Heft 4/2018 - #Fortschritt


Prog 2.0

Unterwegs zu neuen Koalitionen

Diedrich Diederichsen


„Wie soll man angesichts des Eisgebirges an den stetigen Fortschritt der Menschheit glauben“, fragte Hubert Fichte als kritischer Sympathisant von Allendes Sozialismus im Angesicht der chilenischen Anden. Nun, heute dürfte auch dort der eine oder andere Gletscher geschmolzen sein, und es ist nicht nur möglich, sondern fast schon unausweichlich, einen stetig fortschreitenden Rückschritt des Zustands des Planeten zu beobachten. Wenn aber Planet wie Menschheit voran- oder zurückschreiten können, dann ist auch Fortschritt möglich, ja dringend nötig. Auch wenn der Erhalt des Eises in all den utopischen Wärmemetaphern einer glücklicheren Menschheit kein sehr etabliertes positives Bild ist.
Die geläufige Kritik am Fortschrittsbegriff als politisches Argument – eurozentrisch, linear, geschichtsmetaphysisch, kolonial, unterkomplex – verblasst vor einer unheimlich globalen Entwicklung: dem nahezu überall in der Welt erfolgreichen Neotraditionalismus. Dieser verdankt seinen Erfolg der vermeintlichen Evidenz eines chronopsychologischen Tricks. Er konstruiert ein ideales (religiöses, tribales, nationales, sexuelles) Früher, das weniger nostalgisch begehrt wird (weil man bestimmte Schlüsselerinnerungen hat) als vielmehr wie eine Utopie: ein politisches Fantasy-Reich, in dem man sich nie aufgehalten hat, aber das erstens funktionieren muss (weil es ja schon mal funktioniert hat) und zweitens garantiert einen Platz für mich hat (denn es ist ja, so die Behauptung, der Ort meiner realen, psychischen, spirituellen Herkunft.)
Dagegen hilft nur ein chronopolitisch verfeinerter und reflektierter Begriff der Progressivität. Natürlich ist es zu kurz gedacht, eine ideologische – mithin aus dem Zusammenwirken materiell-ökonomischer mit kulturellen Faktoren entstandene – Entwicklung nur mit Ideen bekämpfen zu wollen. Anders aber als es zahllose Ausstellungstitel, Zeitschriftenumfragen und Anthologienmotti der letzten Jahrzehnte wollen, kann es nicht eine Utopie oder Heterotopie, ein Traum oder eine Hoffnung sein – mithin etwas, das es in dieser Welt noch nicht gibt –, das man den Rechten und Religiösen und ihren Sehnsüchten nach erfundenen Vergangenheiten und Traditionen entgegensetzen kann. Es muss ein Prinzip sein, dessen Stoff aus dieser Welt ist, den wir alle kennen und anfassen können.
Fortschritt lässt sich nur politisch fassen, wenn wir bereits erkennbar Fortschritte gemacht haben. Die Selbstdiagnose der Linken im Kulturbereich gipfelte zuletzt in der pessimistischen Einschätzung, dass all die Befreiungsbewegungen nach 1968 after all nur als Komplizen der Erschließung des Befreiten (befreiter Körper, Sinne, Gesten, Sexualitäten, Lebensformen Marginalisierter etc.) für einen neoliberalen, postfordistischen Kapitalismus fungiert hätten. Tatsächlich hat aber die Linke während der langen Dämmerung der kommunistischen Sonne eben auch einen Fortschritt durchgemacht, und das war die Erkenntnis, dass die früher verachteten „bürgerlichen Freiheiten“ nicht nur etwas wert sind (und zwar wert, erobert, vergesellschaftet, zugänglich gemacht zu werden), sondern dass sie eben gar nicht „bürgerlich“ in ihrem Wesen sind, sondern vielfach sozial bestimmt, aus diversen oft marginalen Reichen der Gesellschaft entwickelt und sozial erobert werden können (im Feminismus, LGBTQ-Bewegungen, Antirassismus etc.). Diese Entdeckung und die vielen Stadien ihrer Inkorporierung in dialektisch-materialistische, intersektionalistische und andere linke Paradigmen haben zwar tatsächlich die Ergebnisse der Befreiungskulturen auch als Waren präpariert – aber eben nicht nur. Alles, was verwertet werden kann, alles, was einen Tauschwert hat, hatte auch einst einen Gebrauchswert. Neben allen Rückschritten gibt es all die Fortschritte. Es kommt darauf an, wo man anknüpft.
Doch gerade die Verbindung von libertären und linken Positionen, die Allianz von Klassen- und Ideologiekritik mit Queerfeminismus etwa, kriegt gerade massiven Gegenwind – von den erstarkten Rechten, Identitären und NeofaschistInnen und anderen NeotraditionalistInnen sowieso, aber auch von den zahlreichen nationalen Linken, von Jean-Luc Mélenchon über Jeremy Corbyn bis zu Sahra Wagenknecht und Wolfgang Streeck und der deutschen Aufstehn!-Szene. „Linksliberal“ ist der gemeinsame Feind, weil mit der Schmähung linker Liberalität gerade die fortgeschrittenste, intersektionale Position und ihre zivilgesellschaftlichen Erfolge oder Zwischenergebnisse offensichtlich am besten angegriffen und mit dem Status quo identifiziert werden können. Auf diesen Fortschritt aber zu bestehen und ihn gegen rechte wie QuerfrontlerInnen und nationale SozialistInnen zu verteidigen ist nicht genug – und zu verteidigen heißt eben nicht nur, den realen Bestand der erkämpften und bedrohten Rechte und Freiheiten als Bezugspunkte zu markieren, sondern auch das Insistieren auf die historische Linie des Progressiven.
Aus der Erkenntnis dieser historischen Bezugspunkte, also der in den letzten 50 Jahren erkämpften, aber oft auch locker und kampflos entwickelten Freiheitsräume und -rechte heraus, gilt es zu erkennen, dass es jetzt 1.) einer weiteren Koalition bedarf und 2.) einer Trennung von neotraditionellen Anwandlungen in den eigenen Rollen, sei es dem Zurück zu Arbeiterbewegungsmarxismus und nationalen Sozialismen, sei es dem Festschreiben des Erreichten als stabiles Programm mit angegliedertem Verhaltenskodex und fixen sozialen Normen.
Diese neue Koalition ist die mit den Hauptleidtragenden der aktuellen globalen Rechtsbewegung als politischen Subjekten neuen Typus. Flucht, auch im weiteren Sinne – selbstgewähltes Exil, sogenannte Arbeitsmigration, ja selbstbestimmte Formen des Abenteuers – kann ebenso ein Festhalten an alten Beständen wie die Bereitschaft zu Veränderung beinhalten, meist beides. Im weiten Feld dieser zugegeben oberflächlichen Pole und in der Konfrontation mit einer verhärteten, in ihre vermeintliche Traditionalität abrutschenden Gesellschaft muss ein anderes Bündnis des Fortschritts entstehen, mit dem man Geduld haben muss, dem man so lange Zeit geben muss, wie zwischen – sagen wir – Stonewall und dem aktuellen LGBTQ-Status – vergangen ist. Nicht an den Ressentiments einer abgefallenen nationalistisch gewordenen sozialdemokratischen Traditionsklientel sollte sich die Linke orientieren, sondern an diesen neuen und gewissermaßen natürlichen Verbündeten – und ihrer komplexen, politischen Lage und Position.
Das geht nicht in einer an Wahlkampferfolgen orientierten Kurzfristigkeit und darf ebenso wenig dem neotraditionellen Reflex mancher Linken Raum geben, früher sei alles besser gewesen, als noch Kreisky, Brandt und Palme herrschten. Oder Allende. Als Mittel gegen die Probleme des chilenischen Sozialismus empfahl Hubert Fichte nach jeder Parteiversammlung erst mal einen Saunabesuch. Damit man dem ganzen Volk näherkommt.