Heft 2/2013 - Lektüre



Jens Kastner, Isabell Lorey, Gerald Raunig, Tom Waibel:

Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen

Wien/Berlin (Turia + Kant) 2012 , S. 71

Text: Gislind Nabakowski


Die Politologin Isabell Lorey, die an verschiedenen Universitäten Postcolonial und Gender Studies lehrt, schrieb für die vielsagende Reihe es kommt darauf an bei Turia + Kant den Band Die Regierung der Prekären. Ebenfalls in der Reihe erschienen ist der Reader Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen von Isabell Lorey, Jens Kastner, Tom Waibel und Gerald Raunig. Beide Bücher parallel zu lesen, empfiehlt sich. Denn: Nicht nur Lorey stellt im Essay über die Widerstandspotenziale neuer Demokratiebewegungen (Occupy! ) politische Versammlungsformen in den Mittelpunkt, wie sie sich während der „Arabellion“, dem Occupy-Aktivismus, bei Stuttgart 21, in Bürgerbewegungen gegen Finanzblasen und Bildungsnotstände oder bei Universitätsbesetzungen lokal und global auftun. Den politischen Bewegungen, die nur noch wenig mit dem althergebrachten Kooperatismus von Protestbewegungen der Arbeiterklasse oder der einstigen Linken zu tun haben, stellt sie in Die Regierung der Prekären Theorieperspektiven zur Seite. Die Macht der vielen steht nach Meinung aller AutorInnen für eine Offenheit, eine Multitude von Gruppen, die nach neuen Mustern für politische Proteste und deren Organisationen suchen.
Lorey, deren Texte sich im Kontext der Repolitisierung des Poststrukturalismus verorten, untersucht die historischen wie aktuellen Praxis- und Theoriebedeutungen des Prekären. Den Hintergrund bildet die Frage nach Bündnissen und die Ideengeschichte der Menschenrechte. Loreys Text führt zurück auf ein Rechtsempfinden, durch das Prekarisierung gestaltbar wird. Denn immer weniger Menschen sind bereit, die lähmenden Verhältnisse der (spätestens) seit 2008 gescheiterten Doktrin des Neoliberalismus widerstandslos hinzunehmen. Sie haben – wie die neuen Bewegungen zeigen – kein einheitliches identifikatorisches „Wir“.
Das Problem der Armut breitet sich aus. Global gesprochen wurde im Neoliberalismus Prekarisierung immer mehr zur Normalität. Sie ist für viele kein Ausnahmezustand. Auch in Europas Fordismus waren prekäre Verhältnisse schon präsent. Ausgehend von Judith Butlers Begriff des generell Prekären – dargestellt an der Unausweichlichkeit der menschlichen Körperlichkeit und Gefährdung – unterscheidet Lorey zwischen drei politischen Formen: Prekärsein, Prekarität und Prekarisierung.
Schon im 18./19. Jahrhundert entstand eine imaginäre Selbstsouveränität: Einzelne erkannten sich als souveräne Subjekte; doch die begehrte Teilhabe beschränkte sich auf die bürgerliche Klasse. Immer wurde dabei versucht, die Gestaltbarkeit der Herrschaft von männlichen, weißen Normen von Nation, Geschlecht und Rasse zu unterwerfen. Somit wurden die Einzelnen lenkbar und organisierbar. Ganze Gruppen fielen durch die Biopolitik des „Othering“ aus der Selbstsouveränität heraus: Frauen, Kranke, Alte, Arme, ebenso die Bevölkerung der Kolonien. Die heutigen Aufstände zeigen den „Exodus“ (Lorey argumentiert hier mit Paolo Virno) aus dem Konzept. Aber der regierende Liberalismus im Kapitalismus versucht, die Dynamik weiter stabil zu hierarchisieren. Prekarität ist somit als eine strukturelle Ordnungskategorie von segmentierten Gewalt- und Ungleichheitsverhältnissen zu verstehen. Diese Herrschaftsform, die sich zur gesellschaftlichen Mitte hin verschob, operiert mit Furcht und ist eine Strategie der Normalisierung, eine Form der Immunisierung, die zugleich erneut ein politisch-ökonomisches Instrument zur Sicherung von Herrschaftsverhältnissen ist. Neue Sicherheitstechniken schaffen geradezu Prekarität. Der Zerfall alter Herrschaftsverhältnisse wird häufig auch im Westen „als Katastrophe“ dargestellt.
Lohnarbeit, die zu Armut führt, eine dem Zufall unterworfene Existenz, hat der Postfordismus global gesagt rehabilitiert. Lorey bezieht sich auf Pierre Bourdieu und Robert Castel, wenn sie schreibt, dass man in Europa seit mehr als 30 Jahren mit der erodierenden Brüchigkeit staatlicher Sozialsysteme konfrontiert ist. Die Zone der Prekarität – die Castel und Boudieu räumlich fassten – ist die der größten Verwundbarkeit.
Leider werden nur wenige politische Praxen, die eine aufmüpfige Vielfalt des Prekären bezeugen, im Buch genauer vorgestellt. So gibt es in Frankreich etwa die Intermettants du spectacle, Prekarisierte, weil diskontinuierlich Beschäftigte des Theater-, Film- und Medienbereichs, die darauf anders reagieren als solche aus „einfachen Kreisen“. Im zweiten Teil über „Virtuosität und die Postfordistische Öffentlichkeit“ erörtert die Autorin die Tatsache, dass es zunehmend Erwerbsarbeit gibt, die Einzelne nicht mehr ernährt, und dass die Verfügbarkeit über private Zeit zunimmt. Der einst souveräne Einzelne muss sich also zusehends sicherheitslos Systemen unterwerfen, die auf schnellen Profit aus sind. In der Folge schreibt Lorey, im Rückgriff auf Hanna Arendts Schrift Vita Activa, von der Schar ausführender KünstlerInnen, deren darstellende Formen (Musizieren, Tanz, Theater, bildende Kunst) keine Produkte herstellen, weil die Leistung im performativen Vollzug liegt. Diese Politik der Virtuosität braucht stets öffentliche Räume. Für Lorey wiederum ist die neue Verbindung von Freiheit, Virtuosität und kognitiver Arbeit gegen den globalen Kapitalismus von Bedeutung, deren Erscheinungsraum ein öffentlicher ist, weil es ihr auch um eine produktive Freiheit des Willens und der Affekte geht. Vorgestellt werden jedoch nur zwei weitere Gruppen: die in Spanien situationistisch in der Stadt umherschweifenden und agierenden Precarias a la deriva (eine feministische Gruppe mit der Idee der Sorgestreiks), die minoritäre Wissensformen generieren und verknüpfen. Und die EuroMayDay-Paraden, die seit den 2000er-Jahren in über 20 europäischen Städten jeweils am 1. Mai Austausch und Orientierung für Risikogruppen ermöglichen. Für alle hat „Ungehorsam“ eine politische Perspektive.