Heft 3/2016 - Lektüre



David Graeber:

Bürokratie. Die Utopien der Regeln

Aus dem Amerikanischen von Hans Freundl und Henning Dedekind

Stuttgart (Klett-Cotta) 2016 , S. 73

Text: Peter Kunitzky


Egal ob auf dem Amt, im Büro oder privatim – da fühlt sich jemand unausgesetzt verfolgt: „Vor einem Problem stehen wir alle: [...] Unser Leben dreht sich um das Ausfüllen von Formularen.“ So lautet jedenfalls der – wohl auch ein wenig hypertrophe – Befund, der David Graeber, Professor für Anthropologie an der London School of Economics, zudem Mitbegründer der Occupy-Wall-Street-Bewegung und bekennender Anarchist, zu der vorliegenden Fundamentalkritik an dem allerdings metastatisch wuchernden bürokratischen Apparat herausgefordert hat, der heute unser aller Leben zu durchherrschen scheint. Allein, das Unternehmen ist dabei ein wenig wohlfeil geraten: erstens, weil ohnehin niemand ernsthaft – und das gleichsam naturgesetzlich – für das graue, gesichtslose Heer der BürokratInnen eintreten würde; zweitens und viel wichtiger aber noch, weil es den Anschein hat, als ob dieses Buchprojekt weniger dem persönlichen Bedürfnis des Citoyens Graeber entsprungen wäre, in einer einzigen Aufwallung gegen ausufernde administrative Unzumutbarkeiten anzuschreiben. Vielmehr dürfte dafür das pekuniäre Bedürfnis des Verlags (der Originalausgabe) ausschlaggebend gewesen sein, dem Sensationserfolg von Schulden: Die ersten 5.000 Jahre aus dem Jahr 2011, das seinen Autor schließlich zum intellektuellen Star unter den GlobalisierungskritikerInnen beförderte, ehebaldigst die nächste Publikation folgen zu lassen. Denn das Buch erweist sich bei genauerem Hinsehen tatsächlich als Kompilation aus unabhängig voneinander entstandenen Aufsätzen zum Thema, die erst jetzt, durch die Zutat einer längeren Einleitung und eines Anhangs, unifiziert, also zu einer konsistenten Einheit zusammengefasst werden sollten. Ein Vorhaben, das jedoch nur in Maßen gelingt: Die LeserInnen erwartet nämlich weder eine stringente Theorie noch eine bündige Geschichte der Bürokratie etwa in der Tradition Max Webers. Ja, es wird ihnen sogar, und das nicht zu ihrem kleinsten Ärger, durchgehend eine definitive Klärung des zentralen Begriffs verwehrt, der einmal als „Welt des Papierkrams“ in Erscheinung tritt, dann als „bürokratischer Kapitalismus“ figuriert und schließlich gleich mit der Globalisierung in eins gesetzt wird.

Aber diese Etikettierungen zeigen es vielleicht schon: Graebers grundsätzliches Anliegen besteht darin, eine linke Bürokratiekritik zur Geltung zu bringen, also den Nachweis zu führen, dass die von rechts propagierte und moralisch aufgeladene Unterscheidung zwischen „bürokratischem Staat“ und „freiem Markt“ letztlich nicht haltbar ist. Und zwar deshalb, weil die USA, und auf sie ist das Buch vor allem gemünzt, bei der Durchsetzung ihrer wirtschaftspolitischen Interessen nicht nur ohnehin schon immer auf internationale Verwaltungsstrukturen wie die Weltbank oder die Welthandelsorganisation bauten, sondern weil ebendort auch seit Anfang der 1970er-Jahre, das heißt mit dem Aufkommen des Postfordismus, vermehrt bürokratische Techniken und Verfahren in den Unternehmen Einzug hielten; Verfahren, die auf Kontrolle, Leistungsbewertung und Optimierung abzielten und mit hehren Begriffen wie Innovation, Qualität oder Exzellenz operierten – und die dann nach und nach in immer mehr Gesellschaftsbereiche (Wissenschaft, Bildung) diffundierten, bis sie uns (heute) so gut wie alle untertan gemacht haben.

Für Graeber markiert dieses enorme Erstarken der Bürokratie zugleich aber auch die Kehrseite des in den 1980er-Jahren mit Reagan & Thatcher einsetzenden neoliberalen Backlash, eine scheinbare Paradoxie, die er in dem von ihm so geheißenen „Ehernen Gesetz des Liberalismus“ zu fassen versucht: Je mehr die Marktkräfte entfesselt werden sollen, desto größer ist auch der Bedarf nach sie im Zaum haltenden Vorschriften und Bestimmungen, weil das marktwirtschaftliche System, entgegen einem populären Vorurteil, sich eben nicht von alleine zu steuern vermag. Aus diesem Grund führt die sogenannte Deregulierung dann auch niemals zu einem Weniger an Regeln, sondern nur zu ihrer andersartigen Auslegung oder gleich zu ganz neuen Statuten, zum Beispiel solchen, die die Umwandlung eines Systems aus mittelgroßen Banken in eines begünstigen, in dem ein paar wenigen Finanzkonglomeraten die marktbeherrschende Stellung eingeräumt wird – mit bekanntem, die Welt ins Chaos stürzendem Ausgang. Und es sind genau derlei durchgehend aufblitzende Beobachtungen und Einsichten (etwa die Antwort auf die Frage, warum der technologische Fortschritt so markant hinter dem zurückgeblieben ist, was Mitte des vergangenen Jahrhunderts für so greifbar nahe gehalten wurde: fliegende Autos, Kolonien auf dem Mars etc.), die Graebers Buch letzten Endes so erhellend machen, Manifestationen eines höchst produktiven, ja geradezu quecksilbernen Geistes, der es aber bedauerlicherweise, und es sei hier noch einmal wiederholt, nicht vermochte, all dem eine konsistente Form zu verleihen.