Heft 3/2018 - Artscribe


Bouchra Khalili

13. April 2018 bis 17. Juni 2018
Secession / Wien

Text: Christian Höller


Wien. Eine Ausstellung, wie sie zeitgemäßer nicht sein könnte. Während europaweit Regierungen nicht müde werden, ein akutes Bedrohungsszenario durch „Flüchtlingsströme“ zu beschwören, geraten diejenigen, die sich weltweit auf die Flucht begeben, selbst immer mehr aus dem Blick. Und während gezielt eine Politik der Spaltung und Abgrenzung betrieben wird, um die Wählergunst im Inneren sicherzustellen, bleiben Solidarität und Empathie nach außen hin zusehends auf der Strecke. Bouchra Khalilis Schau im Untergeschoss der Secession setzt dieser immer fataleren Schieflage insofern etwas entgegen, als ihre Arbeiten – auch vor der großen „Welle“ 2015/16 schon – stets auf Momente des Gemeinsamen und Verbindenden gepocht haben. Auf eine Gleichheit, die nicht bloß leeres Ansinnen ist, sondern angesichts globaler Bedingungen nicht anders als in der Anerkennung einer „tout-monde“ begründet sein kann, wie Édouard Glissant dies einmal genannt hat.
Glissant ist einer von Khalilis intellektuellen Gewährsleuten oder besser gesagt Autor einer jener politischen Reden, die in dem Video Speeches – Chapter 1: Mother Tongue (2012) von in Paris lebenden MigrantInnen aus dem Gedächtnis „enacted“ werden. Khalilis sorgsamer visueller Stil zeigt sich mit Schärfe in den Inszenierungen dieser frei flottierenden Ansprachen, die zusammen eine kleine Genealogie antikolonialer bzw. befreiungskämpferischer Bestrebungen aufspannen. Von Aimé Césaire über Malcolm X bis eben Glissant reichen die Vorlagen, deren Aktualisierung stets mit einer kurzen Abfolge von Außenaufnahmen beginnt, bevor sich die Kamera den sprechenden Personen – meist dezent abgeschattet, ohne allzu grellem Licht ausgesetzt zu sein – behutsam nähert. Dieser Distanz und Verwicklung gleichermaßen anzeigende Modus, der ein dialektisches Moment des Sichtbarmachens und gleichzeitigen Sprechenlassens in sich vereint, wird auch in den zwei weiteren Teilen der Speeches-Reihe konsequent beibehalten. Darin sind es einmal in Italien (in diesem Fall Genua) Eingewanderte, die ihren oft langwierigen Kampf um die Staatsbürgerschaft rekapitulieren: „In Morocco, I was a kid, here I became a Moroccan“, erzählt etwa Simohamed, dem nach 17 Jahren schließlich ein italienischer Pass gewährt wurde. Das andere Mal sind es die ausnehmend schlechten Arbeitsbedingungen von illegal in den USA lebenden MigrantInnen, die in Chapter 3: Living Labour (2013) zur Sprache kommen. Zum einen sind ganze Wirtschaftszweige auf sie angewiesen, zum anderen sind sie – als „undocumented workers“ – der ganz besonderen Willkür ihrer ArbeitgeberInnen ausgeliefert. (Was seit Ende 2016 mit ihnen geplant wird, kann tagtäglich der Zeitung entnommen werden.)
Die auf Monitoren präsentierte Speeches-Trilogie funktioniert im insgesamt dreigliedrigen Parcours der Ausstellung als verbindendes, aber auch Abstand schaffendes Link. Vorgelagert, gleich am Beginn, ist das Mixed-Media-Setting Foreign Office (2015). Im gleichnamigen Film wird exemplarisch eine jener „historischen Übersetzungen“ vorgeführt, wie sie auch in den Ansprachen der MigrantInnen im Hinblick auf dekoloniale Gleichheitsforderungen nachwirken. Eine junge Frau und ein junger Mann nehmen darin anhand des Stadtplans von Algier und 19 historischer Fotografien ein „writing of the writing of visible history“ vor: eine Art Montageakt, der – in Form des Auflegens und Immer-wieder-neu-Arrangierens der Fotografien – weniger Rekonstruktion als Suche nach neuen, zukunftsweisenden Zusammenhängen ist. 19 internationale Befreiungsorganisationen waren es auch, die, angefangen bei Amílcar Cabrals PAIGC (Partido Africano para a Independência da Guiné e Cabo Verde) bis hin zur Internationalen Sektion der US-amerikanischen Black Panther Party, zwischen 1962 und 1972 in Algier ihre Hauptquartiere aufgeschlagen hatten. Deren teils diffuse, teils auf engstem Raum sich überlagernde Geschichte (eine elegant abstrahierte Verortung nimmt auch die Siebdruckarbeit The Archipelago vor) erscheint den beiden Protagonisten hingegen selbst „so unreal“. Was – und hier greift Khalilis gänzlich unsentimentaler Geschichtsblick, der Abstand und Nähe produktiv miteinander verquickt – nicht zur haltlosen Beschwörung von Revolutionsfantasien führt, sondern im Gegenteil: zum programmatisch insistierenden Impuls, to make these stories real again, sprich der aktiven Konstruktionen einer Erinnerung, die künftige Gleichheits- und Solidaritätsanliegen in sich trägt.
Dieser kommenden Gleichheit ist auch The Tempest Society (2017) gewidmet, für die letztjährige documenta in Athen produziert und hier abschließend im Keller der Secession installiert. Khalili verwebt darin einmal mehr Geschichte („The Story“) und gegenwartsrelevantes Politdrama („The Play“, in fünf Aufzügen und zwei Zwischenspielen). Die Geschichte ist jene der französischen Theatergruppe Al Assifa (der Sturm), deren Inszenierungen im Stadtraum von Paris sich zwischen 1972 und 1978 vor allem für die Rechte von MigrantInnen starkmachten. Dieses Ausgangsszenario, erneut anhand von Foto-, Film- und Textdokumenten ausgebreitet, wird von Khalilis drei Hauptfiguren, zusammen mit Gästen, auf die aktuelle Situation in Griechenland umgelegt. Zwischen Schuldenlast, aufoktroyierter Sparpolitik und migrantischem Elend, in das der Rest von Europa so wenig wie möglich involviert sein möchte, spannen die Szenen des Spiels aufschlussreiche, „Konstellationen“ bildende Fäden. In den Worten des albanischstämmigen Autors Gazmend Kapllani (My Name Is Europe) hat Europa eine lange Geschichte, aber ein sehr kurzes Gedächtnis. Dem damit einhergehenden „denial“, der gegenwärtig mehr und mehr die Politik bestimmt, stellt The Tempest Society – und Khalilis gesamte Ausstellung – die utopische Aussicht auf eine „politics of life“ entgegen. Oder wie es in den Worten des in Athen gestrandeten Syrers Malek heißt: „not the politics of a power or of a government, [but] the politics of a voice speaking for itself“.