Heft 2/2011 - Nicht integriert


The Immigrants Are All Right

Europäische Multikultur und die Aussichten orgiastischer Erlösung

Süreyyya Evren


Sind MigrantInnen okay? Fühlt sich die Türkei wie der (biologische) Vater eurotürkischer MigrantInnen mit lesbischen europäischen Eltern, so wie in Lisa Cholodenkos kontroversem Film von 2010, »The Kids Are All Right«? Und sind TürkInnen in Deutschland in den Augen der Türkei (ihre) armen, in einer »lesbischen« europäischen Familie (der EU) gefangenen Kinder, einer Familie, die gleichzeitig von sich selbst behauptet, sie sei die Modernste, Demokratischste, Radikalste und Nachhaltigste, Beständigste und Effizienteste von allen?
Zurzeit findet man in türkischen Zeitungen immer wieder Artikel zum 50. Jahrestag der Verschickung der ersten türkischen ArbeitsmigrantInnen nach Deutschland. Die dazugehörigen Nachrichten sind gespickt mit Zahlen: wie viele Millionen »türkische Deutsche« heute in Deutschland leben, wie viel Prozent aller in Deutschland lebenden MigrantInnen TürkInnen sind, und dann: wie viele von ihnen arbeitslos sind, wie viele ihre Schulausbildung ohne Abschluss beenden und so weiter. Wie zu vermuten ist, beginnt das Zahlenspiel mit »Personenzahlen«, geht dann aber nach und nach in eine Aufzählung von »Misserfolgen« über. Irgendwann zeigen alle Zahlen, was die türkische Bevölkerung in Deutschland alles nicht tut oder tun kann. Die Geschichte der Arbeitsmigration wird zur Geschichte einer gescheiterten Idee. Was irgendwann einmal, so sind sich alle einig, als ein guter Ansatz erschien, entpuppte sich schließlich als großer Fehler. Und nun haben wir eine »gescheiterte Nation« innerhalb einer anderen Nation. Dennoch unterscheidet sich die türkische Sichtweise auf die türkischen Deutschen als gescheiterter Nation von der jüngsten Absage Angela Merkels an Multikulti.
Merkel schwebt eine konservative Wiederauflage des kulturethnologischen Liberalismus (was von David Cameron und Nicolas Sarkozy kurz darauf mit offenen Armen begrüßt wurde) vor. Alle spielen sie mit Klischeevorstellungen: Gute Absichten (auf beiden Seiten) scheitern aufgrund falscher Ideen, alle wollen einander doch nur lieb haben, schaffen es aber nicht (wiederum aufgrund falscher Ideen). Alle bekunden, wir bräuchten einen »neuen« Konservativismus, der sich für den liberalsten aller Wege ausgibt (weil alle anderen, liberaleren Wege irgendwann gescheitert sind).
Lisa Cholodenkos Film »The Kids Are All Right« spielt ebenfalls mit verschiedenen Klischeevorstellungen. Er ist ein perfektes Beispiel für die konservative Synthese zwischen Konservativismus und Radikalismus. Zunächst wird die Kanonisierung von Homosexualität als ultramoderner Höhepunkt des sozialen Fortschritts dargestellt. Eine lesbische Familie, zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, mit unterschiedlichen Müttern, gezeugt durch künstliche Befruchtung. Eine klassische Kleinfamilie mit zwei Kindern unterschiedlichen Geschlechts. Eine Liebesgeschichte zwischen den Eltern, wie sie schon 1.000 Mal erzählt wurde. Sie lernten sich an der Uni kennen, heute hat ein Elternteil einen guten Job, die andere kümmert sich perfekt um die Kinder. Sie leben in einem schönen Haus, sie haben ihre Rituale. Die Eltern haben ein vertrautes Sexualleben, die Kinder streiten erwartungsgemäß gelegentlich, lieben einander aber und so weiter. Der einzige Unterschied, der aus dieser Kleinfamilie eine radikale Kleinfamilie macht, ist das Geschlecht der Eltern: Beide sind Frauen. Da aber ein Elternteil in der Rolle der Vaterfigur recht überzeugend rüberkommt, wäre es unfair zu sagen, den Kindern fehle die Vaterfigur. So weit, so gut. Der Film zeigt uns, dass gleichgeschlechtliche Paare heute nicht mehr nur PionierInnen im Kampf um das eigene Vergnügen sind, sondern auch PionierInnen für die Gesellschaft als solche, indem sie angesehene homosexuelle Familien gründen. Dann nimmt der Film seine erste scharfe konservative Wendung: Zuerst wird uns mitgeteilt, die Kinder seien unzufrieden mit zwei Müttern, trotz gut gespielter Vaterfigur, sie hätten lieber einen »Mann«-Vater – »the real thing«. Und noch schlimmer: Der Elternteil, der sich perfekt um die Kinder und das Haus kümmert (gespielt von Julianne Moore), stellt fest, dass sie mit der lesbischen Beziehung ebenfalls unzufrieden ist. Sie will auch lieber »the real thing« – und es folgen peinlich konservative, ja machohafte Szenen, die dies illustrieren und jede Menge Stereotypen reproduzieren. So sagt sie bewundernd »hallooo« zum allerersten Penis, den sie richtig sieht und bedient damit die Fantasien des ganzen Machismo, der sagt, es gibt keine Lesben, es gibt nur Frauen, die noch nie von richtigen Männern gefickt wurden! Diese Filmausschnitte führten natürlich aufseiten der globalen Lesbengemeinde zu Unmut und hätten dies eigentlich allseits tun sollen, zumindest bei jenen, die diesen Machismo wenigstens unter den Teppich gekehrt, wenn nicht sogar ganz abgeschafft sehen möchten. Doch dann verdoppelt der Film seinen Konservatismus: Der vagabundierende biologische Vater wird von der lesbischen Familie abgewiesen, die nach der Krise wieder zueinander findet. Sie erkennen, dass die klassische (aber modernisierte) Kleinfamilie ein Prinzip ist, auf das immer Verlass ist. Beide entscheiden sich gegen die Rückkehr zu den heterosexuellen Idealen von Liebe und Glück und der bisexuellen Alternative eines weniger kontrollierten gemeinsamen Lebens.
Aus türkischer Perspektive lässt sich der Film als eine Art »Merkel’sche Abfuhr« deuten. Die Türkei sah sich selbst als biologischen Vater, als Erzeuger dieser türkischen Nation in Deutschland (und in Europa ganz allgemein). Als Folge der bereitwilligen Annahme der Barbarismusanschuldigung und unseres eigenen, höchst sichtbaren Machismo war die Türkei in ihrem eigenen Selbstverständnis immer der Mann, der noch »the real thing« verkörperte (der nicht durch die 1960er-Jahre verdorben war). Und Europa wurde leicht mit einem lesbischen Paar in Verbindung gebracht. Das Problem des abwesenden biologischen Vaters spiegelt sich aber auch im bedauernswerten Leben in der Türkei wider. Wir haben Mitleid mit dem Vater im Film, weil er es nicht geschafft hat, selbst eine Familie zu gründen. Er war so erbärmlich, sein Sperma einer Samenbank zu überlassen. Er baut Biogemüse an und ist naturverbunden (das heißt kulturfern). Er ist sympathisch, aber nicht sehr gebildet. Er verdient gutes Geld, vögelt nette Frauen (keine angesehenen wie die lesbischen Eltern, meistens nur seine Angestellten) und erfreut sich an einem Penis, den man gerne einmal ausprobieren möchte (nur um ihn danach schnell wieder loszuwerden). Ähnliches Mitleid verspüren wir für die Türkei: Sie hat es nicht geschafft, eine eigene Familie zu gründen; noch immer erlebt sie in ihrer Unentschlossenheit eine Krise nach der anderen, an einem Tag schläft sie vor den Toren Europas und bettelt um Einlass, oder sie singt oder rezitiert Liebesweisen unter einem Balkon – man denke an die Anrufe des Vaters und seine verzweifelte Bitte um Akzeptanz in der lesbischen Familie –, nur um am nächsten Tag wieder loszuziehen und erneut der Junge aus dem Nahen Osten zu werden, der archaische ottomanische Macker, der mit seinen östlichen Kumpels Tee trinkt und starken Tobak raucht und sich nur in Begleitung seiner Putin-Ahmadinedschad-artigen Freunde wohlfühlt. Die Türkei ist »biodynamischer«, genau wie der Vater, naturverbundener, und sie war, ähnlich wie er, so erbärmlich, der deutschen Industrie ihr eigenes Volk (Sperma) als Arbeitskraft zu überlassen; die Türkei mag sympathisch sein, jemand, mit dem man gern einmal ein Schwätzchen hält, aber sie ist nicht sehr gebildet, und man kann keine besonders tiefschürfenden Gespräche (oder vernünftigen Beziehungen) mit ihr führen.
Wenn also die europäische lesbische Familie eine (Identitäts-)Krise durchlebt, ruft die türkische heterosexuelle Option (das Vaterland) ihre Kinder zum Nationalismus auf und bittet die europäischen Eltern, sie als »the real thing« in ihre Familie aufzunehmen. Diese Option wird sowohl in »The Kids Are All Right« als auch von Merkel zurückgewiesen. Merkel lehnt überdies auch die andere Option ab: den Vater als vage Figur zu akzeptieren und gemeinsam in eine bisexuelle Utopie zu entschweben (die sie Multikulturalismus nennt). Auch David Camerons neue, angeblich alle mit einbeziehende Vorstellung einer »Big Society« ist keine bisexuelle. Schließlich besteht die »Big Society« aus Marmor und nicht aus Mosaiken.

Orgiastische Erlösung
Aus einer mosaikartigen Perspektive betrachtet bietet der Film des türkisch-italienischen Filmemachers Ferzan Özpetek »Le Fate Ignoranti« (2001) eine bisexuelle Freiheitszone, eine TAZ (Temporäre Autonome Zone), um einen Begriff von Hakim Bey (Peter Lamborn Wilson) zu verwenden. Die Big-Society-Argumentation weist derartige TAZ-Optionen zurück. In ihren Augen ist der Multikulturalismus eine gescheiterte TAZ, die weder nachhaltig noch erfolgreich war. Dabei hatte der Multikulturalismus lange Zeit eine Verheißung dargestellt, in der alle Beteiligten gerettet werden sollten. Einen großen orgiastischen Moment unterschiedlicher Kulturen, eine Orgie der Erlösung. So viel Gewicht auf Sex zu legen, verursacht immer Stress und gegenseitige Vorwürfe. Da bleibt das Gefühl, versagt zu haben, nicht aus.
Pasolinis Filmklassiker »Teorema« (1968) könnte man als das erste gelungene Beispiel dafür anführen, dass jemand auf die emanzipatorische Kraft eines bisexuellen Elements gesetzt hat, das in die heterosexuelle Kleinfamilie (die bürgerliche Gesellschaft) Eingang findet und alle Mitglieder auf befreiende Art und Weise verwandelt. Auch der Roman »Die Zufällige« von Ali Smith weist in diese Richtung – hier kommt eine Frau in eine Familie, bringt alles durcheinander und öffnet dadurch neue Horizonte. Die Fremde, die in Smiths »Die Zufällige« in die Kleinfamilie eindringt, ist eine Frau, die Grenzen überschreitet; sie hat regelmäßig mit einem Teenager in einer Kirche Sex, verwüstet ohne Grund einen Supermarkt, bricht absichtlich das Gesetz, sobald sie einen Polizisten oder Aufseher sieht, drängt sich unvermutet in das Leben anderer Menschen, beschädigt anderer Leute Kameras, zerstört oder stiehlt deren Eigentum (lässt es verschwinden) und lässt sie so wieder von vorne anfangen. Wenn sie Obrigkeit begegnet, lügt sie nicht, sie gibt all ihre Vergehen ritterlich zu (aber niemand bestraft sie).
In einem Atemzug mit Smiths Roman könnte man auch John Cameron Mitchells Film »Shortbus« (2006) nennen: »Shortbus« glaubt ebenfalls daran, dass die Erlösung durch einen mutigen Moment des Verstoßes erreicht wird und sich in einem echten Orgasmus manifestiert. Eine Sexualtherapeutin, die selbst keinen Orgasmus haben kann, wird zur Stammkundin eines Clubs, der wie eine bisexuelle/homosexuelle Utopie bzw. eine TAZ funktioniert, und bekommt schließlich doch einen Orgasmus – der als ihre ultimative Befreiung dargestellt wird. Ihr unglücklicher Ehemann befreit sich mithilfe desselben utopischen Orgienclubs durch grenzüberschreitende sexuelle Erfahrungen. In dem utopischen TAZ-Club von »Shortbus« wird eine räumliche Verdichtung, eine Akkumulation von Freiheit sichtbar. Ferzan Özpeteks »Le Fate Ignoranti« dehnt die gleiche Formel auf den Alltag aus, Erlösung ist hier nicht auf einen realitätsfernen Ort beschränkt, sie dehnt sich vielmehr horizontal auf alltägliche Beziehungen, Wohnungen, Küchen, Esstische, Straßen aus. Dennoch gibt es auch hier ein Zentrum der Verstöße – die Küche, in der alles möglich ist. Christian Molinas »Diary of a Nymphomaniac« (2008) vermittelt ebenfalls die Botschaft: Sex rettet, befreit, und zwar nur Sex. Hier ist der Ansatz ein feministischerer. Zunächst wird uns eine junge Dame (die Protagonistin Valére, gespielt von Belén Fabre) vorgestellt, die Sex sehr liebt; nach ein paar Affären sehen wir sie jedoch leidend und unglücklich. Ihre Partner können entweder ihren unbändigen Sexhunger nicht stillen, weil sie müde werden, oder sie verlieren das Interesse an ihr und verlassen sie schließlich. Sie vermutet, dass sie Nymphomanin ist und teilt diese Befürchtung ihrer Großmutter mit, quasi der weisen Figur des Films. Daraufhin erklärt die Großmutter, der Begriff nymphoman sei von Männern geprägt worden, die damit das Leben von Frauen zerstören wollen, die sich einfach nehmen, was sie wollen. Nichtsdestotrotz findet Valére, dass ihr ein Freund fehlt, der gleichzeitig ein romantischer Liebhaber ist, nicht nur ein Sexpartner. Dann lernt sie jemanden kennen, verliebt sich, und anstatt sofort mit ihm ins Bett zu gehen, wie sie das normalerweise tut, zieht sie das Ganze in die Länge. Ihre Liebesgeschichte nimmt Formen an, und sie heiraten am Ende. Alles ist wie im Märchen. (Nur der Sex nicht, da ihr Mann an vorzeitiger Ejakulation leidet.) Kurz nach der Hochzeit gerät das Märchen ins Wanken. Die extreme Eifersucht ihres Mannes zerstört am Ende ihr Berufsleben. Es folgen Gewalt, ungeheure Repressionen, abnormale, furchterregende Szenen, die dazu führen, dass sie völlig verängstigt ihr Zuhause verlässt und alles verliert. Sie schlittert knapp am Selbstmord vorbei und beschließt nach diesem gescheiterten Versuch, als Kurtisane in einem Luxusbordell zu arbeiten. Zunächst fasziniert sie das Kurtisanenleben. Doch bald zeigt sich ihr das hässliche Gesicht des Bordells, und ein paar leidvolle Erfahrungen (ähnlich jenen in der britischen Fernsehserie »Secret Diary of a Call Girl«, 2008) lassen sie schließlich enttäuscht das Etablissement verlassen. Am Ende wird ihr klar, dass ihr »nymphomanisches« Leben noch die beste Alternative war (wie ihre Großmutter es vorhergesagt hatte): Ehe und Prostitution sind schreckliche Alternativen, sie sehen aus wie Gegensätze, gleichen sich aber wie Hitler und Stalin. Sex als Werkzeug der Befreiung und der Veränderung rettet ihr das Leben.
Um einiges komplexer schildert der italienische Regisseur Luca Guadagnino das Leben einer russischen Migrantin in Italien in seinem Film »I Am Love« (2009). Eine Russin, die mit einem reichen italienischen Geschäftsmann verheiratet ist, erscheint gewissermaßen als Gefangene einer klassischen italienischen Familie. Sie befreit und verändert sich schließlich mittels eines Seitensprungs – einer besonderen sexuellen Erfahrung mit einem Freund ihres Stiefsohns. Der Sex erinnert sie an ihre russischen Wurzeln, ihren alten russischen Namen, ihre Identität vor der Assimilation. Sie hat Sex, und die verloren gegangene, unterdrückte Russin in ihr kommt wieder zum Vorschein. Ähnlich ergeht es der seltsamen, isolierten Familie in »Dogtooth« (2009). Der Film des griechischen Regisseurs Giorgos Lanthimos, handelt von einem autoritären Vater, der seine gesamte Familie, seine Frau und drei Kinder, von der Außenwelt abschottet, indem er eine Art alternative Realität für sie schafft. Der ultimative Kontrollfreak, der seine Kinder nichts lernen lässt, was er nicht selbst kontrollieren kann, und sie deshalb in einem bizarren Haushalt und einem bizarren Familiengefüge aufwachsen lässt. Am Ende rebelliert jedoch eine der Töchter und bringt das System zum Stocken – und zwar kurz nachdem sie ein unkontrolliertes sexuelles Erlebnis mit einer anderen Frau hatte.
Meiner Ansicht nach helfen all diese Fantasien von Erlösung durch Sex dabei, die Fantasie des vor Kurzem für tot erklärten Multikulturalismus (eine an »Shortbus« erinnernde Orgie der Kulturen) zu verstehen. Ich selbst fühle mich allerdings einer anderen Alternative eher verbunden, nicht der Errettung des Selbst durch (homosexuellen, bisexuellen oder orgiastischen) Sex, sondern der Errettung der Sexualität selbst. (Also nicht die Errettung von Kulturen durch kulturelle Verkupplungen, sondern die Errettung der Verkupplungen/Beziehungen selbst.) Ein großartiges, auch heute noch gültiges Beispiel dafür ist »Lady Chatterleys Liebhaber« von D. H. Lawrence. Lady Chatterley instrumentalisierte den Sex nicht, um ihr Leben zu verändern, sondern sie versuchte, ihr Sexleben zu retten, sonst nichts. Denn ihr Sexleben war ihr sehr wichtig. Das war das wirklich Radikale daran, nicht der schockierende Gebrauch des F-Worts. Und in diesem Sinne ist es scheinbar immer noch radikal.
»Lady Chatterleys Liebhaber« gestattet uns die Frage: Warum können wir uns an kulturellen Verkupplungen nicht einfach ihrer Schönheit wegen erfreuen und sie besingen? Auch Gerard Damianos Pornoklassiker »Deep Throat« (1972), der in Großbritannien eine wichtige Rolle bei der Beendung der Zensur von »Lady Chatterleys Liebhaber« spielte, handelt von einer Frau, die ihr Sexleben retten will. Es geht ihr dabei nicht um einen Klitorisorgasmus, der ihr gesellschaftliches Leben, ihr Berufsleben usw. verändern soll. Sie will lediglich ihr Sexleben retten. Und wie Linda Williams in »Screening Sex« (2009) andeutet, hatte dieser Film zusammen mit Bertoluccis »Der letzte Tango in Paris« (1972) bei einer ganzen Generation genau diesen Effekt.

Europa und Nicht-Europa
Abgesehen davon, dass dem Multikulturalismus von Anfang an zu schwere Bürden auferlegt wurden, war es ein der Idee innewohnendes Problem, das der Merkel’schen Totsagung den Weg bereitete. Unterschwellig spielte nämlich bei der Idee vom Multikulturalismus der Glaube an ein nicht eurozentrisches Europa immer eine Rolle. Natürlich verbarg sich hinter dieser Idee eine gewisse Absurdität. Ein nicht eurozentrisches Europa zu fordern, ohne den Wurzeln des Begriffs Europa nachzugehen,1 ohne gründliche Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und ohne eine Änderung wesentlicher Auffassungen von der Weltgeschichte, konnte nur in einer Sackgasse enden.
Dieses Problem haben Martin Lewis und Karen Wigen als den »Mythos der Kontinente« bezeichnet. Europa ist kein räumlicher Begriff, es ist eine ideologische Struktur, genau wie Asien.2 Die ideologischen Mächte, die die europäische Idee instrumentalisieren, sind die Hauptursache für die Entwicklung und den Missbrauch (sowie die Mythenbildung) derartiger Konzepte. Eines der maßgebenden Konzepte ist die »Vorstellung, der Westen sei gleichbedeutend mit Modernität und der Nicht-Westen könne nur in dem Maße Zugang zur modernen Welt erlangen, wie er den in Europa und Nordamerika etablierten Normen nacheifere«.3 Tatsächlich ist das Konzept Europa nur von einem eurozentrischen Standpunkt aus legitim. Verabschiedet man sich vom Eurozentrismus, wird das Konzept überflüssig. Ein auf der Idee von Europa/dem Westen als gleichbedeutend mit Modernität basierender Multikulturalismus war einfach nicht die richtige Grundlage für eine gleichberechtigte Verbindung oder eine horizontale Orgie.
Was J. M. Blaut als »geografischen Diffusionismus« bezeichnet – demzufolge Fortschritt als »etwas unaufhörlich aus dem Zentrum (Europa) in eine ansonsten sterile Peripherie Fließendes« gesehen wird –, ist immer noch die Hauptgrundlage dieser Annahme. Blaut nennt dies »das Weltmodel der KolonisatorInnen«.4 Er beschreibt den eurozentrischen Diffusionismus als eine Theorie »über die Tendenz kultureller Prozesse, sich generell über die ganze Welt zu verbreiten. Sie tendieren dazu, aus dem europäischen Sektor hinaus und in den nicht europäischen Sektor hineinzufließen. Dies ist der natürliche, normale, logische und ethische Fluss von Kultur, Innovation, menschlicher Unbeständigkeit. Europa ist das ewige Innen. Nicht-Europa das ewige Außen. Europa ist die Quelle der größten Streuung; Nicht-Europa ist immer Empfängerin.« Da »die Weltgeschichte bisher vor allem die Geschichte des Innen gewesen ist, war das Außen im Grunde irrelevant«5.
Konstruierte, zufällige und oftmals erzwungene politisch-geografische Einheiten wie Staaten und Kontinente nahmen mit der Zeit als natürliche und fundamentale Bausteine der globalen Geografie Form an.6 Doch ist es umso ärgerlicher, dass diese Einheiten mit derselben Selbstverständlichkeit genutzt werden, um alternative Pläne für eine »Emanzipation« zu schmieden.
Der europäische Kontinent wird als eine solche Einheit betrachtet. Und der Westen als kulturelle Einheit. Das ist eines der Hauptprobleme beim Versuch, den Eurozentrismus abzuschaffen: Es handelt sich dabei nicht um ein Vorurteil, eine »Haltung« und daher etwas, das »aus dem modernen, aufgeklärten Denken auf dieselbe Art gelöscht werden kann, wie wir andere überholte Haltungen wie etwa Rassismus, Sexismus und religiösen Fanatismus auslöschen«7. Der Eurozentrismus liegt vielmehr in der Logik der westlichen Wissenschaft begründet.
Diese Art der Historiografie ist höchst hegelianisch, da sie den Glauben daran teilt, dass »die sich emanzipierenden Subjekte historisch und geografisch zufällig im 19. Jahrhundert und in Westeuropa verortet sind«. Zudem handelt es sich um eine Perspektive, die »Europa als das Zentrum und das nicht europäische ›Andere‹ als peripher und unterlegen konstruiert«8. Blaut bezeichnet den »eurozentrischen Diffusionismus« als das »Weltmodell der KolonisatorInnen«, und zwar wegen der entscheidenden Rolle, die dieses Modell bei der Legitimation des Kolonialismus spielte. Dem Hauptargument zufolge »war Europa vor 1492 fortschrittlicher und progressiver als alle anderen Regionen, also vor Beginn des Kolonialzeitalters, des Zeitalters, in dem Europa und Nicht-Europa in intensive Interaktion traten«. Dies ist ganz entscheidend, denn sollte jemand glauben, »dass dem so ist, [...] folgt daraus zwangsläufig, dass die wirtschaftliche und soziale Modernisierung Europas vor allem das Ergebnis der Europa innewohnenden Fähigkeiten ist und nicht der Interaktion mit den Gesellschaften Afrikas, Asiens und Amerikas nach 1492«9. Dieser Punkt ist auch heute noch von Bedeutung, wenn wir über Multikulturalismus bzw. den Tod desselben diskutieren: Sind unsere Werte das Ergebnis globaler kultureller Interaktionen oder nicht?
Blaut führt weiter aus, dass »der europäische Kolonialismus im Jahr 1492 nicht nur die Entwicklung Europas auslöste (und die Unterentwicklung Nicht-Europas), sondern auch, dass der seitdem auf Kosten Nicht-Europas erlangte Wohlstand durch Kolonialisierung in ihren ausgeprägtesten Formen, neokoloniale Formen eingeschlossen, eine notwendige Basis der kontinuierlichen Entwicklung Europas und des Machterhalts der europäischen Elite war. Daher war und ist die Entwicklung eines Katalogs eurozentrischer Glaubenssätze, der Europas koloniale Aktivitäten rechtfertigt und unterstützt, immer noch von größter Wichtigkeit.«10 Genau deshalb bezeichnet Blaut dies als das »Weltmodel der KolonisatorInnen«. Wo passt nun aber »unser Multikulturalismus« in dieses Bild?
Mit Europa meint Blaut den Kontinent Europa und die von der europäischen Kultur anderswo dominierten Regionen wie etwa die Vereinigten Staaten und Kanada.11 Gleichwohl verweisen Lewis and Wigen auf die willkürliche Natur kontinentaler geografischer Vorstellungen hinsichtlich der Geologie, Kultur, Geschichte, Politik, ja sogar der Flora und Fauna und warnen uns somit vor dem Mythos der Kontinente.12 So wurde etwa das Problem, erstmals eine geeignete Grenze zwischen Europa und Asien zu ziehen, dadurch gelöst, dass man eine Trennlinie entlang der Flüsse Don, Wolga, Kama und Ob erdachte. Im 18. Jahrhundert sprach sich jedoch der schwedische Armeeoffizier Philipp-Johann von Strahlenberg für das Uralgebirge als Grenze zwischen Europa und Asien aus. »Von Strahlenbergs Vorschlag wurde von russischen Intellektuellen, die dem Westernisierungsprogramm von Peter dem Großen nahestanden, begeistert aufgenommen, insbesondere von Vasilij Nikitic Tatiscev, und zwar vor allem aufgrund seines ideologischen Nutzens. Durch die Festlegung der Uralgrenze konnten die russischen WesternisiererInnen umgehend den europäischen Charakter des historischen Kernrusslands betonen und Sibirien zu einem fremden asiatischen Gebiet erklären, welches sich zur kolonialen Beherrschung und Ausbeutung eignete.« Selbst die Teilung Europas und Asiens entlang einer Nord-Süd- und nicht einer Ost-West-Achse war Konvention. »Nach rein wissenschaftlichen Kriterien […] hinsichtlich seiner natürlichen Beschaffenheit hat Sibirien mehr mit dem hohen Norden Europas gemein […] als mit Oman oder Kambodscha.«13

Schiffe und Panzer
Mit die Verabschiedung des Multikulturalismus durch das Merkel’sche Diktum »Multikulturalismus hat nicht funktioniert, kehren wir also zum Europa einer gemeinsamen Kultur zurück« wurde die Absurdität eines nicht eurozentrischen Europa doppelt absurd. Vielleicht deshalb, weil sich die Idee eines eurozentrischen Europas heutzutage nur durch eine doppelt absurde Strategie verteidigen lässt, eine direkte Verteidigung gibt es nicht.
Auch Ayse Erkmens Megaprojekt »Shipping Ships« (2001) eröffnet eine anregende Diskussion über die Gefangenschaft in der Freiheit und das Freisein in der Gefangenschaft (in Europa). Es ist eine interessante Arbeit über das Erreichen des »Zentrums«. In dieser Arbeit verlassen drei Schiffe drei Häfen (Shingu, Venedig, Istanbul) in drei verschiedenen Ländern (Japan, Italien, Türkei) mit dem Ziel Frankfurt. Auf jedem Schiff befindet sich ein weiteres Schiff. Deshalb sind es Verschiffungsschiffe. Die Schiffe an Bord sind wie ImmigrantInnen der zweiten (dritten etc.) Generation. Ein Schiff, das glaubt, es werde unbekannte Ozeane durchqueren, sich aber stattdessen gefangen an Deck eines anderen Schiffs befindet. Das Schiff an Bord erlebt sowohl die Weite des blauen Ozeans als auch das Gefangensein auf einem anderen Schiff. Das Schiff an Bord migriert ungebetenerweise. Außerdem bedeutet die Gefangenschaft des migrierenden Schiffs eine zusätzliche Last für das Schiff, das eigentlich unterwegs ist. Drei Schiffe, die über drei Routen kommen, verschwinden in einem Hafen. Die Verschiffungsschiffe sind letztendlich Sklaven Frankfurts – und stehen im Dienst der Künstlerin. Die vermeintliche Freiheit ist in diesem Fall trügerisch. Doch das Gesamtbild des Kunstwerks ist von Frankfurt aus nicht zu sehen. Die Routen, Bewegungen, Beziehungen dieser drei Schiffe sind von keinem Ort in Frankfurt komplett sichtbar. In dem Moment, in dem Frankfurt die MigrantInnen erfasst, verschwinden sie auch schon (sie sind unsichtbar).
Köken Erguns Video »Tanklove« (2008) zeigt ebenfalls eine groteske Szene. Die Panzer, die durch eine beschauliche westeuropäische Stadt fahren, erscheinen uns schlichtweg absurd. Aber es ist keine auffällige Absurdität. Keine Absurdität wie zu Zeiten Jarrys und Picassos. Das Absurde hat keine subversive Macht – man könnte es auch als »Millenniumsabsurdität« bezeichnen.
ImmigrantInnen tragen andere ImmigrantInnen auf ihren Rücken, Menschen, denen die Assimilation bevorsteht. ImmigrantInnen in Europa sind daher von nirgendwo in Europa aus sichtbar. Nur von oben für den allmächtigen Schreiber-Gott. Der auch alles hört und fühlt. Da es vor allem um Worte geht. Grundsätzlich ist die ganze Multikulturalismus-Migrations-Integrations-Krise eine Episode der »neuen Absurdität«, der »Millenniumsabsurdität«. Es ist ein Zustand, in dem die Absurdität überhaupt kein kulturelles, subversives Mittel mehr ist, aber seltsamerweise weiterhin funktioniert, da es ein Ausspionieren des Systems ermöglicht, eines Systems, das auf einer vollkommen absurden Grundlage operiert.
Der antikoloniale Aspekt von Jarrys Absurdität ist heute verloren gegangen. Die »Millenniumsabsurdität« ist kein Angriff auf das politische System oder das Kunstsystem. SchriftstellerInnen der »Generation Gähn« wie Noah Cicero (und insbesondere sein Roman über den Irakkrieg »The Human War«, 2007) haben am treffendsten veranschaulicht, dass die neue Absurdität funktioniert, ohne zu schockieren. Denn das Absurde hat heutzutage keine Schockwirkung mehr.
Die Faszination der Türkei für Europa hat eine lange Geschichte. Unter anderem ging es dabei darum, Rom zurückerobern. Die Türkei wollte immer europäisch sein. Aber unter Europäischsein verstanden wir vor allem die Invasion Europas. Europa einnehmen, um so »das« Europäische zu verkörpern. Das wahre Europa, ohne Misstrauen. Die erfolglosen Versuche, Wien einzunehmen, waren scheiternde Versuche der Europäisierung. Hätte die Türkei Wien eingenommen, wäre dies nicht das Ende der westlichen Zivilisation gewesen, sondern das des Orients! Das besagt zumindest eine östliche Schreckensvision.
Neue Integrationsmaßnahmen sind meist ebenso doppelt absurd. Man muss integriert sein – sollte aber nicht assimiliert sein. Merkels Politik klingt diesbezüglich sehr ottomanisch: waschechte EuropäerInnen werden und Eingang finden in die Vorstellung von Europa. Was uns hingegen fehlt, sind Maßnahmen, die einfach des Spaßes wegen multikulturelle Orgien fördern – nicht um eines besseren Lebens willen! Dies würde die doppelt absurden Strategien einer ottomanischen Invasion der »Festung Europa« à la Merkel offenlegen – sie lässt sich nur verteidigen, wenn man akzeptiert, dass sie nicht weiter existieren muss.

 

Übersetzt von Gaby Gehlen, Gülcin Erentok

 

1 Der Name Europa leitet sich vom griechischen »Europe« her, wörtlich »der [Frau] mit der weiten Sicht«.
2 Vgl. M. W. Lewis/K. E Wigen, The Myth of Continents. A Critique of Metageography. Berkeley/Los Angeles/London 1997 und John M. Steadman, The Myth of Asia. New York 1970.
3 Vgl. Lewis/Wigen 1997, S. 7.
4 Vgl. J. M. Blaut, The Colonizer’s Model of the World. New York/London 1993, S. 10.
5 Ebd., S. 1 und 5.
6 Vgl. Lewis/Wigen 1997, S. 8.
7 Vgl. Blaut 1993, S. 9.
8 Vgl. Jorge Larrain, Ideology & Cultural Identity. Modernity and the Third World Presence. Cambridge 1994, S. 23 und 142.
9 Blaut 1993, S. 2.
10 Ebd., S. 10.
11 Vgl. ebd., S. 43.
12 Vgl. Lewis/Wigen 1997.
13 Ebd., S. 27 und 31.