Heft 3/2016


Endlose Gegenwart?

Editorial


Endlose Gegenwart? Was im ersten Moment unsinnig erscheinen mag – wie soll sich das Hier und Jetzt endlos ausdehnen? –, ist in den letzten Jahren immer häufiger als Zeitdiagnose zu vernehmen. Gemeinhin wird damit suggeriert, wir (im reichen Westen) seien in eine Art geschichtslosen Zustand eingetreten, in dem es in erster Linie darum geht, das Erreichte zu verteidigen. Alles darüber hinaus, etwa ein auf eine bessere Zukunft gerichtetes Emanzipationsbewusstsein, seien Hirn- gespinste der Vergangenheit, von denen man sich, so rasch es geht, verabschieden sollte.
Dabei wird die Idee eines unbegrenzten Jetzt an mehreren Fronten genährt. In geschichtsphilosophischer Hinsicht etwa heißt es, unser Bezugssystem aus Vergangenheit und Zukunft – einst treibende Kraft jeglichen Geschichtsbewusstseins – würde sich immer mehr im Anschein einer sich ausweitenden Gegenwart auflösen. „Dauernd jetzt“ oder ein final gewordenes „Be here now!“, vor Jahrzehnten Antrieb einer nicht länger realitätsverweigernden Veränderungsideologie – all das habe sich heute ins Gegenteil eines alternativlosen Festsitzens verkehrt.
Eine tragende Rolle spielt dabei die immer lückenlosere Eingebundenheit in verschiedene Mediendispositive. Alle, die auf mehr oder weniger intensive Weise „connected“ sind (und wer ist das heute nicht?), machen diese Erfahrung: das Angeschlossensein an eine überbordende, auf der Basis globaler Datenspeicherung sich ständig erweiternde Infosphäre – ein Reich digitaler Omnipräsenz, in dem alles gleichermaßen gegenwärtig wie zugleich auch flüchtig ist. Ist alles ungehindert verfügbar, sinken Wert und Bedeutung des solcherart Verfügbaren drastisch. Sollte man zumindest den alten Wertgesetzen nach meinen. Dass die Dinge nicht so einfach liegen, lässt der Blick auf diverse Netzkonjunkturen erkennen: Wertigkeiten steigern sich hier dadurch, dass etwas „virale“ Verbreitung findet oder automatisch angeklickt wird, ins schier Endlose. Zugleich scheinen Konstanz und Beständigkeit solch millionenfach „gepikter“ Inhalte oft brüchig und ausgehöhlt, lauert doch der nächste, noch mehr Aufmerksamkeit verlangende „Buzz“ meist nur einen Klick weiter. Grund genug, solche Paradoxien und Gegenläufigkeiten näher in Augenschein zu nehmen und nach der genaueren Verhasstheit dieser scheint’s endlosen, zugleich aber höchst unbeständigen und fragmentierten Gegenwart zu fragen. So widmet sich etwa Karin Harrasser in ihrem Essay den Hintergründen und Faktoren, die zur Entstehung des „langen Jetzt“ bzw. dessen blendender Anmutung beigetragen haben.
Um inmitten einer vollgeräumten Gegenwart Resten eines realitäts- sensiblen Selbst nachzuspüren, erinnert sie an Siegfried Krakauers Idee der „radikalen Langeweile“. Vielleicht ist sie es, die uns erfahren oder ahnen lässt, was in Zukunft einen Unterschied gemacht haben wird.
Jeff Derksen legt in seinem Beitrag gleichfalls das Augenmerk auf unkonventionelle zeitliche Konzepte. Der Idee einer linearen oder an einem bestimmten Punkt dieser Linie zum Stillstand gekommenen Geschichte hält er Formen alternativer, ja durchwegs verquerer und ungleicher Zeitlichkeiten entgegen – Mittel, um der „Chrononormativität“ der Gegenwart, zu der auch die Propagierung eines geschichtslosen Endzustands gehört, entgegentreten zu können. Stärker auf die Gegenwartskunst und deren vermeintliches Auf-der-Stelle-Treten ausgerichtet sind die Beiträge von Hans-Christian Dany, Joshua Simon und Süreyyya Evren. Hans-Christian Dany sieht sich auf seiner literarischen Reise in der Wüste von Nevada mit der verschwörerischen Idee konfrontiert, die zeitgenössische Kunst sei vor Jahrzehnten von der „School of Cologne“ gekapert worden. Lauter Stillstand oder stiller Sieg – bei Dany werden beide Optionen inmitten einer sich verflüchtigenden Gegenwärtigkeit erwogen. Joshua Simon plädiert indessen für eine Kunst der „Gegenspekulation“ als einzig probates Mittel, um der Kultur der Spekulation, welche die Gegenwart fest im Griff hat, Paroli bieten zu können. Süreyyya Evren schließlich geht vom Syndrom des „Eventhaften“, das auch die Kunst voll erfasst hat, aus und fragt, auf welche Weise eine „De-Eventisierung“ der Kultur, die sich nicht im Stillen oder Ephemeren verliert, heute überhaupt noch möglich ist.
Ergänzt wird diese Palette durch einen Roundtable über politisch orientierte, über das Kunstfeld im engeren Sinn hinausgehende Praktiken. Im Vergleich von vor 20 Jahren und heute kommen die politischen und sozialen Implikationen zur Sprache, die dem Befund vom Ende der Geschichte damals wie heute anhaften.
Wie lässt sich, so eine der Kernfragen dieses Gesprächs (aber auch des gesamten Hefts), ein Sinn für Endlichkeit und Differenz zurückgewinnen, der auch historisch produktiv sein könnte? Wie dem Anschein einer endlos nivellierenden Präsenz von allem und jedem entgegenwirken, ohne der übervollen Gegenwart bloß eine weitere Facette hinzuzufügen?