Heft 1/2015 - Kritische Netzpraxis


Einsatz der Vernetzung

Ein Roundtable zu 20 Jahren Netzkultur

Konrad Becker, Josephine Berry Slater, Felix Stalder, Pauline van Mourik Broekman


Vor rund 20 Jahren entstanden etwa zeitgleich die Internetplattform t0 – Public Netbase in Wien und das Magazin Mute in London, dessen Schwerpunkt gleichfalls auf einem kritischen Mediendiskurs lag. Beide nahmen in ihrem jeweiligen Umfeld eine gewisse Vorreiterrolle ein, was das Entstehen einer vielfältigen Netzkultur und des sie begleitenden Diskurses betrifft. Beide sahen sich den Umbrüchen und Einschnitten der Zeit seither in unterschiedlicher Form ausgesetzt. Grund genug, um über Entwicklungen in diesem Feld zu reflektieren, Parallelen und Divergenzen an verschiedenen Orten zu rekapitulieren, aber auch Potenzialen und Ausblicken in die Zukunft nachzugehen.
Ein Roundtable mit ProtagonistInnen der beiden Plattformen, die heute in Form des World Information Institute, hervorgegangen aus der Public Netbase, bzw. dem Online-Medium metamute.org weiterhin aktiv sind.

Konrad Becker, Josephine Berry Slater, Felix Stalder, Pauline van Mourik Broekman

Konrad Becker: Einer der Themenstränge, die wir hier besprechen möchten, ist, wie sich das, was man kritische Medienkultur nennen könnte, in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Lässt sich aus dieser Entwicklung etwas für heute lernen? Dabei geht es zunächst einmal um ein Verständnis dafür, wie notwendig unabhängige Plattformen für die Kulturproduktion sind. In den 1990er-Jahren gab es eine regelrechte Gründerwelle an freien Kulturinstitutionen – woran wir alle hier beteiligt waren. Damals war man sich einig, dass es neue Institutionen braucht, die sich mit den neuen Kulturtechniken auseinandersetzen. Neue Labors und Diskussionsplattformen standen gleichsam auf der Tagesordnung.

Pauline van Mourik Broekman: Wir haben praktisch alle zugleich angefangen, nämlich 1994. Meiner Meinung nach war der Katalysator dafür die Unzufriedenheit mit dem Status quo, besonders was das etablierte Kunstsystem und seine Ausstellungsmöglichkeiten betraf. Viel konnte man sich bei den Projekträumen abschauen, die KünstlerInnen selbst gegründet hatten. Dieser Trend war in London damals bereits sehr augenfällig. Trotzdem war das, was über Kunst geschrieben wurde und wie Kunst diskutiert wurde, politisch immer noch recht eindimensional. Fast immer ging es nur um einzelne KünstlerInnen. Damals kam gerade die Young British Art auf. Auch die Internetkultur, die ursprünglich ja eher in Amerika und nicht in Europa zu Hause war, bekam einen ungeheuren Energieschub, auch in seinen etwas abgefahrenen Formen wie bei der Zeitschrift Mondo2000. Das ganze Internetding hatte eine dynamische Kraft, von der im Kunstdiskurs null zu merken war. Was die Orte betrifft, die später Sammelpunkte für die kritische Netzkultur werden sollten, so erinnere ich mich, dass eine der ersten Ankündigungen – ich glaube, es ging um ein Nettime-Treffen – an Leute gerichtet war, die nicht eindeutig einer Fachdisziplin oder Institution angehörten. Die neuen Räume ließen solche Leute in Kontakt treten, was ja auch Sinn machte. Natürlich baute man dabei auf den etablierten Kulturökonomien auf, zum Beispiel auf den schon existierenden Festivals für elektronische Kunst, die für mich damals noch neu waren. In Europa war es also ein ganzes Sammelsurium von Umständen, die zu der Gründungswelle führten und die man aus heutiger Sicht nicht mehr so leicht auseinanderhalten kann.

Becker: Warum, glaubt ihr, lag es in der Luft, dass damals Orte wie der Londoner Backspace – und davon gab es unzählige – entstanden? Und warum ist von ihnen heute nichts mehr zu sehen? Hat das mit dem wirtschaftlichen Umfeld zu tun? Was die erwähnte mangelnde Dynamik innerhalb der Kunstszene betrifft, so ist die Unzufriedenheit in Kunst und Kultur als Ganzes heute wahrscheinlich noch größer als damals. Sogar im Mainstream wird die etablierte Kunst heftiger kritisiert als in den 1990er-Jahren.

Josephine Berry Slater: Ich glaube, es gibt dafür sowohl kulturelle wie auch ökonomische Gründe. Einen großen Anteil daran haben beispielsweise die Mietpreise. Noch nie in der Geschichte Londons waren die Wohnungen so teuer wie heute. Die Immobilienpreise sind seit der Finanzkrise von 2008 noch einmal um circa 30 Prozent nach oben gegangen. Nehmen wir Backspace. Allein, dass man damals billig ehemalige Fabrikhallen anmieten konnte, trug sehr viel zur Gründung des Raums bei. Ich weiß, das ist nichts Neues, aber es macht einen Riesenunterschied. Ich glaube überhaupt, dass der Wohlfahrtsstaat damals noch, wenn auch oft über Umwege im Förderdschungel, eine Stütze der Kultur war. Und man konnte kostenlos studieren. Auch das macht einen Riesenunterschied. Man schloss sein Studium ohne oder mit nur geringen Schulden ab. Viele waren zwar verschuldet, aber man musste nicht gleich einen Angestelltenjob annehmen.

Felix Stalder: Die Internetkultur entwickelte sich nicht allein in Berlin und London mit Hochdruck, sondern an vielen anderen Orten auch. Allerdings war die Situation in Wien ein bisschen anders. Konrad, was waren deine Hauptmotive, eine unabhängige Institution aufzubauen?

Becker: Persönlich war ich immer schon an Fragen neuer künstlerischer Arbeitsformen interessiert gewesen. Es ergab sich also ganz natürlich, dass ich eine Plattform wie die Public Netbase gründete. Wenn’s kein anderer macht, dachte ich, dann muss es eben ich machen. Österreich ist historisch gesehen ein sehr selbstbezogenes und isoliertes Land. Die etablierten Institutionen waren den Diskursen gegenüber, die mich und meine Gleichgesinnten interessierten, nicht sonderlich offen. Besser gesagt: Diese Ansätze waren mehr oder weniger außen vor. Seit einiger Zeit schon waren selbstorganisierte Netzwerke abseits des Mainstreams eine wichtige Quelle für interessante Musik oder Zines. Und dann war da die passende Gelegenheit. Mit der neuen Kommunikationstechnik war es dann nicht nur nötig, sondern auch möglich, unabhängige Infrastrukturen aufzuziehen. Damals hatten KünstlerInnen, AktivistInnen und freie Kulturproduzierende in Österreich keinen richtigen Zugang zum Internet. Die Public Netbase war nicht nur der erste gemeinnützige Internetprovider, sondern auch eine interdisziplinäre Plattform zum Austausch von Know-how und Ideen.
Die schon genannten wirtschaftlichen Aspekte spielten dabei natürlich auch eine Rolle. Ein Punkt war, dass diejenigen, die sich mit Computern auskannten, relativ leicht Teilzeitjobs fanden – als WebdesignerInnen zum Beispiel. Den Rest der Zeit konnten sie dann das machen, was sie wirklich interessierte. Die Mieten sind zwar nicht überall um 30 Prozent gestiegen – aber trotzdem ist der Gründergeist seither verflogen. Ich frage mich also, ob es wirklich nur die ökonomischen Umstände sind. Geld spielt ganz sicher eine wichtige Rolle, vom Wohlfahrtsstaat war zuvor auch schon die Rede, aber Pauline hat darüber hinaus auch Interdisziplinarität als wichtigen Aspekt des damaligen Trends erwähnt. Bei uns trafen sich einfach Menschen aus Gesellschaftsbereichen, die heute wieder viel stärker segregiert sind. KünstlerInnen und AktivistInnen standen damals Seite an Seite, und daraus ergaben sich Möglichkeiten neuer Art. Ich frage mich, warum das heute nicht mehr so ist.

Stalder: In den frühen 1990er-Jahren gab es schlichtweg keinen Ort, wo man über Netzkultur diskutieren konnte. Ich hatte gerade mein Studium abgeschlossen und sah, dass es im akademischen Kontext überhaupt kein Bewusstsein gab, dass hier etwas Neues und Wichtiges im Entstehen war. Außer der Informatik interessierte sich kein Fach für das Internet. Das Gleiche galt auch für die meisten Kunstinstitutionen. Es gab einfach keine Orte, die sich der Netzkultur widmeten. Immerhin konnte man bei etablierten Festivals gleichsam Trittbrett fahren. Also muss man zunächst einmal ein paar Leute zusammenbringen, die davon eine Ahnung haben. Das gab uns wiederum die Möglichkeit, den Festival- oder Institutionsleuten zu sagen: Okay, ihr gebt uns das Geld, und wir machen etwas, das ihr nicht selber machen könnt! Immerhin gab es ein paar solcher Institutionen, die etwas förderten, was sie selbst nicht verstanden.

Berry Slater: Dem würde ich gerne noch etwas hinzufügen. Seit den 1960er- und 70er-Jahren wurden in der Kunst, wie wir alle wissen, viele Experimente mit Medien ausprobiert. KünstlerInnen hatten neue Gattungen erfunden, Genres miteinander vermischt, Kunst mit politischem Aktivismus verknüpft. In den 1980er-Jahren ist diese Selbstinstitutionalisierung, wenn man sie so nennen will, zum Stillstand gekommen. Offensichtlich trug das Internet am Anfang das Versprechen in sich, dass man diese Experimente auf eine neue Ebene heben können würde. Vielleicht glaubte man auch, die aus den lokalen Kunstszenen stammenden Projekte der 1960er- und 70er-Jahre, die eingeschlafen oder vom Staat übernommen worden waren, wiederbeleben zu können. Und so war es ja auch in Wahrheit: Was anfänglich im Widerstand gegen den staatsgeförderten Kulturbetrieb entstanden war, wurde Teil der offiziellen Förderpolitik des Staats. Einen Augenblick lang schien es, als könnte man dies wieder rückgängig machen. Wichtig war auch die Gründungseuphorie, die am Anfang schon erwähnt wurde. Die UdSSR war zerfallen, und eine wirklich internationale Kultur schien endlich greifbar. Es gab so etwas wie eine „Kunst-Glasnost“. Die Netzkunst, die mich damals inspirierte, handelte davon, wie man in der neuen Kunstbewegung das Lokale mit dem Globalen verbinden könnte. Dabei wusste man natürlich nicht, was „global“ eigentlich bedeutete, weil wir ja bis Ende der 1980er- bzw. Anfang der 90er-Jahre gar keine umfassende Vorstellung der Welt hatten. Das versuchten wir nun nachzuholen, zugleich mussten wir aber die Möglichkeiten einer weltweiten Kommunikation unter gleichgesinnten Szenen ausbaldowern. Ich glaube also, dass die Kraft und die Dringlichkeit, von denen zuvor die Rede war, deswegen so enorm waren, weil wir die Eigeninitiativen aus den 1960er- und 70er-Jahren auf ein neues Niveau zu hieven versuchten. Das ging dann in die Antiglobalisierungsbewegung über, bis schließlich der 11. September 2001 kam. Das war dann das Ende dieser Phase, wenn nicht schon der Dotcom-Crash …

Stalder: Bei den vielen Institutionen, die damals aus dem Boden schossen, gab es eine ganz bestimmte Ähnlichkeit: Alle wollten ihren eigenen Weg gehen, und zugleich wollte man kein Einzelkämpfer mehr sein, sondern in offenen Netzwerken zusammenarbeiten.

van Mourik Broekman: Josephine hat von dieser neuen Ebene gesprochen. Ich frage mich, wer daran beteiligt war und – ganz buchstäblich – die Technik beisteuerte. Natürlich war die Unzufriedenheit mit der etablierten Kunst mit ein Grund, unsere Zeitschrift Mute als eine Art Spezialmedium zu gründen. Zeitschriften sind ja immer eine kollektive Unternehmung, und ich wollte endlich weg von der krankhaften Vorstellung, dass alle Originalgenies sein müssen. Aber das war natürlich nichts Neues. Auch diese Bestrebung gibt es schon sehr viel länger. Dazu kam aber, dass man, was das technische Spezialwissen anging, voneinander abhängig war. Das war interessant und machte zugleich auch Spaß. Und ja, diese spannenden neuen Allianzen und Freundschaften entstanden aus einer gewissen Notwendigkeit heraus. Ich weiß nicht, ob der Ausdruck „gegenseitiger Respekt“ angebracht ist, aber ganz sicher wollte man bestimmte Projekte als Kollektiv realisieren. Die kulturellen Hintergründe dieser unterschiedlichen Know-hows erschienen oft völlig inkompatibel. Was hat die Kunstszene groß mit der Hackerszene zu tun? Im Endeffekt stellten sie sich aber als durchaus kompatibel heraus. Es gehörte zur Energie jener Zeit, dass sonst so abgeschottete Szenen zusammenfanden.
Andererseits will ich das nicht glorifizieren, denn die Sache war insgesamt sehr kurzlebig. Was aber die technischen Resultate und vielleicht auch die Kunst angeht, die auf diese Weise entstand, so waren sie meiner Meinung nach sehr wichtig. Die neuen Medien waren damals noch nicht sehr weit entwickelt. Ich konnte die Website einer Organisation programmieren, und somit konnte ich auch unsere eigene Website programmieren. Konrad hat bereits das neuerliche Zersplittern in die alten Disziplinen angedeutet. Genauso sind in der Kunst die alten Gattungen wieder auferstanden – jedenfalls in der Medienkunst. Es gibt nicht mehr einen bunten Haufen Unzufriedener, sondern verschiedene Sparten fein etablierter Medienkunst. Das hat schlichtweg mit der Entwicklung von Technologie zu tun. Programme werden heute für ganz spezifische Aufgaben und Märkte geschrieben. Experimentelle Kollaborationen sind unter diesen Umständen nicht mehr so einfach. Ich bin sicher, dass es sie noch irgendwo gibt, doch Menschen mit so wenig technischem Know-how wie ich haben da wohl kaum noch Zugang.

Becker: Ihr glaubt also, dass diese kollektive Zusammenarbeit sehr stark im Austausch von Know-how begründet war? Zuvor wurde erwähnt, dass diese Entwicklung noch viel weiter zurückgeht, vielleicht bis in die 1960er-Jahre oder sogar bis zur Wende zum 20. Jahrhundert. Ist der Austausch von Know-how nicht in einem viel breiteren Rahmen zu verstehen?

Stalder: Ich würde das jedenfalls nicht unterschätzen. Die Idee der Zusammenarbeit ist natürlich sehr viel älter. Aber die Neuheit der Technik verlieh der Idee richtig Nachdruck, weil der unmittelbare Nutzen leichter zu erkennen war, und das steigerte die Motivation, die Hürden der Zusammenarbeit zu überwinden. Durch diese Vernetzung konnte man tun, was in zweierlei Hinsicht – sagen wir ideologisch und praktisch – richtig und erstrebenswert war. Aus dieser Kombination von Ideologie und Pragmatik schöpfte unser Unterfangen teilweise seine Energie. Wenn man nun überlegt, was sich seit dem Jahr 2000 verändert hat, so wurde ja schon auf die Dotcom-Blase und 9/11 verwiesen. Diese beiden Ereignisse schufen ein ganz neues soziales Klima und eine neue Gesellschaftspolitik. Ich denke aber auch an die Entstehung der „sozialen Medien“, durch welche die ganze Netzwerktechnik erst so richtig „nutzerfreundlich“ wurde. Die betreffende Branche ist enorm spezialisiert, und auch meine Studierenden erwarten heutzutage, dass alles fixfertig von Google daherkommt. Geduld mit Dingen, die nicht auf Anhieb funktionieren, gibt es kaum noch.

Berry Slater: Ich musste unlängst bei einer Veranstaltung am ICA über „Kunst nach dem Internet“ sprechen. Die Veranstalter luden mich als eine Art Urgestein ein, das sich noch an die Zeit erinnern kann, als das Web 1.0 entstand. Um den Unterschied zu versinnbildlichen, zeigte ich zwei „Porträts“. Eines war von Heath Bunting aus dem Jahr 2004 und trug den Titel Artist’s Self-Portrait Aged 42. Es ist im Wesentlichen ein Diagramm aller Verbindungen zwischen jenen Daten, die Bunting im Alter von 42 Jahren als Subjekt definieren. Er hat eine ganze Serie ähnlicher Diagramme von unterschiedlich alten Leuten gemacht. Alle Daten, die je über sie in Datenbanken eingetragen wurden, sind darin enthalten. Dann zeigte ich einen Ausschnitt aus Jennifer Chans Film factum/mirage, der eine Person beim Internetchat zeigt. Eigentlich ist es ein Gespräch mit einem völlig Fremden, dessen Identität noch ganz im Sinne Baudrillards in der Luft hängt. Interessant ist, dass wir heute offenbar zu diesem Fluss aus Bildern und Worten ohne Realbezug zurückkehren. Buntings Porträt dagegen sagt viel über jenen Augenblick in den 1990er-Jahren aus, von dem wir vorhin gesprochen haben, als man alles noch selber machen und daher möglichst alles verstehen und wissen wollte. Allein dieses Wissenwollen ist heute sinnlos geworden. Denn obwohl es sicher bewundernswert wäre, sich alles Wissen aneignen zu wollen, so wäre es doch aussichtslos. Das stimmt zwar nicht ganz, aber so ist jedenfalls der allgemeine Eindruck: Technik, Gesellschaft und Globalisierung erscheinen in ihrer Komplexität immer undurchdringbarer. Dennoch finde ich es interessant, dass die sogenannten Postinternet-KünstlerInnen neue Verbindungen und Allianzen herstellen. Man spricht da von „Surfclubs“ oder von bis zu einem gewissen Grad exklusiven Räumen innerhalb der sozialen Medien. Ich glaube jedoch, dass sie, wie sie selbst zugeben, in den sozialen Netzwerken total aufgehen wollen. Sie meinen, es gibt keine Welt außerhalb, keine autonome Kultur mehr. Kritik ist folglich Zeitverschwendung. Solche Ideen sind freilich auf populäre Weise ins Web 2.0 oder wie man es auch nennen mag eingeflossen. Die Jungen wollen aus einer Position innerhalb des Netzes agieren. Im Großen und Ganzen funktioniert das aber leider nicht (lacht). Es ist zwar eine vollmundige These, aber mir scheint, diese KünstlerInnen verstehen nicht, dass sie auf gewisse Weise nur die Postmoderne nachahmen. Ist das nicht seltsam?
Die Moderne und ihr Diktum, Kritik sei möglich, liegt hinter uns. Unsere Experimente begannen in einer Zeit, als der Kapitalismus nicht mehr so offensichtlich ausbeuterisch, sondern stromlinienförmiger wurde. Die heutige Generation aber hat alle Versuche, sich ein Außen, eine kritische Position zu schaffen – was ja einen Unterschied zwischen einer Avantgarde und dem Mainstream voraussetzt –, scheitern gesehen. Also ist es naheliegend sich zu fragen: Wie können wir von einer Position aus sprechen, die dem Kapital immanent ist? Es stimmt nicht, dass der Modernismus seine Immanenz nicht verstanden hätte. Bis zu einem gewissen Grad hat er dies natürlich, aber zumindest glaubte er auch, mit dieser Immanenz brechen zu können. Schon in den 1980er-Jahren haben sich Leute wie Hal Foster gefragt, ob Widerstand innerhalb der Kultur noch möglich sei. Bereits damals erkannte man, dass kritische Kulturformen in der Postmoderne vom Kapital assimiliert werden. Es war schließlich eine feinere, widerstandsfähigere Form des Kapitals und der Kulturindustrie entstanden. Also sagen die KünstlerInnen von heute: Schaut mal, es hören mehr Menschen Popmusik als Schönberg (lacht). Jedenfalls mögen die Menschen Katy Perry und den Weichspüler-Pop, den sie so im Radio spielen. Die KünstlerInnen versuchen innerhalb dieses real existierenden Systems, eine Art affektive Lücke zu finden, von der aus man das System sprengen könnte. Das ist das eigentliche Ziel, denke ich. Wiewohl ich nicht glaube, dass das als Taktik aufgeht.

Becker: Du redest vom sogenannten „neuen Geist des Kapitalismus“, demgegenüber jeder Widerstand zwecklos ist. Das hört man in dieser Debatte oft. Ich frage mich aber, ob der affirmative Standpunkt nicht dennoch einen subversiven Hintergrund hat. Ist die Affirmation nicht ein Mittel, um nicht offen kritisch sein zu müssen? Will man eventuell etwas durch Überaffirmation verändern? Oder ist das schlicht eine Kapitulation und man will sich einfach möglichst gemütlich in der Kreativindustrie einrichten?

van Mourik Broekman: Ich kenne diese Szene zwar nicht so gut, und aus der Distanz würde ich sagen, es sieht vielleicht wie Überaffirmation aus. Aber ist die Haltung dahinter nicht schon zu aufgeklärt, um einfach nur der Lifestyle-Industrie zu dienen? Hier wird doch pointiert mit Form und Stil gespielt.

Berry Slater: Ich hab darüber mit Leuten im Umkreis von Arcadia Missa geredet, einer Art „Postinternet-Galerie“ in Peckham im Süden Londons, die KünstlerInnen wie Harry Sanderson oder Rózsa Farkas vertreten. Sie haben sehr provokante Meinungen, die zum Teil auch recht überzeugend wirken. Wenn man sich dann aber die Kunst anschaut, die dort gezeigt wird – nicht jede, aber die meiste –, dann fehlt mir die analytische Präzision, die man zum Beispiel in Heath Buntings Selbstporträt erkennen kann. Diese Präzision war ein Markenzeichen der ersten Welle von Internetkultur. Darin wurden Domainnamen-Systeme analysiert, Namensvergabesysteme und alles, woraus das Internet technisch besteht. Man versuchte wirklich, das Netz zu verstehen! Man denke nur an My Boyfriend Came Back From The War von Olia Lialina: Sogar die URL in der Adressleiste sagte einem, dass man bloß von einem HTML-Frame zum nächsten klickte, die allerdings auf einem Server in – von mir aus – Ljubljana und dann in Russland und dann in Amerika gespeichert waren. So sieht man bei jedem Klick, dass man die Fiktion selbst erzeugt bzw. was sich hinter dem Erlebnisfluss medial verbirgt. Man emanzipierte sich dadurch zwar nicht, aber man wurde doch zumindest skeptisch gegenüber dem Medium. Trotzdem kann man die heutige Generation nicht unskeptisch nennen. Ich glaube, sie ist sehr skeptisch, wenn nicht gar zynisch.

Stalder: Ich sehe das auch bei meinen StudentInnen, selbst denen, die sich mit schwierigen realpolitischen Problemen auseinandersetzen – Schulungen für Flüchtlinge beispielsweise. Selbst die kümmern sich nicht um den größeren Kontext. Was sie machen, das machen sie sehr konzentriert und unter relativ schwierigen Bedingungen. Sie haben zwar eine klare politische Idee, wollen aber nicht das System ändern oder gar bekämpfen. „Okay, wir müssen dieses Seminar machen, dafür brauchen wir einen anderen Raum, am besten wir gründen ein eigenes Netzwerk“ – immer eins nach dem anderen. Alles sehr pragmatisch und zugleich auch sehr engagiert. Vielleicht hat das auch mit der Ökonomie und dem Wertewandel zu tun.

van Mourik Broekman: Auch technisch gesehen ist die Hoffnung, wirklich etwas verändern zu können, fast vergeblich. Der Kampf, auf den man sich einlassen müsste, ist … besser, man fängt gar nicht erst damit an. Als wir 2003 die Plattform OpenMute gründeten, gab es weder MySpace noch Facebook. Als diese dann groß wurden, fragten wir uns, was wir uns bei der Gründung eigentlich gedacht hatten. Waren wir verrückt gewesen? Wie konnten wir nur glauben, mit ganz wenigen Leuten langfristig eine Infrastruktur für Hunderte, wenn nicht Tausende von Menschen zu schaffen, die all das können sollte? Wir waren unglaublich naiv, was die zeitlichen und technischen Ressourcen anlangte, die man für ein alternatives Netzwerk braucht. Wenn man das einmal mitgemacht hat, macht man es nie wieder! Ich erinnere mich, dass es einmal Leute gab, die etwas aufziehen wollten, das Diaspora oder so ähnlich hieß. Das war wie Facebook, nur ohne Überwachung – der Versuch, ein wirklich sicheres soziales Netzwerk aufzubauen. Die haben ziemlich lang daran gewerkelt, jahrelang war darüber immer wieder zu lesen. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viel mehr ein Konzern wie Facebook investieren muss, um etwas Großes zum Laufen zu bringen, dann ist man mit egal wie viel persönlichem Einsatz und kleinen Spenden von ein paar WeltverbessererInnen auf verlorenem Posten. Was du über deine Studierenden gesagt hast, gilt ja auch für unsere Debatte hier: Soll man nun Facebook für politische Aktionen nützen oder nicht? Jeder weiß natürlich, dass nicht! Aber was, wenn Facebook zu dem Umfeld wird, in dem du praktisch operieren musst? Ich finde es faszinierend, wie Facebook den Leuten mit einer Mischung aus Ablenkung und echtem Informationsaustausch ihre Zeit stiehlt. Wir haben über ökonomische Bedingungen und Werte gesprochen, wobei Konrad sich weigert, das als einzige Ursache für den Wandel, den wir erlebt haben, zu akzeptieren. Ich glaube auch, dass da noch etwas anderes mitspielt – etwas, das wir nicht richtig fassen können. Früher war die Kultur, wie Josie gesagt hat, durch zahllose unsichtbare Ressourcen und Förderungen unterfüttert. Heute scheint es dagegen viel mehr um Zeit als um Geld zu gehen. Die Menschen wägen ab, ob sie dies oder jenes tun sollen. Für bewusste Experimente bleiben heute nicht genug Energie und Zeit.

Berry Slater: Ich glaube, dass das Ausmaß an Energie, das aufgewendet wurde, um den Kommunikations- und Informationsfluss zu beschleunigen, historisch und sogar kosmisch keinen Vergleich hat. Ich habe zum Beispiel von einer Statistik gehört, die besagt, dass in den letzten ein, zwei Jahren mehr Fotos gemacht wurden als in der gesamten Geschichte der Fotografie davor. Wenn man sich klarmacht, was diese extreme Informationsflut bedeutet … da bin ich ganz bei Franco Berardi Bifo. Diese Mengen kann man organisch nicht mehr verdauen. Wir können diesen irren Informationsfluss nicht mehr aufnehmen. Und nicht nur das: Wir wissen, dass er vom Kapitalismus nur deswegen geduldet wird, weil es darum geht, neue Wege zu finden, um jedes Winkelchen unseres Lebens produktiv zu machen. Ausgerechnet das scheinbar revolutionäre Medium Internet wird zu unserem neuen Gefängnis! Und es erzeugt einen neuen Ekel! Einerseits ist es unumgänglich, und wir müssen mit ihm herumspielen und es in unser Leben integrieren. Andererseits ist es ein Aspekt des großen Käfigs, und wir spüren das auch. Wer will schon eine alternative Kommunikationsplattform gründen? Das schafft doch nur noch mehr Kommunikation. Vielleicht ist meine Meinung extrem, aber das hat einfach nicht mehr den Reiz, den es vor 20 Jahren hatte.

Becker: Soll das heißen, dass jeder Versuch, etwas zu bewirken, von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist, dass niemand mehr naiv genug ist, so etwas auch nur vorzuschlagen?

van Mourik Broekman: Oh, nein. Das bezog sich nur auf eine spezifische Perspektive, die von einer Politik der Werkzeuge ausgeht und darin den Ansatzpunkt sieht, um etwas zu verändern. Heute sind die Kommunikationsmittel so komplex und so zentralisiert, dass es einfach sehr schwierig geworden ist, den Herausforderungen auf der Ebene der Werkzeuge zu begegnen. Es ist natürlich auch sehr schwer, dem Politischen direkt zu begegnen. Aber ich bin diesbezüglich noch optimistischer als in Bezug auf Versuche, Alternativen zu Facebook zu entwickeln. Es geht da um zwei recht unterschiedliche Dinge.

Berry Slater: Aber sie sind auch nicht voneinander zu trennen – die Macht, die in Technologien liegt, und die Art und Weise, wie der Kapitalismus die Entwicklung gewisser Tools vorantreibt und neue Realitäten schafft. Es könnte demnach sein, dass wir uns wieder mehr auf das soziale Ende dieses Spektrums konzentrieren müssen und weniger auf das technologische, wie wir das in den 1990er-Jahren taten.

Stalder: Und wo stehen wir jetzt? Wo steht Mute heute? Wird das Projekt irgendwann eingestellt?

van Mourik Broekman: Nein.

Stalder: Warum nicht?

Berry Slater: Weil wir verrückt sind. Ganz offiziell.

 

Übersetzt von Thomas Raab