Heft 3/2018 - Institut "Kunst"


„Ich weiß, dass du nicht schweben kannst“

Ablenkung und Zaudern in der zeitgenössischen Kunst

Süreyyya Evren


„Obwohl man durch Wartezimmer, Bahnhöfe, Flughäfen oder Hotellobbys bloß hindurchgeht, habe ich gute Argumente, dass das Warten nicht bloß ein Absitzen von Zeit ist. Obwohl die Zeit angeblich so wie eine Tür oder ein Raum fungiert, die wir unbemerkt passieren, werden beim Warten doch Türen zugeschlagen und der Raum bläht sich unendlich auf.“ (Harold Schweizer, On Waiting)

Der am 15. Juli 2016 nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei von der AKP-Regierung beschlossene Ausnahmezustand wurde am 18. April 2018 zum siebten Mal verlängert. Doch während die Krise im Land so viele Bereiche – vom Bildungswesen über die Wirtschaft bis zu den Medien und der Rechtsprechung – erfasst hat, marschieren wir in der hiesigen Kunstszene immer noch jede Woche brav auf eine Vernissage.
Dabei haben die Einschränkungen hinsichtlich der Freiheit und Finanzierung von Kunst beinahe alle Lebensadern abgeschnürt. Und trotzdem hört man kaum etwas von einer inhaltlichen Krise. Die Hindernisse für die Kunst häufen sich, immer neue Barrieren werden errichtet, immer neue Einschüchterungen finden statt, aber die Produktion nimmt nicht ab. Ja, es gibt sogar KünstlerInnen wie Yasemin Özcan, die sagen, mittlerweile mehr als früher zu produzieren.1 Neue Initiativen entstehen, noch nie war Performance so beliebt und vielfältig, auch viele EinzelkünstlerInnen durchleben extrem produktive Zeiten. Man ist offenbar beharrlich.
Und viele der neuen Kunstwerke haben, wenngleich die Politik darin nicht direkt zur Sprache kommt, stark politische Untertöne. Natürlich gibt es parallel dazu auch einen Trend zu Melancholie, Rückzug, Verzweiflung, Sinnlosigkeits- und Wertlosigkeitsgefühlen. In vielen Fällen gehen die beiden Trends sogar Hand in Hand. Selim Birsels Ausstellung The Art of Garden Care bei Riverrun (1. März bis 21. April 2018) oder Deniz Aktaş mit seiner Schau No Man’s Land bei artSümer (6. April bis 12. Mai 2018) sind typische Beispiele dafür, dass sich türkische KünstlerInnen oft auf verlassene Orte, Areale oder Gegenstände beziehen. Die einfarbigen Zeichnungen von Aktaş zeigen baufällige Häuser oder Ruinen uralter Bauwerke. Zerstörung, Zerfall, Schutt wären hierfür die Stichworte. Im Gegensatz dazu erscheint der Titel The Art of Garden Care von Birsel nachgerade optimistisch. Sobald man die Ausstellung aber betrat, stand man auch hier vor einem Garten der Leere, der Verwüstung und vergessener Dinge. Das Leben rottet vor sich hin.
Solcherart Bilder belagern einen regelrecht, etwa auch in der Ausstellung A Year Without A Summer von Elmas Deniz bei Pilot (8. Februar bis 17. März 2018). In der Mitte der Galerie ist auf einem Podest ein käfigartiges Minigewächshaus aufgebaut, in dem braune Erde ausgestreut ist. Zwei gerahmte Plastiksäcke an der Wand haben etwa dieselbe Farbe und tragen die Titel Mistake 1 und Mistake 2. Das Material des Ersteren ist nicht verrottendes, das des zweiten biologisch abbaubares Plastik. Lakonisch hat die Künstlerin hinzugefügt: „Leider zersetzen sich beide in der Natur.“
Was ist es nun, dass türkische KünstlerInnen am Leben und bei der Arbeit hält, obwohl so viele gleichzeitig erwägen, ihr Land zu verlassen? Nur allzu oft spricht man über FreundInnen oder Familienmitglieder, die schon ausgewandert sind oder gerade einen Job im Westen gefunden haben. Ich sehe zweierlei Gründe für ihr Bleiben: Erstens probiert die zeitgenössische Kunst mit ihrem politisch aktiven Unterton während des Ausnahmezustands neue Widerstandsformen und Gesellschaftskritiken aus. Seit den Gezi-Park-Protesten 2013 wissen wir nämlich alle, dass die Kunst, wenn ihre Zeit kommt, wieder sehr nützlich sein kann – entscheidend sogar, wie wir unter anderem am berühmten „stehenden Mann“ Erdem Gündüz sahen, der ja immerhin Performancekünstler war. Die Kunst wird dann keine vorgefertigte Meinungen, Slogans und Mottos behübschen, sondern direkt als politisches Medium ihre eigene Botschaft überbringen. Schließlich leben wir nicht mehr in den 1970er-Jahren, als KünstlerInnen Agitprop-Bilder malen mussten, deren Sujets die sozialistischen Parteiführer vorgaben.
Zweitens ist die zeitgenössische Kunst mit effektivem, aber weniger aktivistischem Ton einfach beharrlich. Sie verweilt bzw. zaudert. Und das muss nicht unbedingt schlecht sein. Auch Zaudern kann Kräfte freisetzen. Man kann sich schließlich „stark“ warten, indem man auf den richtigen Augenblick hofft.
Es ist schwer zu sagen, welche „künstlerischen Formen“ als politische Mittel Verwendung finden werden, wenn die Zeit gekommen sein wird. Ayşe Erkmen riss in ihrer Schau Kıpraşım Ripple bei Dirimart (6. April bis 14. Mai 2017) ganz plakativ die Wände des Ausstellungsraums auf. Damit schuf sie eine neue und ziemlich optimistische Allegorie für unsere politische Landschaft.
Der Trend zum Verweilen ist leichter festzustellen als der direkt politische. Ich glaube, sehr viel in der türkischen Kunst ist auf dieses Verweilen zurückzuführen. In der Türkei sind heute nicht nur Kunstinstitutionen, sondern alle Institutionen wackelig. Große Firmen ziehen ins Ausland, große Veränderungen finden statt, ohne dass man jemanden oder ganze Gesellschaftsgruppen davon überzeugen müsste. Der Ausnahmezustand wird verlängert, einmal, dann noch einmal und noch einmal – mittlerweile ist es die siebte Periode.
Aber worauf wartet man während eines Ausnahmezustands? Stimmt es, dass für ein Land im Ausnahmenzustand momentan zu viel Kunst produziert wird? Mit der Kunst kann man offenbar heikle Probleme ansprechen – und damit hinauszögern, dass diese heiklen Probleme an die Oberfläche dringen. Es geht also zum Teil auch um das Gefühl, das Recht und die Freiheit, mit diesen heiklen Problemen zu spielen und sie damit stillschweigend unter den Tisch fallen zu lassen.
Runa İslams Video Be The First To See What You See As You See It (2004) war diesbezüglich um einiges schärfer. Es handelt von einer Frau, die scheinbar wertvolles Porzellangeschirr mit der Hand hin und her bewegt, zum Beispiel eine weiße Teekanne. Sie berührt das Geschirr und spielt damit herum – bis sie es plötzlich auf den Boden fallen lässt, wo es zerschellt. Am Ende des Videos gibt es einen Augenblick, in dem man nicht weiß, wie es weitergeht. Spielt die Frau nur? Zerbricht sie das Porzellan absichtlich? Kommt ein Orgasmus? Man erkennt: Jemanden warten zu lassen, jemanden nicht wissen zu lassen, wie es weitergeht, ist eine der häufigsten Methoden, ihn zu beherrschen. Das Warten öffnet einen Raum, in dem nicht der Sinn des Lebens, sondern etwas ganz Konkretes gesucht wird.
Im Gegensatz dazu stehen die Filme von Bas Jan Ader, die Akte des Fallens zeigen, zum Beispiel Fall II aus dem Jahr 1970. Der Künstler zögert dort nicht, er lässt niemanden warten, sondern geht im Gegenteil ganz unmittelbar ans Werk. Er fährt mit seinem Fahrrad direkt in eine Amsterdamer Gracht. Dabei konzentriert er sich genau auf die einzelnen Phasen des Fallens. Dann steigt er auf ein Dach, nur um herunterzufallen. In diesem Zurückweisen des Wartens findet Ader das ungezügelte Leben im Gegensatz zum „guten Leben“. Sowohl Bas Jan Ader als auch Runa Islam affirmieren also den Tod, indem sie das Leben im Augenblick einfangen. Ihre Kunst besteht nicht aus trockenen Schlussfolgerungen.
Auch das hält KünstlerInnen in der Türkei am Leben. Sie sind nicht in Eile, sondern geben gute KomplizInnen ab. Lass das Leben doch warten! Zerbrich die Porzellankanne oder denk wie einst Henri Bergson an nicht verarbeitbare Erlebnisse, warte auf ein Ereignis in seiner totalen Direktheit! Warte einfach auf den Orgasmus, der es wert ist, erlebt zu werden, den Fall, der es wert ist, gefallen zu werden, den Tod, der es wert ist, gestorben zu werden! Warte auf den Augenblick, verzögere seine Realisierung!
In seinem berühmten Buch Das Unbehagen in der Kultur spricht Sigmund Freud einige wichtige Themen an – die Unausweichlichkeit des Todes, das Elend des Lebens, wie sollen wir uns in unserer Schwäche gegen das Schicksal auflehnen? Er stellt die Frage so deutlich wie apodiktisch. Wir alle werden sterben, und während wir leben, sind wir uns dessen bewusst. Das Leben hat keinen Sinn, auch das wissen wir. Also ist das Leben elend. Was tun?
Freud nennt drei Methoden, nämlich „mächtige Ablenkungen, die uns unser Elend geringschätzen lassen, Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns für dasselbe unempfindlich machen“. Das erinnert an einen Brief Freuds an seine Freundin, die später seine Frau werden sollte. Darin meinte er, er sei nicht sicher, ob er Schriftsteller oder Psychoanalytiker werden wolle. Er zweifle, welcher Weg der richtige sei. Was haben diese beiden Berufe gemeinsam? Genau das können wir am Unbehagen in der Kultur in seinen eigenen Worten lesen.
Kommen wir zu den drei Palliativen Freuds zurück, zunächst die „mächtigen Ablenkungen“: Kunst, Wissenschaft, religiöser Radikalismus, Revolution, Umwelt- oder Tierschutzaktivismus, Feminismus, Kampf gegen Armut und Hunger, Erfindungs- und Entdeckergeist usw. Alles ist möglich, nur um vom näher rückenden Tod abzulenken, den man nicht ändern kann. Man widmet sein Leben hehren Zielen, enormen Aufgaben, grandiosen Idealen, nur um sich vom Elend abzulenken.
Zweitens die Ersatzbefriedigungen: Sie lindern unser Elend und befriedigen uns indirekt. Dazu gehört im Wesentlichen alles, was man unter einem „guten Leben“ subsumiert: gesundes Essen, Geld verdienen, Versicherungen, Sicherheit, Zuversicht, Luxus, ein möglichst langes Leben mit möglichst wenig Schmerzen. Unbestreitbar eine Kapitulation vor dem Tod. Weder nach Sinn noch nach Idealen oder dem Erhabenen suchen. Den Tod hinnehmen, die beschränkte Zeit hinnehmen und versuchen, sie weniger schmerzvoll zu gestalten.
Drittens die Suchtmittel: alle Arten von Drogen und Süchten, Alkoholismus, Spielsucht, extremere Freuden, für die man nur allzu leicht Gesundheit und Wohlbefinden riskiert. Man kapituliert nicht vor dem Tod, fordert ihn vielmehr heraus. Man sucht und findet das Erhabene im Zufall, in Fantasien, im Nihilismus.
Es gibt also mächtige Ablenkungen, um sich vom Elend des Lebens abzulenken. Man beginnt zu glauben, dass es Dinge im Leben gibt, die einen höheren Wert besitzen, die ach so wichtig und erhaben sind, dass sie über Leben und Tod stehen. Das korrespondiert mit dem drogenaffinen Leben, durch das man den Tod und das Elend des Lebens vergessen kann. Ersatzbefriedigungen hingegen lassen uns den Tod anerkennen. Man fragt nicht mehr, warum man lebt oder warum das Leben lebenswert ist, sondern wie man länger und besser leben kann. Daher legt man Wert auf alles Gute – gute Landwirtschaft, gute Ernährung, guten Sex, guten Sport, gute Kunst ...
Und genau hier kommt das Zaudern ins Spiel. Es ist ein Weg aus dem Elend, ohne große Ziele haben zu müssen. Man muss nicht einmal den Augenblick genießen, sondern nur abwarten. Deshalb lässt sich das Zaudern auch als eine künstlerische Strategie unter den Bedingungen des Ausnahmezustands betrachten.
Doch künstlerische Strategie ist das eine, Strategie des Künstlers oder der Künstlerin hingegen etwas anderes. Die Strategie des Künstlers oder der Künstlerin beruht immer auf Emotionen. Wer immer ganz allein arbeitet, ist in einem noch viel negativeren, hoffnungsloseren Geisteszustand, weil gemeinsame Augenblicke bekanntlich mehr positive Gefühle auslösen und die Leistung steigern. Und an gemeinsame Aktionen glauben lassen – glauben, dass sie den Unterschied machen. Also ist auch das Zaudern im Kollektiv einfacher.
Im Ausnahmezustand kann man naturgemäß viele Themen gar nicht ansprechen. Dennoch kommt es mir etwas voreilig vor, das gleich als Zensur zu bezeichnen. Es geht um etwas anderes. Institutionen, auch die Kunst, versprechen immer Dauerhaftigkeit, Konsistenz und Stärke. Vielleicht auch die Stärke, gemeinsam zu warten. Jedenfalls finde ich, dass die Kunstszene sehr kreativ wartet (darauf, dass etwas Gutes und bisweilen leider auch etwas Schlechtes passiert). Und dabei produziert sie naturgemäß immer mehr Kunst und immer mehr Events.
Mega-Events bieten keine Metaerzählungen. Vielmehr braucht man im Ausnahmezustand Mega-Events, weil sie die Zeit so gut stehlen, die Situation im großen Stil in die Länge ziehen und einen Raum für gemeinsame Aktionen schaffen. Wird die zeitgenössische Kunst von ihrer Flexibilität zusammengehalten? Oder eher von dem, was sie repräsentiert? Oder ist es dieses Warten, das alle aneinanderklebt? Das Warten auf etwas Großes, etwas Wichtiges, das entsteht, aufsteht, auftaucht?
Man muss verstehen, dass die türkische Gesellschaft in Wahrheit darauf wartet, dass das Schlechte in sich zusammenbricht. Das bedeutet nicht, dass es keinen Widerstand gäbe. Seit den Gezi-Protesten 2013 gibt es ihn sogar auf vielerlei Art.2 Aber trotzdem ... Im Prinzip handelt es sich um eine Gesellschaft, die wartet – und derweil durch die Kunst freie Formen, Formen der Freiheit ausprobiert.
Jedoch ist das zaudernde Warten zugleich eine Qual, Ausdruck von Hierarchie, Gewalt. Jemanden warten zu lassen, kann einer Beleidigung gleichkommen. Und doch liegt im Warten auch oft ein Versprechen. Man ist geduldig, man lässt die Zeit verstreichen, man achtet auf das Vergehen der Zeit.
Biennalen, Kunstinstitutionen und Mega-Events helfen einem auch, international zu bleiben. Das Leben außerhalb des Markts und außerhalb der lokalen Belange wird so langsam zur Routine. Das bedeutet, dass man mit gleichgesinnten FreundInnen auch gerne einmal im Ausland eine Runde abhängt.
Welche ästhetischen Mittel und Einstellungen sind dem zuträglich? Kommen wir noch einmal auf die Ausstellung A Year Without A Summer von Elmas Deniz zurück (die mit dem Käfiggewächshaus). In diesem Rahmen präsentierte die Künstlerin auch ein Buch namens Flying Plants, Dogs and Elephants, das aus Siebdrucken auf einem Spezialpapier aus Elefantendung besteht. Die darin enthaltenen Zeichnungen stellen importierte Zimmerpflanzen aus Sri Lanka dar, die Deniz durch eigene Texte ergänzt hat. Darin erzählt sie von Augenblicken, in denen sie sich so elend fühlte, dass sie sogar Straßenköter umarmte, mit deren Staub und Gestank eins wurde. Man kann also auch noch in den elendsten Situationen warten. Kein Papier, sondern Elefantendung; kein normales Füttern oder Beschützen streunender Hunde, sondern „mit ihnen sein“, selbst zum Straßenköter werden.
Wie macht man also Kunst im Ausnahmezustand? Was lässt sich über Zensur und Selbstzensur sagen? Vielfach unterliegen unsere Ideen ähnlichen Bestimmungen, wie sie auch für den Transport von lebenden Pflanzen gelten. Aber was ist die Logik der Kunstproduktion im Ausnahmezustand? Ich meine, die Antwort liegt im Warten.
Kunst kann Propaganda sein – nicht unbedingt für eine bestimmte Idee, sondern für eine mögliche Zukunft. Die Kunst wird also nützlich sein, wenn ihr Moment da ist. Sie kann ziemlich krass sein (wie bei Erkmen das Aufreißen von Wänden und das Umbauen eines Ausstellungsraums), aber auch ganz subtil. Sie kann pathetisch direkt, aber auch feingliedrig und indirekt sein. Schon als der Ausnahmezustand in der Türkei noch nicht galt, wurde allzu direkte Kunst oft heftig kritisiert. Besonders politische Kulturschaffende aus anderen Bereichen fanden die bildende Kunst mit ihrem direkten politischen Diskurs oft zu simpel. Doch immer noch leistet sich die zeitgenössische Kunst diese Direktheit, die jene des Theaters noch übertrifft. Dabei wiederholt sie sich natürlich manchmal auch.
Die Zensur während des Ausnahmezustands funktioniert nicht mehr so wie unter Stalin. Sie ist nicht so explizit. Nicht jedes zensierte Kunstwerk in der Türkei wurde direkt verboten. Im Ausnahmezustand ist der Druck oft indirekt. Man weiß nicht, woher die Zensur kommen wird. So wurde die letzte Çanakkale-Biennale auf so eigentümliche Art und Weise abgesagt, dass man an ihrem Beispiel den Unterschied zwischen Zensur und Selbstzensur gut diskutieren könnte. Dennoch war es letztlich eindeutig politischer Druck, weswegen die Biennale nicht stattfand. Die Vorwegnahme von Druck, das Warten zensiert zu werden, nichts Genaues zu wissen – unsicherer können Umstände gar nicht sein. Warten als Folter im Gegensatz zum Ausharren, bis die Zukunft da ist. Manche Firmen verwenden das sogar als Marketingstrategie. Die Preise für manche Produkte schwanken so rasch, dass man nie sicher sein kann, ob man nun billig oder teuer kauft. Den echten Preis kennt man nicht.
„Ich weiß, dass du nicht schweben kannst“, heißt es in dem Film Ewige Jugend des italienischen Regisseurs Paolo Sorrentino aus dem Jahr 2015. Zwei Künstlerfreunde unterschiedlicher Herkunft und Alters leiden, weil ihre Karrieren trotz manchem Erfolg ins Stocken geraten sind. Sie wollen schweben so wie früher. Aber wie jedes Schweben war auch ihr Schweben nicht real. Es existierte nur, weil sie daran glaubten. Also flüstert einer der beiden einem Guru-Typen, der sich zu levitieren anschickt, zu: „Ich weiß, dass du nicht schweben kannst.“
Denn wenn er schweben könnte, dann wäre er darüber nicht glücklich, sondern würde so wie sie leiden. Beide hatten nämlich in ihren früheren Karrieren Phasen des Schwebens und mussten einsehen, dass das Schweben an sich nichts Gutes ist. Um glücklich zu sein, braucht es etwas anderes – Ausdauer vielleicht oder Dauer, langsam Höhersteigen, Entwicklung. Aber kein Schweben, das einen nicht mehr loslässt, wenn es einmal vorbei ist. Vergiss also die Vorstellung eines Höhepunkts! Vergiss die Idee des Hits! Genieße stattdessen die Zeit, das Warten, die Fülle, die Kontinuität, um endlich zu „werden“!
Denn eines höre ich den zaudernden Künstler dem agitierten ins Ohr flüstern: „Ich weiß, dass du nicht schweben kannst!“

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] In einem Interview über Zensur und Selbstzensur in der Türkei auf http://susma24.com/yuvarlak-masa-bulusmalari-cagdas-sanat-i/.
[2] Und es geht immer weiter. Ich schreibe diesen Aufsatz im Mai. Nach der Wahl im Sommer könnte alles anders sein.