Heft 4/2011 - Artscribe


»Communitas. Die unrepräsentierbare Gemeinschaft«

9. April 2011 bis 19. Juni 2011
Camera Austria / Graz

Text: Christian Höller


Graz. Erst der drohende Zerfall lässt etwas virulent werden. Kaum irgendwo sonst ist dies besser ersichtlich als beim Thema Gemeinschaft – egal ob damit »community« wie im Angloamerikanischen, »communitas« im anthropologischen Fachjargon oder das »Kommunitäre« in der Philosophensprache gemeint ist. Gemeinschaftlichkeit ist ungefähr ab dem Zeitpunkt zu einem Dauerbrenner der politischen Philosophie geworden, als sich – etwa ab Mitte der 1980er-Jahre – allerorts unumkehrbare gesellschaftliche Aufsplitterungstendenzen abzeichneten: von den Partikular-Communities in den USA über Margaret Thatchers »society does not exist« bis hin zum Niedergang des kommunistischen Blocks und, vielleicht noch einschneidender, von Nationalstaatlichkeit schlechthin. Dass die Kunst sich mit etwas Verspätung, dafür aber aktuell mit umso mehr Verve dieser Thematik annimmt, mag ihrem besonderen Eigensinn geschuldet sein. Schließlich sind die Verbildlichung und Konzeptualisierung dessen, was Gemeinschaft ausmacht, von Theorieseite lange Zeit in Zweifel gezogen worden – kein leichtes Unterfangen also für künstlerische Praktiken, hier Relevantes beizusteuern. Und seit Jean-Luc Nancys Diktum von der Gemeinschaft, der nichts »Werkhaftes« eigne (»communauté désoeuvrée«, missverständlicherweise im Deutschen als die »undarstellbare Gemeinschaft« wiedergegeben), stellt es eine noch größere Herausforderung dar, sie entgegen aller Skepsis doch ins Werk zu setzen – egal wie kritisch, gebrochen, fragmentierend oder nihilistisch dabei vorgegangen wird.
Diese Herausforderung anzunehmen und in gleich zwei Gruppenausstellungen anhand aktueller Ansätze aufzufächern, hat sich Camera Austria zur Aufgabe gemacht. In der ersten der beiden Schauen wurde der Darstellbarkeitsaspekt gleichsam bei den Hörnern gepackt und, mit einiger Erwartbarkeit, genau nicht zu zähmen versucht. Dabei mutet es nicht weiter überraschend an, dass in den versammelten Arbeiten, allesamt neueren Datums, auf den ersten Blick ein regelrechtes Übermaß an Repräsentation vorhanden ist. Aber eben nur auf den ersten Blick, da die Werke, zumindest die »sachdienlicheren« unter ihnen, den Brüchen und Leerstellen in der Konstruktion des Gemeinschaftlichen mehr Platz einräumen als irgendeiner Form von Geschlossenheit oder (woran ohnehin niemand mehr glauben würde) »Organizität«. So steht weder das, was man am ehesten als Ausgangspunkt einer zeitgemäßen Auseinandersetzung vermuten würde, nämlich die hilflose Beschwörung eines verloren gegangenen sozialen Zusammenhalts, noch das destruktive Wirken von Individualismus und Partikularismus groß im Mittelpunkt. Diese Stelle nimmt vielmehr, zumindest der kuratorischen Absicht nach, Nancys Idee des »Mit-Seins« ein, also jene nicht werkhafte – man könnte auch sagen konstruktivistische – Sicht von Gemeinschaft, die dieser weder etwas Dinghaftes noch ein prozesshaftes Moment im Sinne von Einschluss/Ausschluss-Mechanismen zuschreibt: »Mit[-Sein] bedeutet weder drinnen noch draußen, sondern Seite an Seite und in der Nähe.« (Nancy)

Am direktesten kommt dieses »Mit-Sein« in Heidrun Holzfeinds Dokumentarfilm »Colonnade Park« zur Sprache. Holzfeinds Soziogramm der BewohnerInnen eines von Mies van der Rohe erbauten Wohnkomplexes in Newark, New Jersey lässt eine Vielstimmigkeit aufblitzen, die sich – auf engstem Raum versammelt – keiner Einheitlichkeit fügt und schlussendlich doch ein ineinandergreifendes Mosaik ergibt. Passend dazu ist, dass die vielen Blicke aus den großzügigen Glasfronten Fluchtpunkte in ein vermeintliches Außen projizieren, das, wie der Film aber klarmacht, eindeutig dazugehört, also »mit drinnen« ist. Dass eine Reihe von fotografischen Ansichten des Areals, begleitend zur Monitorinstallation gehängt, von chemischen Entwicklungsfehlern gekennzeichnet ist, passt zur brüchigen Mosaikhaftigkeit, die mehr die inneren Grenzen der Abbildung als deren äußere Abgrenzbarkeit betont.
Demgegenüber wohl am weitesten entfernt vom Pol des »Mit-Seins« und dessen Repräsentierbarkeit sind Sharon Hayes’ Neuinszenierungen historischer Protestaktionen, hier aufbereitet als Diainstallation. Indem Hayes sich an öffentlichen Plätzen mit Schildern ablichten lässt, die Aufschriften tragen wie »When is this going to end?«, legt sie ihr Augenmerk auf die vielen Differenzen zwischen Heute und Damals, Protest und Zitat, Performance und Dokumentation – was der Idee und Problematik von Gemeinschaftlichkeit nicht unbedingt Entscheidendes hinzufügt. Näher am Aspekt der medialen wie kulturellen Konstruktion von Community ist Clemens von Wedemeyers auslandende und auch filmisch vielteilige Installation »The Fourth Wall«. Die gestalterisch hochwertige Multimediamontage, die sich dem historischen Anlassfall des 1971 vermeintlich auf den Philippinen entdeckten Naturvolks der Tasaday widmet, stellt – durchaus konzise – dem (westlichen) Konstruktionscharakter von indigener Identität nach. Was für sich genommen ein höchst differenziertes Diskurstableau ergibt, verhilft Nancys »Mit-Sein« »Seite an Seite und in der Nähe« im Endeffekt nur bedingt auf die Sprünge. Diesem ist Sanja Ivekovićs für die Gwangju Biennale 2010 produziertes und hier neu installiertes »lebendes Denkmal« »On the Barricades« schon eher auf der Spur. Paradoxerweise geschieht dies durch das Beschwören einer Gemeinschaft der Toten – von über 300 Opfern des Volksaufstands in Gwangju, deren Porträts Iveković digital die Augen geschlossen hat. Diese Toten-Community ersteht auf einem von der Decke gehängten Monitorarrangement neu, während zeitversetzt jeweils ein/e anonyme PassantIn aus dem heutigen Korea ein altes Protestlied singt.
Den inhaltlich und konzeptiv dichtesten Raum stecken die Arbeiten von Maryam Jafri, Martin Beck und Sabine Bitter/Helmut Weber ab. Jafris in verschiedenen Gruppierungen über eine ganze Wand verteilte Fotosammlung von Unabhängigkeitsfeiern in »Dritte-Welt-Ländern« wirkt wie ein Kapitel aus einem immensen Bildatlas der Entkolonialisierung. In den Fokus gerückt ist hier die spezielle Repräsentationsform des Unabhängigkeitstags, die in so unterschiedlichen Ländern wie Indonesien, Algerien oder Kenia eine vergleichbare morphologische Reihe aus Verhandlungen, Ankunft am Flughafen, Paraden, Parlamentsansprachen und schließlich Massenkundgebungen bildet. Den Zugang zur Gemeinschaftsthematik über Archivalien und historische Dokumente wählen auch die übrigen Arbeiten in diesem Raum: Martin Becks vierteiliges Ensemble aus Wandaufschrift, Postersiebdruck, Buchvitrine und Handout speist sich aus Fundstücken der US-amerikanischen Kommunenbewegung der 1960er-Jahre und setzt dabei ganz auf das analytische Heraussprengen von historischen Artefakten aus einem größeren Kontinuum. Dabei gehen die Einzelfragmente eine Vielzahl von »sprechenden« Verbindungen ein, etwa wenn das Poster eine (auch in grafischer Hinsicht) emphatische Schlagwortsammlung präsentiert, während das Handout vielsagende Einzelsätze über das als mangelhaft empfundene Sozialverhalten einzelner Kommunarden kompiliert. Die »Directions«, die den Weg von San Francisco zur berühmten Drop-City-Kommune in heutiger Google-Maps-Diktion nachzeichnen, lassen gezielt den Bruch erkennen, der die aktuelle Beschäftigung mit (historischen) Gemeinschaftsmodellen notwendig markiert.

Diese Brechung verdeutlicht auch Sabine Bitters und Helmut Webers neunteilige Foto/Text-Serie »Events Are Always Original«. Die Ereignisse, auf die der von Henri Lefebvre entlehnte Titel anspielt, trugen sich 1968 an der Simon Fraser Universität in Vancouver zu: StundentInnen hatten ein Verwaltungsgebäude besetzt, die Polizei räumte dieses, die Univerwaltung ließ die »Verwüstungen« fotografisch dokumentieren. Bitter/Weber haben eine Reihe dieser Fotografien aus dem Uniarchiv ausgehoben, sie mitsamt ihrer archivarischen Kennzeichnung und den in den Fotos aufscheinenden Slogans als extrahierten Bildzuschriften (»THE WAR IN VIETNAM HOW WE CAN END IT« oder »WE LOVE PEOPLE«) neu gerahmt. Die innere Widerstrebigkeit könnte größer nicht sein: Das, was als »Verwüstung« in Augenschein genommen wird, wirkt beiläufig und alltäglich; das, was als Spur autonomer StudentInnenaktivität festgehalten ist, steht in Kontrast zum administrativen Gestus der Unibehörde; und das, was als historischer Rest einer kurzlebigen, schnell wieder auseinanderbrechenden Gemeinschaft erscheint, wird in Bitter/Webers konzeptueller Rahmung gleichsam als Spalt- und Zerfallsprodukt bewahrt.
Der Zerfall lässt Gemeinschaft erst zum Thema werden. Arbeiten wie die von Beck oder Bitter/Weber nehmen dies beim Wort und machen einen produktiven Gebrauch davon. Unrepräsentierbar ist meist nur das Einheitliche, Einigende.

 

 

Der zweite Teil mit dem Titel »Communitas. Unter anderen« ist von 24. September 2011 bis 15. Januar 2012 bei Camera Austria, Graz zu sehen.