Heft 1/2015


Kritische Netzpraxis

Editorial


Seit gut 20 Jahren – solange es diese Zeitschrift gibt – wird ein kritischer Diskurs über neue Informationstechnologien geführt. Vierteljährlich versuchen wir auf den Seiten des Netzteils, Beiträge und Ausblicke dieses Diskurses zu präsentieren bzw. Akzente zu setzen. Dabei hat sich der Fokus vom engeren Bezug auf das Internet und das World Wide Web, zur Zeit der Magazingründung beides noch absolute Novitäten, hin zu allgemeineren Mediendispositiven der Gegenwart und deren Rolle für die Kunst erweitert. Ein zentraler Aspekt ist dabei nach wie vor der Netzwerkgedanke, allerdings hat sich dieser innerhalb einzelner Mediensphären vielfältigst aufzufächern begonnen – eine Bewegung, der wir im Netzteil möglichst umsichtig und differenziert zu folgen versuchen.
Der Diskurs über kritische Netzpraktiken wird seit Langem von einer Vielzahl von Instanzen und – anfangs oft „illegitimen“, ja außerinstitutionellen – Akteuren geführt. Eine der wichtigsten Vermittlungsplattformen, etwa zeitgleich mit der springerin entstanden, ist das Institut für neue Kulturtechnologien (Public Netbase – t0), später umbenannt in World-Information Institute (http://world-information.net). Nachdem sich dessen Gründung kürzlich zum 20. Mal jährte, wollen wir in dieser gemeinsam konzipierten Ausgabe die wichtigsten Stationen und Entwicklungslinien des anhaltenden Netzdiskurses aufrollen.
Die grundlegenden Fragen, von denen diese Kooperation geleitet ist, sind schnell benannt: Inwiefern sind im Internet, inzwischen zu einer alltäglichen Lebensrealität geworden, noch Inseln „temporärer Autonomie“ zu finden? Inwiefern haben sich demgegenüber die dunkelsten Kontroll- und Überwachungsdystopien, vor denen lange gewarnt wurde, durchgesetzt? Wie haben digitale Vernetzung und Modellierung insgesamt das soziale Leben zu transformieren begonnen? Welche neuen Informationsregime sind darin am Werk? Und welche kritische Rolle können Kunst- und Kulturschaffende, einst VorreiterInnen bei der Besiedlung digitaler Welten, heute diesbezüglich spielen?
Thematisch geht es zunächst um den „Einsatz“ der Vernetzung – nicht nur im Sinn des historischen Beginns, sondern auch im Hinblick darauf, was im Zuge dieser Aktivität auf dem Spiel steht und wovon sie heute am stärksten gefährdet wird. Konrad Becker und Felix Stalder, denen als Proponenten des World-Information Institute für die Zusammenarbeit herzlichst gedankt sei, lassen gemeinsam mit den Vertreterinnen eines „Partnermediums“ die Entwicklung seit Mitte der 1990er-Jahre Revue passieren: Pauline van Mourik Broekman und Josephine Berry Slater, beide aus dem Umfeld des englischen Magazins Mute, rekapitulieren zusammen mit Becker und Stalder ihre Erfahrungen bzw. jenen Gründergeist, der vor 20 Jahren Plattformen wie die Public Netbase in Wien oder Metamute in London aus dem Boden sprießen ließ. Der Gesprächsbogen spannt sich bis herauf in die Gegenwart bzw. zur Frage, wie sich dezidiert kritische Ansinnen in der Netzpraxis heute noch behaupten können, ja welche Praxisformen einer durch und durch vernetzten Gegenwart angemessen sind.
Graham Harwood von der KünstlerInnengruppe YoHa sendet diesbezüglich einen pointierten Warnruf aus. In der sogenannten „agentenbasierten Modellierung“, einer Netzwerktechnik, wie sie von der Stadtplanung bis hin zum Internethandel Verwendung findet, sieht er eine zutiefst perfide Kontrollvorrichtung am Werk, die den Subjekten in Wirklichkeit immer weniger Handlungsspielraum lässt. Ist die unausweichliche Konsequenz davon ein paralyseähnlicher Entrückungszustand, wie Harwood ironisch suggeriert? Steve Kurtz vom Critical Art Ensemble, selbst ein „gebranntes Kind“, das vor Jahren unvermutet heftig in die Überwachungsfänge des FBI geriert, ist bei aller Negativerfahrung eine Spur optimistischer: Zwar werde Kreativität heute institutionell fast ausschließlich für die Produktion marktgängiger Waren nutzbar gemacht, doch zeigen sich da und dort auch Abspaltungstendenzen – Formen von Dissidenz, die dem Vernetzungsparadigma vielleicht noch einmal neue Nahrung „von unten“ geben.
Wie dies konkret aussehen könnte, legt Ilias Marmaras in seinem Beitrag über neue politische Netzwerke und Kollektive in Griechenland dar. Gerade angesichts der drakonisch verordneten Sparprogramme „von oben“ scheint es nötiger denn je, selbst initiativ zu werden und Produktionszusammenhänge, soweit dies im global gesteuerten Verbund überhaupt möglich ist, selbst in die Hand zu nehmen. Ähnlich argumentiert Brian Holmes im Hinblick auf die sogenannte „Sojarepublik“ in Südamerika. In Anbetracht immer ungreifbarerer globalökonomischer „Player“, deren Profitstreben vor keinen natürlichen oder kulturellen Grenzen haltmacht, sei es Aufgabe einer ebenso weltweit agierenden aktivistischen Kunst, eine vernetzte politische Ökologie ins Leben zu rufen.
Dass es im Zuge von kritischer Netzpraxis stets auch um Eigentumsverhältnisse bzw. Fragen der Vergemeinschaftung geht, kommt in einer Reihe weiterer Beiträge zur Sprache: etwa bei Alessandro Ludovico, der den umstrittenen Aspekt des „Selbermachens“ im Hinblick auf gegenwärtige Medientechnologien diskutiert; oder bei Cornelia Sollfrank, die sich explizit damit beschäftigt, was es bedeutet, Dinge weiterzuverarbeiten bzw. weiterzugeben, die einem selbst nicht gehören.
Durchgängig kommt in der gesamten Ausgabe eine Haltung zum Tragen, die gleichsam dekadenübergreifend nachwirkt: nämlich dass in Netzdiskurs und -praxis ein schwer zu zähmender kritischer Impuls am Werk ist, den selbst die anhaltende Medienkonzentration der letzten 20 Jahre nicht zum Verstummen gebracht hat.