Heft 2/2016 - Lektüre



Klaus Ronneberger:

Peripherie und Ungleichzeitigkeit

Pier Paolo Pasolini, Henri Lefebvre und Jacques Tati als Kritiker des fordistischen Alltags

Hamburg (adocs) 2015 , S. 75

Text: Jochen Becker


Der Stadtkritiker Klaus Ronneberger wandert in Peripherie und Ungleichzeitigkeit leichten Schrittes durch drei in sich abgeschlossene Porträts des Autors und Filmemachers Pier Paolo Pasolini, des Kulturkritikers und Stadttheoretikers Henri Lefebvre und des humoristischen Filmperfektionisten Jacques Tati. Auch wenn 1968 eine wohl niemals abgeschickte Anfrage von Pasolini an Tati verfasst wurde, ob dieser in Porcile einen Naziindustriellen spielen könne, kreuzten sich die Wege der drei nie. Der Autor überlässt es der Fantasie der LeserInnen, die drei Pfeiler zueinander in Resonanz zu bringen.
Als „Kritiker des fordistischen Alltags“ verbindet sie eine große Suchbewegung nach der verlorenen Zeit. Kein Text des „franziskanischen Marxisten“ Pasolini war in Westdeutschland so erfolgreich wie die posthum veröffentlichten Freibeuterschriften, worin er mit der modernistischen Zurichtung Italiens abrechnete, abenteuerlich pendelnd zwischen Nostalgie und Schärfe. Auch an Tatis clownesk überspitzer Moderne konnte sich die Toskana-Fraktion im Deutschen Herbst wärmen. Doch der schweifende Zweifel von Tati, Pasolini und Lefebvre war gepaart mit dem Genuss, die Nachkriegsmoderne drastisch auszuleuchten: Der eine halbe Ewigkeit dauernde Exzess in einer Tanzbar in Tatis Playtime lässt die Welt immerwährenden Fortschritts aus den Fugen geraten. Die drei Protagonisten hatten „große Vorbehalte gegenüber dem American Way of Life“, schreibt Ronneberger in einer der raren verknüpfenden Passagen und zeigt zugleich die Widersprüche auf: Tatis Persiflage Jour de Fête auf die „amerikanische Tour“ eines französischen Landpostbotens wurde in trotzig eingesetztem nationalen „Thompson-Color-Verfahren“ gedreht, konnte allerdings nur in Schwarz-Weiß gerettet werden, da das Verfahren versagte. Hier zumindest zeigte sich die Überlegenheit der USA.
Das Andere soll festgehalten, kann aber nicht mehr fixiert werden. Lefevbre und Pasolini, beide unglückliche Kommunisten, beobachten ähnlich wie der konservativere Tati den Verfall bäuerlicher, dezentraler Kulturen. Der imperiale Kolonialismus kehrt sich ins Landesinnere um und gräbt sich in den Alltag ein. Zwischen 1954 und 1962 wechselte ein Viertel der französischen Bevölkerung ihren Wohnort, bedingt durch Verstädterung, Industrialisierung und die Bewegung aus den vormaligen Kolonien in die Metropole Paris. Lefebvre konnte durch das Fenster seines neu gegründeten Instituts in Paris-Nanterre die Slums der Zugewanderten und die Trabantenstädte wachsen sehen.
An den Rändern „aus Kalk und Staub“ gewinnen Pasolinis Beobachtungen große Schärfe. In Norditaliens Fabriken und informellen Siedlungen ziehen neun Millionen Menschen des Südens. Die Kommunistische Partei Italiens steht an der Seite der Bauern und der knapp eine Millionen Gestrandeten in den Slums und Selbstbauhäusern der Vorstädte. Einen Abgesang bildet hier Größe Vögel, kleine Vögel von 1966, worin ein alter Komiker und ein junger Narr von einem marxistisch geschulten Raben auf ihren Wanderungen über die Autobahnen der Peripherie begleitet werden. Die renitenten Kulturen der Straße werden schon bald vom freigegebenen Autoverkehr überrollt.
„Ich bin ein peripherer Mensch, vielleicht sogar ein Barbar, obwohl ich nicht an das Einfache glaube“, schreibt der Theoretiker Lefebvre mit Wohnsitz in Paris. Seine mehrbändige Kritik des Alltagslebens verfolgt den Prozess der Verdrängung von Handwerk und Gebrauchswert, Natur und Festkulturen, wenn neben den männlichen Industriearbeitern nun durch den Konsumismus auch Jugendliche und Frauen in die fordistische Logik integriert werden. Spätere Fabrikkämpfe, die Studierendenproteste sowie der Feminismus markieren einen Bruch mit dem Unwiederbringlichen.
Jacques Tati erschuf sich in seinen späteren Spielfilmen künstliche Höllen der Moderne, um diese systematisch in das Chaos ihrer selbst zu überführen. Wie Pasolini ist er als Autodidakt erst spät zum Film gekommen und kombinierte seine wortlose Komik mit aus Alltagsgeräuschen komponierten Soundscapes. Seine Filme deklinieren die fordistische Moderne durch: Freizeit, Wohnen, Verkehr, Technokratie, Plastikalltag und Stadtumbau werden von Tati systematisch und mit Liebe zum Detail zertrümmert.
Die von Pasolini als chaplinesker Faschist gelesene Kunstfigur Monsieur Hulot wandert im 1956 begonnenen Spielfilm Mon Oncle zwischen bohemistischer Altstadt, den Brachen der Sanierung und der Hightechvilla seiner Verwandtschaft umher. Er durchschreitet die innere Zerstörung der Kernstadt wie auch die Ausweitung der Stadt auf die vorörtliche Peripherie von Créteil. Hellsichtiger Denkmalschutz, nostalgische Wehmut, Lifestyle-Modernismus und gentrifizierende Bulldozersanierung verschmelzen zu einer wirkmächtigen Montage.
Die drei Porträtierten verbindet die Markierung der „Räumlichkeit sozialer Prozesse“ sowie ihre „widerständige Praxis gegen Homogenisierungs- und Normalisierungsstrategien ‚von oben‘“. Frankreich und Italien sind gespalten zwischen industrialisiert-verstädtertem Norden und ländlich-mediterranem Süden. Die Metropolen bündeln diese Bruchlinien des Widerstreits, des individuellen Entziehens oder des kollektiven Protests. Das Chaos der Nachkriegszeit, also die beste Zeit, war dann erst einmal aufgebraucht.

 

 

Von Henri Lefebvre sind zuletzt auf Deutsch erschienen: Die Revolution der Städte. Neuausgabe mit einer Einführung Klaus Ronneberger. Hamburg (CEP Europäische Verlagsanstalt) 2014 sowie Das Recht auf Stadt. Vorwort Christoph Schäfer. Übers. v. Birgit Althaler. Hamburg (Edition Nautilus)2016.