Heft 2/2017 - Artscribe


fühle meinen körper sich von meinem körper entfernen

3. Dezember 2016 bis 26. Februar 2017
Heidelberger Kunstverein / Heidelberg

Text: Daniel Pies


Heidelberg. „Let me be your headmate for the next five, ten, fifteen, twenty minutes“, erklärt die klare, kräftige Stimme im Funkkopfhörer, den sich die BesucherInnen an der Kasse überstülpen können. Gelegentliche Feedbacks, Knistern, ein Klopfen nistet sich im Gehörgang ein. „I’m going to detach the support system now“, eine zweite Stimme, jetzt geflüstert, gehaucht, viel zu nah, um sie noch als ein klar definiertes Gegenüber wahrnehmen zu können. Wer hier auf Führung gehofft hatte, wird enttäuscht. Anstatt den Weg durch Katrin Mayers und Eske Schlüters Installation Time to synch or swim (2016) zu weisen, konturiert die begleitende Tonspur eher eine zweite, aurale und ephemere, aber nicht minder körperlich erfahrbare Landschaft, die die realen Bewegungen der BesucherIn durch die raumgreifenden skulpturalen Setzungen der Arbeit von Katrin Mayer und Eske Schlüters überlagert, ergänzt und überblendet. Es ist eine Reise hinter die Spiegel, vollzogen im Geiste von Virginia Wolfs Orlando, eine Begegnung mit den digitalen Spuren der Otherkin-Bewegung, ihren Zeichen, Sprachformen und Symbolen, die nicht nur die Kategorien heteronormativer Geschlechtlichkeit und ihre Identifikationsmuster unterwandert, sondern im gleichen Zuge auch die harten Grenzen zwischen innen und außen, Realem und Imaginärem, zwischen der materiellen Welt der Dinge und der virtuellen Welt der Vorstellungen ins Schwimmen bringt.
Time to synch or swim eröffnet die im Heidelberger Kunstverein durch das Berliner Künstler- und Kuratorenkollektiv a production e.V. eingerichtete Ausstellung fühle meinen körper sich von meinem körper entfernen. Unter dem Roland M. Schernikaus Kleinstadtnovelle entnommenen Titel verhandelt die Ausstellung „gegenwärtige Krisen der Verkörperung“ und versammelt so insgesamt drei im Rahmen des gemeinsamen Projekts entstandene künstlerische Beiträge wie auch ein zweiteiliges Insert des Philosophen Martin Beck mit dem Titel Postanthropologische Habitate I + II – ein digitales Archiv von Internetbeiträgen der Otherkin-Community, das in der Ausstellung über Tablet abgerufen werden kann, und ein Essay, in dem Beck die diskursiven Eckpfeiler des Unterfangens unter den Schlagworten „Otherkin, Digitalisierung, Pubertät“ ausarbeitet. Zudem fand im Rahmen der Ausstellung Ende Januar das zweitägige Symposium stumble bumble fail fall hurt statt.
Von „Krisen der Verkörperung“ zu sprechen mag auf den ersten Blick als ein etwas unverbindlicher Allgemeinplatz zeitgenössischer Kulturkritik erscheinen. Ihren Stachel gewinnt das Projekt von a production e.V. allerdings zum einen in der Spezifik und Qualität der jeweiligen künstlerischen Formulierungen, zum anderen aber auch durch die thematische Brechung der angezeigten Krisen der Verkörperung im Prisma des „Pubertären“. Der entwicklungspsychologische Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein dient hier als Chiffre und Erfahrungshorizont, innerhalb dessen die delegitimierenden, die widerspenstigen und widerständigen Kräfte im Kampf um die gesellschaftliche Formatierung von Identität zutage treten und präsent gehalten werden. Es geht nicht um einen naiven Begriff von Befreiung, sondern um das gärende und mitunter schmerzhafte Bewusstsein konfligierender Wünsche, Ansprüche und Begehren, die im Zeitalter des digitalen Kapitalismus auf dem Territorium der eigenen Subjektivität ausgetragen werden.
Scham und Peinlichkeit können dabei als diejenigen „pubertären“ Gefühlsregungen gelten, die die Gewalt sozialer Normierungsprozesse sowohl in psychologischer wie auch physiologischer Hinsicht anzeigen und artikulieren. In ihren kleinformatigen Zeichnungen, Collagen und Notizen scheint Christine Lemkes Ausstellungsbeitrag Formen der Selbstaneignung oder Elfen gehen sich wiegen (2016) genau diese Gefühle einer sprechenden Unpässlichkeit in fluiden Morphologien über mehrere Sequenzen hinweg zu verfolgen. Ihre Arbeiten verschneiden „tiefe“ kulturelle Narrative wie etwa die pädagogische Erzählung von Max & Moritz, psychiatrische Tabellen und Register oder an ethnografische Ursprünge erinnernde Zeichnungen von Masken mit zeitgenössischen Elementen aus Modezeitschriften, Produktwerbung und – ganz zentral in einer der Sequenzen – den frühen digitalen Gesichtsmanipulationen aus der 1990er-Jahre US-Fernsehserie Ally McBeal. Lemke verhandelt dabei das gespannte Verhältnis zwischen identitätsstiftenden Formierungsprozessen und den gegenläufigen Dynamiken der Formzersetzung nicht nur expressis verbis über die von ihr aufgerufenen Materialien, sondern schreibt ihren Blättern durch allgegenwärtige Übermalungen, Ausstreichungen und Überschreibungen immer auch selbst ein Moment des Scheiterns ein, das das Zurückbleiben hinter den patriarchalen Gesetzen der Form markiert.
Die Unterwanderung, Perforation und Überschreitung der harten Grenzen kulturell verfügbarer Subjektpositionen, die das Pubertäre als analytische Kategorie ausmachen, erfährt dann noch mal eine ganz neue Wendung in Gitte Villesens von einer Fotoinstallation begleiteten Videoarbeit deeply immersed in the contents of a learning stone (2016). Villesen spannt hier einen weiten assoziativen, aber visuell unbedingt zwingenden Bogen von den feministischen Science-Fiction-Literaturen einer Octavia Butler oder Ursula K. Le Guin über Fragen nach dem Verhältnis zwischen Traum- und Wachzuständen, eigenen Reiseerfahrungen, die die Zeitachsen ins Gleiten bringen, bis hin zu einigen historischen Arbeiten von PsychiatriepatientInnen aus der Heidelberger Sammlung Prinzhorn. Insgesamt geht es hier um die Verflüssigung von Bewusstseinszuständen, die das Ich durchlässig werden und so die identifikatorischen Machtfelder des Sozialen durchkreuzen lassen. Die Strategie des Wiedererzählens spielt dabei eine zentrale Rolle – denn im Grunde genommen besteht Villesens Arbeit nahezu ausschließlich aus einer Montage unterschiedlicher Formen der Wiederaufführung von bereits bestehenden Geschichten und Narrativen. Im Wiedererzählen, so scheint es hier, konstituiert sich das Selbst, und zwar nicht als harte Form, sondern als bewegliches Glied einer Kette von potenziellen Identitäten und Identifikationen. Ob man diese relationale Dynamik dann als trans, cross, queer oder möglicherweise auch pubertär bezeichnen will, könnte eventuell auch zweitrangig sein.