Heft 2/2018 - originalcopy


Vom Geben und Nehmen

Literarische Zitationskultur im Wandel

Annette Gilbert


Der Duden-Eintrag zu „zitieren“ verzeichnet zwei Bedeutungen: „1. eine Stelle aus einem geschriebenen od. gesprochenen Text (wörtlich) anführen. 2. jmdn. vorladen, jmdn. zu sich kommen lassen, um ihn für etwas zur Rechenschaft zu ziehen“1. Die zweite Bedeutung, vom Duden als „veraltet“ bezeichnet, hat überraschend an Aktualität gewonnen: Es häufen sich die Fälle, wo AutorInnen für ihr Zitieren, für das Anführen einer Stelle aus fremder Quelle, tatsächlich vor Gericht zitiert und in aller Öffentlichkeit abgemahnt wurden – und zwar keineswegs nur im streng reglementierten wissenschaftlichen oder journalistischen Feld, sondern auch im literarischen Bereich, dessen Zitationspraxis freieren Regeln unterliegt. Die Literatur kannte bisher weder eine Kodifizierung noch eine systematische Nachweispflicht für Zitate.
Das ändert sich gegenwärtig. Das Zitat, insbesondere das unausgewiesene Zitat – eine bis vor wenigen Jahrzehnten anerkannte und besonders im postmodernen Erzählen weitverbreitete ästhetische Strategie – trägt inzwischen geradezu den Zug des Anrüchigen. Die öffentlichen Dispute zeigen, dass wir uns mitten im Prozess der Neuverhandlung von Geben und Nehmen in der Literatur und der Herausbildung eines neuen Zitierethos befinden. Auslöser der drei „Gerichtsverhandlungen“ aus dem Jahr 2010, die im Folgenden rekapituliert werden, war dabei in allen Fällen nicht der Akt des Zitierens selber, sondern seine fehlende Offenlegung: Die kritisierten Zitationen waren weder als solche ausgewiesen, noch wurden ihre Quellen nachgewiesen. Gilt nun auch in der Literatur Belegpflicht? Muss, wer ein Zitat anführt, zwingend immer auch die Quelle mitführen?

Künstlerische Freiheit
2010 erschien David Shields’ Manifest Reality Hunger, das sich als „ars poetica für eine immer größer werdende Gruppe zusammengehöriger (aber nicht miteinander verbundener) Künstler“ versteht, „die sich einer Vielzahl verschiedener Formen und Medien bedienen […] und die immer größere Brocken von ‚Wirklichkeit‘ in ihre Arbeit einbauen“2. Schon das dem Buch vorangestellte Motto von Picasso stellt klar: „Kunst ist Diebstahl.“ Entsprechend besteht auch Shields’ Manifest aus 618 Aperçus, die keinen Hehl daraus machen, zu großen Teilen den Werken anderer entnommen worden zu sein, und so das Plagiat und die Appropriation als ästhetische Strategie der Gegenwart propagieren.
Random House schien das zu gewagt und bestand darauf, dass Shields seinem Buch einen Anhang beigab, der all seine Quellen anführt. Shields kam dieser Forderung zwar nach, schickt seinem Anhang aber ein Statement voraus, in dem er dies als unzulässigen Eingriff in die künstlerische Freiheit anprangert, der seiner Intention zuwiderlaufe: Er habe bewusst auf Quellenangaben verzichtet, um „eine Freiheit wiederzugewinnen, die für Schriftsteller von Montaigne bis Burroughs selbstverständlich war und die uns verloren gegangen ist.“ Dass es die Leser verunsichere, nicht zu wissen, „wessen Worte Sie jetzt gelesen haben, ist kein Defekt, sondern charakteristisch“. In Interviews wird Shields noch deutlicher und erklärt, dass die Nachweispflicht für die Übernahme geistigen Eigentums, wie man sie etwa aus der Wissenschaft kennt, in der Literatur nichts zu suchen habe: „The citation of sources belongs to the realms of journalism and scholarship, not art. Citation domesticates the work, flattens it, denudes it, robs it of its excitement, risk, danger.“3 Zur Rettung seines künstlerischen Ansatzes unterwandert er die üblichen Standards des Zitierens, indem er den Umfang der Zitate offen lässt, die Eingriffe nicht kennzeichnet, nur ungenaue bibliografische Angaben liefert und erklärt, etliche Quellen „nicht ausfindig machen“ zu können oder „unterwegs vergessen“ zu haben. Außerdem fordert er die LeserInnen auf, den Anhang nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja ihn gleich völlig aus dem Buch zu entfernen. Schnittlinie samt Scherensymbol hat er vorsorglich eingefügt.

Moralische Schuldverhältnisse
War es bei Shields der Verlag, der einen Quellennachweis erzwingt, so ist es im Fall von Michel Houellebecqs Roman Karte und Gebiet die Öffentlichkeit, die die Zitationspraxis des Autors brandmarkt. Wieder geht es um unausgewiesene Zitate. Zur Verteidigung des Autors beruft sich sein Verlag darauf, dass es sich bei den inkriminierten Stellen aus Wikipedia um äußerst kurze und bearbeitete Zitate handle. Abgesehen davon gebe Wikipedia selbst keine AutorInnen für die Texte an. Diese Argumentation legt ein Missverständnis offen: Wikipedia wendet sich mit ihren neuartigen Produktionsweisen und ihrem Prinzip kollektiver Autorschaft zwar vom etablierten Urheberrecht ab, versucht aber mit dem Einsatz der Creative-Commons-License (CC-BY-SA) zeitgemäße urheberrechtliche Regelungen zu institutionalisieren. Wikipedia-Texte sind somit noch lange nicht Gemeingut. Auch sie unterliegen bestimmten Nutzungsbedingungen, die zwar nicht juristisch kodifiziert, aber ethisch begründet sind und in demokratischen Abstimmungsprozessen entwickelt wurden: Die freie Nutzung ist nur bei entsprechender Kennzeichnung der Zitate und Nennung der Quelle inklusive URL und Versionsdatum erlaubt.
Nach einigen Turbulenzen, während derer Houellebecqs Roman von einem Aktivisten aus Empörung frei ins Netz gestellt wurde, und nach längeren Verhandlungen mit Wikipedia ringen sich Verlag und Autor schließlich eine Danksagung ab, die seit der Taschenbuchausgabe auf der letzten Seite des Buchs zu finden ist und mit dem Satz endet:
„Ich danke außerdem Wikipedia (http://fr.wikipedia.org) und den daran beteiligten Autoren, deren Texte, insbesondere jene, die sich auf die Stubenfliege (Musca domestica), die Stadt Beauvais oder Frédéric Nihous beziehen, mir mitunter als Inspirationsquelle gedient haben.“4
Das Geständnis eines überführten Sünders klingt anders, ganz abgesehen davon, dass die Zitate im Text weiter ungekennzeichnet sind und die genaue URL fehlt. Die Präsidentin von Wikipedia France, Adrienne Alix, zeigt sich dennoch zufrieden, denn die Danksagung sei immerhin ein halbes Eingeständnis, „dass die Wikipedia-Autoren nicht ‚nichts‘ sind und ihre Arbeit und ihre Leistung anerkannt werden müssen“5.
Damit kommt ein Argument in die Diskussion, das der künstlerischen Freiheit ernsthaft Paroli bietet: Es geht auch um Anerkennung der Leistung derjenigen, denen sich das eigene Werk ein Stück weit verdankt. Insofern erweist sich auch die Danksagung, die Houellebecq zur Entschuldigung wählt, als adäquater Ort, wird damit doch genau jenes moralische Schuldverhältnis offengelegt, das das Geben und Nehmen in der Literatur kennzeichnet und aus dem tatsächlich eine Verpflichtung zu Dank abgeleitet werden kann. Die mit der Danksagung geschaffene Transparenz impliziert die Anerkennung dieses Schuldverhältnisses und zeigt „die Grenzen der Souveränität auf, mit welcher der Autor über sein Werk (als Eigentum) verfügt“6, so dass Wikipedia großzügig darüber hinwegsehen kann, dass die halbherzige Formulierung, zu der sich Houellebecq durchgerungen hat, Zweifel an der Ernsthaftigkeit seines Danks aufkommen lässt.

Zweierlei Maß
Auch im Fall von Helene Hegemanns Erstlingsroman Axolotl Roadkill (2010) sind es die Paratexte, die den Prozess der Neuverhandlung der literarischen Zitationspraxis dokumentieren. Als authentische Stimme der Generation der Nullerjahre gefeiert wird Hegemann buchstäblich vor Gericht zitiert, als entdeckt wird, dass sie in ihren Roman Texte anderer einfließen lassen hat. Wie Shields nennt auch sie ihr Vorgehen ästhetisch „total legitim“7, folge es doch „dem ästhetischen Prinzip der Intertextualität“8.
Aufmerksame LeserInnen hätten auch ohne Anführungszeichen gewarnt sein können, denn es finden sich unzählige Hinweise im Roman auf die Vorgeprägtheit der Sprache, etwa wenn ein „oder wie man das nennt“ oder „so nennt man das, glaube ich“ zwischengeschoben und so die Illusion authentischen Sprechens gebrochen wird. Mehrfach konstatiert wird zudem der Anteil des Fremden am eigenen Denken und Sprechen: „weil so viele Gedanken da sind, dass man seine eigenen Gedanken gar nicht mehr von den fremden unterscheiden kann“, und: „Mir wurde eine Sprache einverleibt, die nicht meine eigene ist.“ Im Roman werden der reproduzierende, zitierende Charakter und die unsichere Herkunft des eigenen Sprechens ausgestellt, auf die Hegemann auch in ihrer Presseerklärung leicht trotzig verweist: „Von mir selber ist überhaupt nichts, ich selbst bin schon nicht von mir (dieser Satz ist übrigens von Sophie Rois geklaut)“9.
Nicht der Rückgriff auf fremdes Textmaterial als solcher ist verwerflich. Das Ideologem der Intertextualitätstheorie, dass wir immer nur in Zitaten sprechen und es in der Sprache und Literatur keine individuellen Besitztümer gibt, ist weithin akzeptiert, das Fremde am Eigenen gilt als unhintergehbare conditio moderna.10 Diskreditiert hat sich Hegemann in den Augen der Öffentlichkeit durch den fehlenden Aus- und Nachweis der Quellen, der als Irreführung des Publikums und als mangelnder Respekt gegenüber den zitierten AutorInnen sowie als Verstoß gegen die Fairness gelesen wird. Besonderen Anstoß hat eine Stelle in ihrem Roman erregt, die diesen nonchalanten Umgang mit den Quellen direkt ausstellt: Die Hauptfigur Mifti fragt darin ihren Bruder, ob der von ihm gebrauchte Spruch „Berlin is here to mix everything with everything“ von ihm stamme, worauf dieser antwortet: „Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde. […] Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.“ Dass diese Haltung der Romanfigur ihrer eigenen entspricht, zeigt sich darin, dass Hegemann zu ihrer eigenen Verteidigung vor der Presse ebendiese Stelle nahezu wortwörtlich wiederholt, sich also selbst in den Mund legt, wenn sie argumentiert, „dass [sie] aus einem Bereich komme, in dem man auch an das Schreiben von einem Roman eher regiemäßig drangeht, sich also überall bedient, wo man Inspiration findet. […] Und mir ist es völlig egal, woher Leute die Elemente ihrer ganzen Versuchsanordnungen nehmen, die Hauptsache ist, wohin sie sie tragen.“11
Die Despektierlichkeit gegenüber den Quellen wird nicht nur mit den Worten „völlig egal“ treffend beschrieben, sondern auch praktiziert, denn auch diese Passage besteht aus unmarkierten Zitaten von Jim Jarmusch und Jean-Luc Godard. Vor diesem Hintergrund ist es nicht gerade überzeugend, wenn Hegemann in ihrer Presseerklärung den Blogger Airen, von dem sie „insgesamt eine Seite, ohne sie groß verändern zu müssen, regelrecht abgeschrieben habe“, als „großartige[n] Schriftsteller“ lobt, mit dem sie „über das Buch auch ein Stück weit versuche, in Kommunikation zu treten“12. Dieses Kommunikationsangebot ist auch insofern vergiftet, als der oben zitierte Dialog zwischen Mifti und ihrem Bruder noch weitergeht: Auf Miftis nochmalige Nachfrage „Es ist also nicht von dir?“ antwortet dieser nämlich: „Nein. Von so ’nem Blogger.“ Die Namenlosigkeit, in die der zitierte Blogger damit verdammt wird, raubt ihm jede Chance auf Anerkennung und Erarbeitung symbolischen Kapitals und lässt erneut das Gebot von Fairness vermissen. Man ist geneigt, die Missachtung des unbekannten Bloggers durch die Romanfigur auf das Verhältnis Hegemanns zum Blogger Airen zu übertragen, denn auch dieser blieb in der Erstausgabe namenlos. Erst in der Danksagung der zweiten Auflage taucht sein Name auf.
Diese Danksagung ist zwischen den Zeilen ebenso vielsagend wie jene von Houellebecq. In ihr offenbart sich, dass es Hegemann doch nicht „egal“ ist, woher die von ihr verwendeten Texte stammen, wird hier doch Kathy Acker, der Queen of Punk und Großmeisterin der Collage und des Plagiarismus, ein „besonderer Dank“ erbracht, was wohl weniger dem Quellennachweis als vielmehr dem eigenen Autoritätsgewinn dienen dürfte. Und damit der Ungleichbehandlung der Quellen noch nicht genug. Während „so ’n Blogger“ wie Airen in der Anonymität verschwindet und Acker mit ihrem symbolischen Kapital dem Roman Reputation verschaffen soll, wird David Foster Wallace’ Beitrag ausführlich gewürdigt, indem in der Erstausgabe nicht nur sein Name unter dem entsprechenden Zitat vermerkt ist, sondern zusätzlich die Quelle im Impressum nachgewiesen ist. Das Copyright-Zeichen verrät, dass der Ullstein Verlag darüber hinaus die Rechte zum Abdruck eingeholt und möglicherweise sogar monetär abgegolten hat. David Foster Wallace wird also eine Form von Anerkennung zuteil, die über die bloße Danksagung hinausgeht. Das Copyright-Symbol zeigt, dass moralische Schuldverhältnisse im Bereich der schönen Künste auch juristisch kodifiziert und ökonomisch grundiert sein können.
Die in Axolotl Roadkill zu beobachtende Abstufung im Umgang mit fremden Texten straft Hegemanns Verteidigungsstrategie Lügen. Zugleich spiegelt sie Machtstrukturen. Denn wie schon im Fall Houellebecq gewinnt man den Eindruck, dass die Maßstäbe im Umgang mit dem geistigen Eigentum anderer gerade bei schwachen Autorpositionen wie dem Wikipedia-Autorenkollektiv oder BloggerInnen mit großer Selbstverständlichkeit außer Kraft gesetzt werden. Zu vermuten ist, dass hier die Sharing-Kultur der Generation Internet missverstanden wird. Diese kämpft zwar für die freie Nutzung von Ressourcen, gründet aber weiter auf Regeln von Respekt und Anerkennung, zu denen grundlegend das Gebot der Fairness und der Reziprozität im Umgang mit den Quellen gehört.
Als Ergebnis der öffentlichen Verhandlungen um diese Romane zeichnet sich ab, dass nach dem allgemeinen Rechts- und Moralempfinden die Nutzung fremder Textbestände auch in literarischen Werken transparent gemacht und mindestens mit ihrer deutlichen Auszeichnung und dem Nachweis ihrer Herkunft entgolten werden sollte. Hatte Hegemann anfangs ihr Vorgehen noch als „total legitim“ bezeichnet, so bekennt sie später, „dass der Anspruch der Leute legitim ist, in dem Buch genannt zu werden“, dass die Quellenangabe „aus ethischen Gründen […] richtig ist“13, auch wenn sie sie ästhetisch nach wie vor problematisch finde. Der Taschenbuchausgabe ist ein Jahr später ein Anhang beigegeben, der in geradezu vorbildlicher Weise die Quellen auflistet.
Dem folgen eine leicht veränderte Danksagung sowie ein Hinweis auf das dem Roman zugrunde liegende „ästhetische Prinzip der Intertextualität“. Mit dieser Abschlussformel will sich der Verlag gegen die Entdeckung weiterer unausgewiesener Zitate absichern und den Raum des Unbewussten in der Literatur abdecken. Schließlich erfolgen nicht alle Zitationen bewusst und gezielt. Darüber hinaus reagiert der Verlag mit dieser Formel auf die neue Detektierbarkeit von immer kleineren Spurenelementen eines Texts in anderen Texten. So schnell man im digitalen Zeitalter etwas kopiert und einfügt, so mühelos lassen sich diese Zitate heute zurückverfolgen, wobei eine solche Quellenforschung, wird sie exzessiv betrieben, ihrerseits zu fragwürdigen Ergebnissen führen kann, wie Stéphanie Vilayphiou in La Carte ou le Territoire (2013) [Abb. 1 oder Abb. 2] sowie John Cayley und Daniel C. Howe in How It Is in Common Tongues (2012) [Abb. 3] dokumentieren.

Exzesse der Detektierbarkeit
Beide Werke führen jeweils den gesamten Wortbestand der gleichnamigen Romane von Michel Houellebecq beziehungsweise Samuel Beckett auf bereits existierende Texte zurück. Dafür durchforsteten sie systematisch den Bestand von Google Books und weitere Internetquellen nach Satzfragmenten aus den Romanen und präsentierten diese danach als Flickenteppich aus Tausenden von Zitaten.14 Vilayphiou fügt Schnipsel der Fundstellen aneinander und markiert in ihnen die (vorgeblich) zitierten Fragmente. Folgt man diesem gelben Faden, liest man Houellebecqs Roman; klickt man auf die Schnipsel, gelangt man direkt zu den „Quelltexten“, denen Houllebecq seine Worte entnommen haben soll. Cayley und Howe hingegen durchsetzen den Romantext mit Fußnoten, die jeweils eine URL zum Fundort der entsprechenden Stelle im Internet enthalten. In Klammern wird vermerkt, wie oft sich die Passage im Netz finden lässt. Das kann bei Passagen wie „say it as I hear it“ schnell in die Million gehen (2.620.000 Fundstellen).
Die Beliebigkeit dieser Form der Beweisführung, die weniger dem Beleg und der Interpretation eines literarischen Beziehungsgeflechts denn der trivialen Anzeige einer oberflächlichen Koinzidenz bestimmter Wortfolgen dient, liegt offen zutage. Sie zeitigt mindestens ebenso abstruse Ergebnisse wie die 1888 vom Laienphilologen und Antisemiten Paul Albrecht [Abb. 4 UND Abb. 5] auf zwölf Bände angelegte, selbst finanzierte und selbst publizierte kuriose Anklageschrift Leszing’s Plagiate, in der dieser im Rahmen eines „postmortalen Strafprocesses“ auf knapp 2.500 Seiten zu beweisen sucht, dass „der ganze Leszing von a-z zusammengestohlen ist“ und „eigenhirnige Gedanken im Leszing überhaupt nicht vorkommen, dass alles, was uns an ihm gefällt, fremdhirniges Erzeugniss ist.“15
Dem hier praktizierten „Herbeizitieren“ all dieser Quellen in potentialis eignet dennoch eine gewisse Überzeugungskraft, denn der Wortlaut ist in der Tat derselbe. Fraglich jedoch ist, was mit dieser Form rein positivistischer „Quellenforschung“ gewonnen ist. Erst einmal wird damit nur die prinzipielle Iterierbarkeit von Sprache und Literatur unter Beweis gestellt. Vilayphiou sowie Cayley und Howe zeigen in ihren künstlerischen Projekten die leichte Detektierbarkeit von Quellen als Kehrseite der um sich greifenden Copy-and-Paste-Praxis, deren unerwünschte Nebenwirkungen bisher erst in Ansätzen diskutiert worden sind. Doch gerade in der Allverfügbarkeit sowie in der immer öfter zu beobachtenden Maßlosigkeit dieser Form von „Detektion“ könnte auch eine Chance liegen, da sie letztlich zu einem bewussteren, transparenteren und faireren Umgang mit den Quellen erzieht.

 

 

[1] Duden, Das große Fremdwörterbuch. Mannheim 2000, S. 1427.
[2] David Shields, Reality Hunger. Ein Manifest. München 2011, Nr. 1, S. 9 [Alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.].
[3] Sonya Chung, Interview mit David Shields, The Millions, 10. Februar 2010; www.themillions.com/2010/02/the-millions-interview-david-shields-part-two.html.
[4] Michel Houellebecq, Karte und Gebiet, Köln 2012, S. 416.
[5] Presseerklärung nicht mehr online verfügbar.
[6] Natalie Binczek et al., Eine delikate Materie. Einleitende Bemerkungen, in: dies. (Hg.), Dank sagen. Politik, Semantik und Poetik der Verbindlichkeit. Paderborn 2013, S. 11.
[7] Presseerklärung von Helene Hegemann vom 7. Februar 2010; www.buchmarkt.de/archiv/axolotl-roadkill-helene-hegemann-und-ullstein-verlegerin-dr-siv-bublitz-antworten-auf-plagiatsvorwurf.
[8] Helene Hegemann, Axolotl Roadkill. Berlin 2011 (Taschenbuchausgabe mit erweiterter Danksagung und ausführlichen Quellenangaben im Anhang), S. 208. [Alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.]
[9] Presseerklärung, a.a.O.
[10] Vgl. Philipp Theisohn, Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart 2009, S. 469.
[11] Presseerklärung, a.a.O.
[12] Ebd.
[13] Beide Zitate aus: Cosima Lutz, „Ich beraube schonungslos meine Freunde und mich selbst“ (Interview mit Helene Hegemann), in: Die Welt, 9. Februar 2010; https://www.welt.de/welt_print/kultur/article6312145/Ich-beraube-schonungslos-meine-Freunde-und-mich-selbst.html.
[14] Vgl. http://bcc.stdin.fr/LaCarteOuLeTerritoire/ und http://thereadersproject.org/docspdfs/hiiict.pdf.
[15] Alle Zitate aus: Paul Albrecht, Leszing’s Plagiate. Hamburg 1890, Bd. 1, S. 4, 73 und 3.