Heft 4/2012 - Leben im Archiv


Warum, warum gerade jetzt und in welcher Weise braucht die bürgerliche Gesellschaft politische Kunst so dringend?

Ein Rundgang durch die Manifesta 9, die dOCUMENTA (13) und die 7. Berlin Biennale

Alice Creischer, Andreas Siekmann


1770 publizierte Abbé Raynal eine »Histoire philosophique et politique des établissements et de commerce des Europeéns dans les deux Indes«. Die Geschichte der englischen Kolonialherrschaft in Amerika wird darin als eine moralische Dynamik beschrieben, die zwangsläufig zur politischen Krise führen muss, so wie »zwei Schalen, deren eine steigt und deren andere sinkt«. London wird attackiert, aber gemeint ist Paris. »Die atlantische Differenz wird zum welthistorischen Signal der Krise […] Daß (sie) ein günstiges Ende finden wird, liegt in der politischen Unschuld einer Geschichtsphilosophie, die diese Krise nicht als Bürgerkrieg, sondern den Bürgerkrieg als moralisches Gericht heraufbeschwört.«1 Dies ist das letzte Kapitel des bekannten Essays »Kritik und Krise. Zur Pathogenese der bürgerlichen Gesellschaft«, den der konservative Historiker Reinhart Koselleck 1954 verfasste. Die Prognose des Abbé schließt sich mit dem Anfang des Essays zu einem Kreis: Hobbes’ Konzept der moralischen Abstinenz der Politik als Raison d’être des zivilen Friedens nach den religiösen Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts ist mit den bürgerlichen Revolutionen zu Ende. Es bestimmte die absolutistische Epoche, die nun wie ein stabiles Intervall wirkt. Darin analysiert Koselleck die Kritik der bürgerlichen Intelligenz an dem absolutistischen Staat, in der die Beseitigung der Spaltung von Moral und Politik zentral ist.
Man kann diese Kritik als eine langsame Form der Machtergreifung sehen, die sich allerdings mit der Machtlosigkeit – der Apolitizität der Salons, Ausstellungen, Theater, Logen, in denen sie sich publiziert – eigenartig verschränkt. Der apolitische Raum, der Raum ohne Macht, gibt der Kritik die Möglichkeit, eine moralische Urteilskraft zu entwickeln, die gerade durch ihre Autonomie eine globale Universalität behauptet. Koselleck referiert Schillers Ausführungen zur Schaubühne: »Indem für Schiller die Politik gleichsam an der Rampe der moralischen Bühne sich endigt, gewinnt die Schaubühne die erforderliche Freiheit von den weltlichen Gesetzen, um zu dem ›gemeinschaftliche[n] Kanal‹ zu werden, ›in welchem von dem denkenden, besseren Teil des Volkes das Licht hereinströmt‹. Das Licht verbreitet sich dann in eben dem Staate, von dem sich die Bühne ausgespart hat.«2 Das heißt aber, dass die Kritik ihre eigene Exklusion von der Macht braucht, um in ihr zu erscheinen. Koselleck verfolgt, wie die Kritik sich aufgrund dieser Exklusion in die geschichtsphilosophische Gewissheit vom zwangsläufigen Ende, von der Katastrophe des Regimes projiziert. Der bürgerlichen Kritik des 18. Jahrhunderts ist ein Krisenbegriff inhärent, der blind sein muss für die politischen Konsequenzen der von ihm initiierten politischen Realität. Koselleck meint die Revolution.
Kann diese – kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geschriebene – Analyse heute noch brauchbare Kriterien bieten? Oft genug wurde die moderne Implosion der bürgerlichen Kritik beschrieben, ihr Identisch-Werden mit dem Regime, das sich nun als globaler Vollstrecker jener »Declaration of Human Rights« legitimiert, welche die Kritik in ihrem autonomen Raum entwarf und die sie doch als Differenz auf die Macht projizierte. Ebenso wurde beschrieben, wie die Kritik nun die autonomen Enklaven, welche die Macht ihr einrichtet – Universitäten, Theater, Museen – bewohnt und wie diese ihr als Labor zur globalen Hegemonieausübung dienen.3 Sind also die Großausstellungen und Feuilletonereignisse – Manifesta, dOCUMENTA (13) und Berlin Biennale –, die wir in diesem Sommer besuchten, Differenzinszenierungen? Oder gibt es in diesen Inszenierungen Anzeichen für das Krisenempfinden einer Gesellschaft, die sich überwältigt fühlt von der Dynamik ihrer eigenen Produktionsweise? Diese Dynamik hat zur wirtschaftspolitischen Handlungsunfähigkeit der internationalen Diplomatie und der nationalen Parlamente geführt. Sie ist wie ein Bumerang zu den Staaten zurückgekehrt, deren Strukturanpassungspolitik zuvor postkoloniale Schuldnerstaaten in die Armut gepresst hatte. Sie wird bezeichnet als »die Märkte«, deren unhinterfragbare Mechanik sehr an jene der absolutistischen Herrschaftsmaschine erinnert, wo Moral (menschliche Willkür) sich notwendigerweise von Macht (Naturgesetz) spaltet. Findet sich in dieser Spaltung also erneut jener Raum wieder, in den sich das Licht der Kritik different projizieren kann, und taugen die bisherigen »Schaubühnen« als Projektionsräume? Dies führt zur Frage, die sich uns beim Besuch der drei erwähnten Ausstellungen aufgedrängt hat: Warum, warum gerade jetzt und in welcher Weise braucht die bürgerliche Gesellschaft politische Kunst so dringend?

Die bürgerliche Gesellschaft der Manifesta braucht politische Kunst, um sie zeitlich implodieren zu lassen und dann im Sortiment des Pluralismus zu begraben

Die Manifesta findet in der Stadt Genk in einer ehemaligen Kohleregion in Belgien statt. Sie ist in dem Hauptgebäude der André-Dumont-Zeche konzentriert, die 1987 geschlossen wurde. Im Parterre stoßen wir zunächst auf das von der Manifesta unabhängige Het Mijndepot, ein selbstorganisiertes Museum der ehemaligen BergarbeiterInnen. Es zeigt unter anderem Werkzeuge, Fotos aus unterschiedlichen Phasen der Zeche, Gewerkschaftsfahnen, Plakate. Het Mijndepot ist kein Heimatmuseum, sondern die Schilderung eines sozialen Zusammenhangs, der die Ursache für – und nicht die Reaktion auf – die Schließung der Minen ist. In diesem Zusammenhang hat jedes gezeigte Objekt seinen Grund und seine Geschichte.
Die erste der drei Ausstellungssektionen der Manifesta, »17 Tons«, scheint dieses Museum ergänzen zu wollen. Wir sehen unter anderem Stickereien aus den Bergarbeiterhaushalten, Gebetsteppiche der ersten Generation türkischer ArbeiterInnen, Zeichnungen aus dem Waterschei Planning Archive, viele Arbeiten von KünstlerInnen aus dem Minenarbeiterkontext, darunter die eindrucksvollen »Miner’s Heads« des Arbeiterkünstlers Manuel Durán.4 Aber warum empfinden wir das Zeigen dieser – oft integren – Arbeiten und Archive so seltsam unzusammenhängend, so kontingent und zugleich beflissen? Auf Lesetischen, mit Lampen und Stühlen versehen und unberührt liegen die Akten über die Repression des Protests gegen die Schließung einer benachbarten Mine, wobei zwei Menschen ums Leben kamen. Dies alles fand 1966 statt, und die Polizei gibt jetzt – 40 Jahre später – in dieser Ausstellung die Akten frei.
Die nächste Sektion, »The Age of Coal«, zeigt in neun kunsthistorischen Abschnitten Arbeiten des 19. und 20. Jahrhunderts und klassifiziert sie unter dem Aspekt »how coal affected and defined artistic production«. Die Sektion begreift sich als »essay on a new kind of Material Art History«.5 Wir können unter anderem Henry Moores »Four Studies of Miners« von 1942 bewundern, Cécile Douards Gemälde von Frauen auf der Halde von 1898, Holzschnitte von Frans Masereel bis hin zu den stalinistischen Propagandaplakaten von Gustav Klutsis und Grafiken der Wiener Methode im Abschnitt »Stakhanovism«. Spätestens hier fühlen wir uns in einer Suchmaschine eingesperrt, die – mit den Algorithmen Kunst/Kohle gefüttert – unerbittlich neue Verweise ausspuckt. Wir übersehen fast die Nachempfindung von Marcel Duchamps 1200 Kohlesäcken, die er im surrealistischen Salon 1938 in Paris ausstellte. »The whole space […] contravened the conventions of the ›white box‹ […] Dark, dirty, with echoes of industry rather than art, it must have seemed a strange distortion of the grand celebrations of technology and creativity of the Paris Universal Exhibition of the previous year«6. In der abgewickelten Zeche macht es Mühe, die Installation von dem zu unterscheiden, was während der Demontage liegen geblieben ist.
Die dritte Sektion, »Poetics of Restructuring«, ist den zeitgenössischen künstlerischen Bezügen zur globalen ökonomischen Transformation gewidmet. Überfällt uns eine ungerechte Langeweile, oder warum sind wir so ungenau und können die seriösen Arbeiten nicht schätzen und die dummen nicht abtun? Warum wollen wir nicht kooperieren mit diesem Stimulus, der uns permanent auffordert, die Arbeiten ortsspezifisch zu rekontextualisieren – die Sweatshop-Simulationen, die Fotos vom chinesischen Neokolonialismus in Afrika, die Anarchismusbezüge, Trotzki, Rosa Luxemburg, den Straßenverkauf von gefakten Markenprodukten, als Popikonen zugerichtete politisch Engagierte, die Neonschrift eines Kulturhauses aus einer Stadt nahe Tschernobyl – sie rückzubeziehen und zugleich zu skalieren auf das aktuelle ökonomische Regime – dieses »In-Einem«, was der Ort so intensiv als geschichtliche und gegenwärtige Aufgabe stellt?
Die Entwicklung der Region vor 20 Jahren folgte demselben Prinzip wie in allen Industriestaaten. Sie geschah nicht aufgrund veralteter Maschinen oder ausgeschöpfter Ressourcen oder weil der industrielle Kapitalismus irgendwie zu Ende gegangen wäre, sondern aufgrund des hohen Lohnniveaus und der Sicherheitsstandards, die Resultate von Arbeiterkämpfen waren. Die benachbarten Kraftwerke werden mit Kohle beliefert, deren Förderung den globalen Maßstäben der Ausbeutung entspricht. E.ON zum Beispiel, der Betreiber des Kraftwerks Langerlo, bezieht Kohle aus Kolumbien. »Offizielle Statistiken des Landes verzeichnen in den vergangenen sechs Jahren knapp 500 Tote und 300 Verletzte bei Unfällen im Kohlebergbau […] Bei Auseinandersetzungen, die in Zusammenhang mit der Kohleindustrie stehen, wurden nach Angaben der Bauernorganisation Ascamcat in den vergangenen fünf Jahren mehr als 10.000 Kleinbauern getötet und 130.000 zwangsumgesiedelt.«7
Die Polizeiakten von 1966 und die Kohlesäcke des surrealistischen Salons von 1938 weisen auf vergangene Skandale hin, eine implodierte Aktualität, in der niemand mehr zur Rechenschaft gezogen wird. Vielleicht zeigt diese Ausstellung, dass die Kritik sich in Zeiten der Krise nicht mehr – wie Koselleck beschrieb – blind in ein geschichtsphilosophisches Futur projiziert, sondern dass sie – ihrer politischen Funktion gewiss – auf sich selbst als Geschichte schaut und blind bleibt für die Skandale der Gegenwart.
»The curatorial team has worked to […] provide a geographically and gender diverse representation of contemporary artistic practice today«8, heißt es im Konzept zur dritten Sektion. Aber diese Ausgewogenheit lässt alles gleich werden, sie ist »pluralistisch«. Unter Pluralismus verstehen wir die Behandlung von Forderungen wie Waren, einzeln, stets verfügbar in einer politisch konsequenzlosen Inklusion. Zugleich ist dieser Pluralismus die machtvolle Vorführung einer universellen Repräsentationsfähigkeit. Weder die kuratorische Ausgewogenheit noch die »Kunstgeschichte des Materials« kann geschichtliche Zusammenhänge schildern, die machtgebunden sind und die dazu zwingen, die Universalität der Aufzählung zu verlassen und parteiisch zu sein in einem immer schon von Klassenkämpfen9 dynamisierten geschichtlichen Raum.

Die bürgerliche Gesellschaft der dOCUMENTA braucht politische Kunst als Legitimitätsregeneration des deutschen Staats

Das Zechengebäude ist Teil eines Projekts der Stadt Genk mit dem Developer LRM und der Universität Leuwen. »EnergyVille, with the Knowledge and Innovation Community (KIC) InnoEnergy […] [will] develop and maintain buildings and infrastructure for the establishment of a science park for research-intensive companies.«10 »Cluster […] ist weit mehr als die Agglomeration von Unternehmen […] Cluster bedeutet die organisatorische Bündelung und Intensivierung innovativer Energien, gepaart mit den aggressiven Sozialstrategien.« Cluster, so Detlef Hartmann und Gerald Geppert in ihrer Untersuchung über die Umstrukturierung des Hauptfinanciers der d13, des VW-Konzerns, sind ausgerichtet darauf, »erneut die Dichotomie zwischen Arbeit und Leben zu überwinden, die eigensinnigen Nischen […] ineffektiven Lebens zu besetzen, die sich im fordistischen Zyklus der Industriebrachen, maroden Innenstädte und selbstständigen Hirne hatten ausbreiten können […] die Zurichtung einer Qualitätsbevölkerung in einem regionalen Qualitätsprozess machen den Kern der Cluster-Politik aus.«11 Natürlich dient die Manifesta als ein Aperitif dieses Prozesses.12 Aber wir fragen uns, was genau das Konzept autonomer Kunst zu dieser Mobilmachung von überflüssiger Bevölkerung beitragen oder ihr entgegensetzen kann? Für die globalen Konzerne sind Bevölkerungen austauschbar. Ihre Mobilmachung ist die biopolitische Maßnahme eines Nationalstaats, der sich seiner Regierungsfähigkeit versichern muss. Und damit gehen wir zur documenta.
In der Karlsaue, dem imposanten barocken Park in der Nähe der Hauptgebäude der d13, sind Arbeiten von etwa 50 KünstlerInnen ausgestellt, größtenteils in Pavillons, meistens von einer introvertierten materialen Poesie und oft über lange Zeit von den KünstlerInnen installiert, zum Beispiel Thea Djordjadzes Installation aus Gips, Holz und Drahtnetzen oder das vollständig mit minimalen Tonformen bedeckte Gartenhausinnere von Anna Maria Maiolino. Uns erinnert das gesamte Arrangement der Hütten im Park an die Künstlersiedlungen der Reformbewegungen13, die Anfang der 20. Jahrhunderts die Dichotomie von Kunst und Leben überwinden wollten – zur selben Zeit als das Fließband ein weiterer Schritt war, die Dichotomie von Leben und Arbeit in der Fabrik zu unterbinden. Sträuben wir uns deswegen auch hier, mit der Ausstellung zu kooperieren? Warum genießen wir nicht? Warum lässt uns diese viele materiale Poesie eher nach der Fabrik fragen, in der wir gerade sind? Was soll diese Anhäufung vereinzelter Zellen bedeuten, die nicht aufhören können zu produzieren, alles voll machen müssen und die eine vitalistische Dauer aufführen, in der die Dichotomie von Arbeit und Lebens erneut zusammenschmilzt?
2001 erschien das Buch »Job Revolution« von Peter Hartz, das der Entwicklung eines neuen Zeitparadigmas galt. »Von 1.760 Jahresstunden würden gerade einmal 1.200 […] gearbeitet. […] Wachstumschancen bestünden hier nur noch, wenn […] eine neue selbstorganisierte Zeit [gedacht würde] […] Arbeit [müsse] […] ein ganzheitliches Stück Leben umfassen. Bei größerer Flexibilität, indem zusätzliche Schichten, Wochenendmodelle eingeführt werden und die Bänder durchlaufen, könne jeder Arbeitsplatz vier bis sechs mal genutzt werden.«14 Reflektiert sich diese Standort-Existenzpanik im Wettlauf globaler Produktivität in den Workaholic-Einsiedeleien des barocken Parks?
Im leeren winddurchwehten Parterre des Fridericianums (eine Arbeit von Ryan Gander) lesen wir in einer einzelnen Vitrine die Absage des Künstlers Kai Althoff. Wir müssen dazu die Ambient-Soundschleife »I’ll just keep on, ’til I get it right« von Ceal Floyer anhören und fühlen uns so beschämt, wie wenn man Zwangsbekenntnissen beim Teamcoaching beiwohnen muss. Die Gründe für die Absage, die im Brief formuliert werden, erinnern an die verbreitete Krankheit Burn-out. Eine Etage höher lesen wir einen Text von Francesco Matarrese, der seit den 1970er-Jahren mit der Ablehnung von künstlerischer Produktion am Ausstellungsbetrieb teilnimmt, die er hier aktuell als Widerstand gegen die »unvermeidliche Teilnahme an der […] Produktion im Zeitalter des kognitiven Kapitalismus« interpretieren kann. »Das Etwas in der Kunst […] ist ein unerhörter Skandal […] [weil es] die Befreiung des Werkes ›ohne etwas‹ behindert.«15 Wir haben es also mit einem klassischen »Symptom« zu tun. Denn »das Etwas in der Kunst« besitzt tatsächlich das Potential, skandalös zu sein, indem es den Skandal der Produktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft selbst thematisiert. Die »Befreiung des Werkes« ist eine Verdrängung dieses Skandals.
Wenn wir die d13 so übertrieben als vitalistischen Cluster beschreiben, dann weil die Auswirkungen der Krise zeigen, wie sehr der sogenannte tertiäre Sektor seine ungedeckten Wechsel auf die klassische Inwertsetzung von Leben und Ressourcen ausgestellt hat. Vielleicht ist es deswegen ebenso übertrieben, das biophile, anti-anthroprozentrische Teilkonzept der d13 als gespenstigen Komplizen dieser Inwertsetzung zu empfinden. Erwähnt die d13 nicht prominent zum Beispiel die Involviertheit der Gruppe And And And in den Protest gegen Monsanto? Aber engagierte Arbeiten wie diese erscheinen auf der d13 selbst wieder inkludiert in ein Katastrophenszenario, »traumatische Momente, Wendepunkte, Unfälle«16, die so geschehen, wie ein Meteorit einschlägt, oder – wie die Experimente zur Quantenphysik und zur Computertechnologie es uns vorführen – als Unschuld der Faktizität. Dieser Katastrophismus zeigt dieselbe Blindheit für die politische Verantwortung, »für das Wagnis und Risiko aller politischen Handlungen […], in denen sich alle geschichtliche Bewegung aktualisiert«17, so wie Koselleck dies der Kritik des 18. Jahrhunderts vorwarf. Sie imaginiere sich als Phönix aus der Katastrophe des absolutistischen Regimes, aber sie verharre genau in diesem Moment. Verwandelt sich nun, in den kulturellen Enklaven des bürgerlichen Staats, diese ständig wiederholte Aschengeburt in ein permanentes Versprechen von kritikaler Regeneration?
Die documenta als Institution hat seit 1989 eine ganz spezifische Krise zu bewältigen. Diese liegt in der Transformation ihrer ideologischen Funktion im Kalten Krieg in einen globalen Repräsentanzanspruch. Diese Aufgabe verschränkt sich mit deutscher »Vergangenheitsbewältigung« und folgt darin einem ideologischen Stereotyp, nämlich weltweites kulturelles Paradebeispiel eines demokratisch geläuterten, ehemaligen totalitären Staats zu sein. Noch nie – so kommt es uns vor – gab es einen derart breiten »Approach« zur NS-Geschichte, der neben den vielen außergewöhnlichen Arbeiten – zum Beispiel die Wandteppiche der norwegischen Künstlerin Hannah Ryggen oder die tagebuchartigen Gouachen von Charlotte Salomon – ebenso viel grobe Sentimentalität ausstellt, etwa die Fotos von Lee Miller in Hitlers Badewanne nach ihrem Besuch in Dachau, daneben ihre »Trophäen« Handtuch und Flakon.
Mit dem Ende der Zahlung an die ZwangsarbeiterInnen am 11. Juni 2007 wurde das letzte Kapitel einer deutschen Wiedergutmachungsgeschichte geschlossen, deren kaltblütiger Geiz 50 Jahre lang kontinuierlich beschämend war. Die Auszahlung der ZwangsarbeiterInnen war unter anderem eine staatliche Maßnahme, um den globalen Börsengang deutscher Firmen (zum Beispiel Allianz, Deutsche Bank, Siemens, Bertelsmann) möglichst unbelästigt von internationalen Entschädigungsklagen zu halten. Zeitgleich begann das History Management der einzelnen Konzerne und Ämter sowie die Welle von Trivialfilmen, in der die NS-Geschichte endgültig folklorisiert wurde, nachdem die Täter pensioniert oder tot sind. Sind wir also wieder mit einer »implodierten Aktualität konfrontiert, in der niemand mehr zur Rechenschaft gezogen wird«? In der documenta erfährt diese Implosion allerdings eine andere politische Aktualisierung. Eine Katharsis wird inszeniert, in der die Trümmer des Fridericianums mit den Trümmern in Kabul, die Zerstörungen der Taliban mit den Bücherverbrennungen der NS überblendet werden.18 Darin folgt sie genau der deutschen Interventionsideologie, die ihre militärischen Einsätze durch diese Läuterung zuvor begangener Verbrechen prädestiniert erscheinen lässt. Selten – so haben wir das Gefühl – wurden künstlerische Arbeiten so deutlich in eine ideologische Pflicht genommen, so dringend gebraucht, als seien sie Teil der Mobilmachung einer Regierung in den neuen Kämpfen um globale Macht- und Ressourcenverteilungen.19

Die bürgerliche Gesellschaft der Berlin Biennale wird beleidigt und zugleich werden ihr die neuesten Tendenzen politischer Kunst aufs Tablett gelegt

Als Zentrum der NS-Rüstungsindustrie wurde Kassel im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. Bereits ab 1956 wurden erneut Panzer in Kassel gebaut, die jetzt von den mit dem Henschel-Konzern fusionierten Unternehmen Krauss-Maffei Wegmann und Rheinmetall Defence direkt hinter dem Kulturbahnhof nach Saudi-Arabien geschickt werden. In der Berlin Biennale wurde zeitgleich zur d13 ein Fahndungsbanner aufgehängt, das die Phantombilder der Erben des Henschel-Konzerns zeigte. Unter den Phantombildern waren nicht nur die Namen, sondern auch Bezeichnungen angegeben wie: Waldorfschüler, Psychotherapeutin, Humanist, Künstler … Das Banner richtete sich gegen die aktuellen Panzerlieferungen, indem die liberale Bildungsbürgerlichkeit der Erben mit angegriffen wird. Die Internetseite offenbarte eine groß angelegte Aktion, die ihre denunziatorische Form als bewusste Strategie reflektierte. Das Banner wurde sofort zensiert. Die Initiative heißt »Zentrum für Politische Schönheit (ZPS)« und begreift sich als »Denk-, Gefühls- und Handlungsschmiede für die Suche nach moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit […] Künstlerisch wird die Gegenwart retrospektiviert (Schillers 9. Brief) und konsequent im Lichte zukünftiger Geschichtsbücher gesehen. Für die Geschichte des 21. Jahrhunderts geht das ZPS von zwei nie dagewesenen Völkermorden in Afrika und Asien aus, welche die westliche Zivilisation einmal mehr unvorbereitet treffen.«20 Auch hier projiziert sich die Kritik in die geschichtsphilosophische Gewissheit einer Katastrophe. Aber diese Projektion ist kein kritikaler Loop, noch ist sie ist eine affirmative Gewissheit wie bei Abbé Raynal. Anstatt des Aufstands der Kolonien, der auch Europa heimsucht, wird nun ein Genozid von Europa aus nach »Asien und Afrika« projiziert – eine allmächtige Projektion auf einen gespenstisch stummen Projektionsschirm, der zwei ganze Kontinente unwidersprochen umfasst.
Die Berlin Biennale versprach, die Schaubühne subventionierter Differenz endlich in Richtung des realen politischen Raums zu verlassen. Sie vergaß dabei, dass sie selbst nicht die politische Realität ist, die sie in den vielen Initiativen zeigt. Sie unterschlägt diese repräsentative Spaltung und wird dadurch zu einem Regime, das keine Kleider anhat und seine Macht unverhüllt zeigt: Das Occupy-Camp in der unteren Etage der Kunstwerke ist eine Völkerschau, die vielen ihres Kontexts beraubten Videos politischer Proteste vom Tahrir-Platz bis nach Moskau sind eine Anhäufung von Beutestücken, der – auch hier – inflationäre und unbedarfte Umgang mit NS-Geschichte ist zynisch, die Transparenz kuratorischer Entscheidungen nichts anderes als ein Open-Call-Management, ein Casting, das »jeden Teilnehmer als Bewegungsressource vernutzt«21.
Wir wiederholen: »Unter Pluralismus verstehen wir die Behandlung von Forderungen wie Waren, einzeln, stets verfügbar in einer politisch konsequenzlosen Inklusion. Zugleich ist dieser Pluralismus die machtvolle Vorführung einer universellen Repräsentationsfähigkeit.« Die Berlin Biennale bedient ein sehr aktuelles Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft. Sie will die weltweiten Aufstände, die von ihr selbst hervorgerufen sind, betrachten können, bevor sie sie verspeist, und sie will dabei ihr eigenes Gefährdet-Sein vergessen. Koselleck schreibt über Rousseaus »volonté générale« als Vision des differenzlosen politischen Seins nach der Liquidierung des Dilemmas bürgerlicher Kritikalität: »Der Souverän ist immer schon das, was er sein soll. Wer er sein soll, glaubt jeder zu wissen, aber gerade deshalb weiß niemand, wer er ist. [Die] Differenz zwischen […] Moral der Bürger und Politik des Staates ist dadurch so wenig in Deckung gebracht, als der ideologische Schein ihrer Identität permanent zu zerreißen droht. Um den Schein als wirklich aufrechtzuerhalten, werden die Mittel der Identifizierung – Terror und Ideologie – perpetuiert.«22 Er schreibt dies kurz nach dem Ende des NS-Regimes. Die Berlin Biennale lässt dieses Dilemma – die für das Bürgertum konstitutive Dialektik von kritischer Kultur und politischer Macht – in einer Zeit obsolet erscheinen, in der konservative, neoliberale und neorechte Regierungen mit dieser lästigen, stubenfliegenhaften Kritikalität in ihren kulturellen Enklaven endlich kurzen Prozess machen wollen.

Schlusswort

Wenn wir hier Ausstellungen und nicht künstlerische Arbeiten kritisiert haben, dann weil wir auch im Kunstbereich einen Unterschied machen zwischen denen, die produzieren, und denen, die über diese Produktion verfügen. So stellen diese Ausstellungen als Verfügungsmomente eigene spezifische »bürgerliche Gesellschaften« her. Abgesehen von den nervenden Gegenbeispielen glauben wir, dass die vielen integren und engagierten Arbeiten in allen drei Ausstellungen sehr deutlich an ein Potenzial erinnern, das grundsätzlich in künstlerischer Arbeit angelegt ist, es ist das Artikulationsvermögen der eigenen politischen Bedingungen und der Empathie mit den Bedingungen anderer.
Wir schließen also nicht katastrophisch mit einer Prognose vom Ende der Kunst oder des bürgerlichen Systems. Wir beschwören kein moralisches Gericht herauf, das sich zwangsläufig vollstrecken wird. Sondern wir plädieren für einen verantwortlichen kuratorischen Umgang, der, anstatt Inhalte und Arbeiten wahllos zu inkludieren, sich lieber sorgfältig der Spezifik der jeweiligen politischen Kontexte widmen sollte. Dann werden die Inhalte Konsequenzen in der Struktur und dem Statement der Ausstellung hinterlassen.
Wir haben hier öfter an die Grundsätze einer marxistischen Analyse erinnert, die die ökonomische Bedingtheit des bürgerlichen Systems und dessen humanitäre Konsequenzen immer wieder transparent macht. Die Analyse ist nun frei geworden von der Obsoletheit einer marxistischen Geschichtsphilosophie, die – darin ganz dem bürgerlichen Muster folgend – sich als Phönix aus der Katastrophe des bürgerlichen Regimes imaginierte. Wir glauben, dass diese Analyse zu akademisieren droht, anstatt sich den gegenwärtigen konkreten politischen Verhältnissen zu widmen. Diese Widmung ist kein voluntaristischer Akt, der Subjekt und Objekt, dieses und jenes Lager säuberlich trennen kann. Sie ist ein psychischer Prozess, der in dem, was er kritisiert, hartnäckig sitzen bleibt, ohne zu gehen. Das Dilemma der bürgerlichen Kritik, aus einer – spendierten und angemaßten – Autonomie politisch zu agieren, ist ihre stets halbseidene, stets unwahre Konstitution. Ob sie Lüge, Kitsch, kritikales Genre produziert, oder ob sie sich bemüht, die kriminellen Bedingungen und die Auswirkungen jener Gesellschaft, von der sie bezahlt wird, immer wieder zu benennen, ist nicht Sache eines politischen Strukturwandels, den sie nicht alleine leisten kann, sondern zuallererst Sache der politischen Ethik jedes Einzelnen ihrer AkteurInnen.

Manifesta 9, 2. Juni bis 30. September, Genk, Limburg, Belgien, www.manifesta9.org; dOCUMENTA (13), 9. Juni bis 16. September, Kassel, www3.documenta.de;
7. Berlin Biennale, 27. April bis 1. Juli, Berlin, http://www.berlinbiennale.de.

 

 

1 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Zur Pathogenese der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt am Main 1973, 2. Auflage, S. 149/151.
2 Ebd., S. 85.
3 Vgl. Benjamin Buchloh im Gespräch mit Catherine David zur documenta X.
4 Die Arbeit zeigt ein Heer von in verschiedenen Materialien geschnitzten Minenarbeiterköpfen, die in den letzten 50 Jahren entstanden sind; ebenfalls beeindruckend sind die Bilder und Fotos der Minenarbeiter der englischen Ashington Group (1934–1984).
5 http://manifesta9.org/en/news/manifesta-9-curatorial-concept-the-deep-of-the-mo/
6 Dawn Ades, Interview in der Zeitung der Manifesta 9, S. 27. Ähnlich geht es uns mit der Arbeit »Bolivian Coal Line« (1992) von Richard Long und »Trois tas de charbon« (1966–67) von Marcel Broodthaers.
7 www.sueddeutsche.de/wirtschaft/energiebranche-der-fluch-der-kohle-1.1024027
8 Manifesta-Konzept, a.a.O.
9 Gemeint ist der Begriff als Ausbeutungsverhältnis und nicht als soziologische Zuschreibung.
10 www.technopolicy.net/annualconference/
11 Detlef Hartmann/Gerald Geppert, Cluster. Die neue Etappe des Kapitalismus. Berlin/Hamburg 2008, S. 28 und S. 10.
12 »The renovated venue in Waterschei [...] can be seen as an industrial monument, exemplary for the redevelopment potential of the former mining region [...] After Manifesta 9, the remaining architectural elements of Waterschei have been included in the development of a master plan, Thor Park.«; http://manifesta9.org/en/manifesta-9/#subpage-why-genk.
13 »Kleine Gebäude …, die an den Rückzugsort der Gemeinschaft des Monte Verità bei Ascona zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnern.« An Essay by Carolyn Christov-Bakargiev, Pressemappe d13, Kassel 2012. Die Arbeit von Lea Porsager zeigt in der Parkaue Objekte einer nachempfindenden Séance mit ihren Freunden in Monte Verità.
14 Hartmann/Geppert, S. 162; Peter Hartz war Gewerkschaftsfunktionär bei VW, Namensgeber der Rationalisierung des deutsche Sozialsystems und Mitplaner der Umstrukturierung des VW-Konzerns.
15 dOCUMENTA (13), Das Begleitbuch. Ostfildern 2012, S. 90.
16 »Vielmehr betrachtet sie [die d13] traumatische Momente, Wendepunkte, Unfälle, Katastrophen und Krisen – Ereignisse, die jene Momente prägen, an denen sich die Welt verändert. Und sie betrachtet sie insofern, als es sich dabei um Momente handelt, […] in denen Materie Bedeutung erlangt, wie in der Geschichte des Meteoriten El Chaco.« Carolyn Christov-Bakargiev, a.a.O. Das Engagement der Gruppe And And And wird im selben Essay ausführlich beschrieben, ist allerdings in der Ausstellung kaum zu sehen.
17 Koselleck, a.a.O., S. 156.
18 Zum Beispiel Mariam Ghanis Videoporträts des Dar ul-Aman Palasts in Kabul und des Fridericianums in Kassel; »landmarks for modernity and enlightenment when built, they became monuments to the fall of civilization through destruction.« d13 Begleitbuch, S. 478.
Michael Rakowitz lässt Bücher, die 1941 im bombardierten Fridericianum verbrannten, aus den Steinen des von den Taliban zerstörten Buddha-Tempels in Bamiyan meißeln.
19 Bereits 1992 wurde die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« als Richtlinie der Bundeswehr genannt. Dies gehört nun zum Common Sense: »Gerade im Zeitalter der Globalisierung ist die deutsche Wirtschaft mehr als zuvor auf den freien Zugang zu den Märkten und Rohstoffen der Welt angewiesen. Die Bundeswehr kann als Teil der staatlichen Sicherheitsvorsorge im Rahmen internationaler Einsätze zur Sicherung der Handelswege und Rohstoffzugänge beitragen.« CDU-Parteitag, November 2006; www.friedenskooperative.de/ff/ff10/4-73.htm#marke52.
20 www.politicalbeauty.de/center/Zentrum_fur_Politische_Schonheit.html
21 Art Covers Politics, Radek Krolczyk im Gespräch mit Creischer/Siekmann, in: Konkret 6/2012.
22 Koselleck, a.a.O., S. 13.