Schauspieler und Freisler wurde im Büro der Zeitschrift »Projekt« unterzeichnet.
10 Der Kritiker Krzysztof Teodor Toeplitz veröffentlichte in »Kultura« einen Essay über das Projekt. Die Erzählungen des Künstlers werden zudem von vielen seiner damaligen Bekannten bestätigt, darunter Tomasz Sikorski und Szablocs Estenyi.
11 Einer der »glücklichen Gewinner« der 1980er Jahre war der damalige US-Präsident Ronald Reagan.
12 Ryszard Tomczyk schrieb in seinem Essay »Pawel Freisler and the Fascination with Time« (Glos Elblag, 9. Oktober 1969) von riesigen Wassertanks, gefüllt mit chemikalischen Reagenzien. Anstelle von Wassertanks verwendete Freisler schließlich normale Flaschen, die er in Elblag gesammelt hatte.
13 Siehe P. Freisler, A Continuation of the »Theory of Time«, in: Notatnik Robotnika Sztuki, Nr. 3 (21. Juli 1972). Leider wurden nach Gerard Kwiatkowskis Ausscheiden im Jahr 1973 Freislers »Zeitkapseln« wie die meisten anderen zerbrechlichen Stücke, die damals in der Galeria EL gelagert bzw. ausgestellt waren, zerstört.
14 P. Freisler, ohne Titel, Bildtext unter einer Reproduktion des Werkes in: Autonomiczny ruch konceptualny w Polsce, hg. v. Zbigniew Warpechowski. Lublin 2002.
15 Da bei Freisler der Begriff »Theater« für Auftritte vor Publikum vorbehalten ist, verwende ich den Begriff »Aktion«, um seine unangekündigten Auftritt im öffentlichen Raum zu bezeichnen.
16 Freisler begann mit seinen Objektaktionen (»Aktionen – Tisch, Stühle«) im Jahr 1971. Vgl. Sigma, Galeria Repassage, Repassage 2, hg. v. Maryla Sitkowska, Galeria Zacheta. Warschau 1993, S. 22.
17 Ebd., S. 24, 60. Erwähnenswert ist hier die bedeutende Rolle, die Freislers Tisch bei der Veranstaltung »Die Reinigung der Kunst« zukam, die er 1972 für seine »Galerie« organisierte.
18 Vgl. Sigma, Repassage, S. 24.
19 Ebd.
20 Ebd., S. 23.
21 Das Angebot wurde abgelehnt.
22 P. Freisler, Aktion – Treffen und Unterhalten, 17. Februar 1972, vgl.: Sigma, Repassag, S. 23.
23 Vgl. Notatnik Robotnika Sztuki, Nr. 1, 1972.
24 Vgl. Sigma, Repassage.
25 Einer der Kataloge der Galleria Repassage druckte Publikumsbeschreibungen und Erfahrungsberichte einer Performance des Teatr Hildegarda ab (was Freisler angefochten hat, da er gegen jede Art von Katalogisierung war. Seine künstlerische Praxis sollte in Form von Legenden funktionieren), Galeria Repassage, Saison 1974/1975.
26 Auch im Kontext von Tomasz Sikorskis kuratorischem Projekt (»Linia«, Oktober 1976) sollte man Freislers mysteriösen Auftritt erwähnen. In dem einminütigen Film »Living Gallery« (1975) von Józef Robakowski stand er nur still da und pfiff.
27 Freisler übersetzte die Formel in viele Sprachen, darunter in eine hieroglyphische Transkription, angefertigt vom Ägyptologischen Seminar der Universität Warschau.
28 Freisler betonte immer wieder seine Faszination für Buster Keaton.