Heft 4/2018 - Netzteil


Unter dem Radar

Das „Ein-Mann-Imperium“ des Comiczeichners und Sängers Jeffrey Lewis

Thomas Raab


Es scheint, als würden immer mehr KünstlerInnen versuchen, ihre Herzensinteressen nicht nur durch Erwerbsarbeit, Stipendien oder innerhalb der Familie, sondern auch durch andere Künste „querzufinanzieren“. Nicht zuletzt um die Schaffensfreiheit zu maximieren, fliegt man in der Herzenssache oft lieber „unter dem Radar“. So nützte der 1975 geborene New Yorker Comiczeichner und Sänger Jeffrey Lewis das Internet von Anfang an dazu, sich ohne Management ein „Ein-Mann-Imperium“ mit Freundeskreis aufzubauen. Aufmerksamkeit und Lob bekommt er indes fast ausschließlich für seinen „Anti-Folk“, der sich durch bis an die Schmerzgrenze ehrlich-ironische Texte auszeichnet, nicht jedoch für seine Low-Tech-Comics „des Herzens“.
Jeffrey Lewis bewohnt eine so liebevoll eingerichtete wie angefüllte kleine Wohnung in einem der hohen Backsteinwohntürme in der Lower East Side Manhattans. Von hier aus „dirigiert“ er nicht nur sein künstlerisches Imperium, das real exakt bis zur Wohnungstür reicht, durch virtuelle Kapillaren jedoch weltweit möglichst alle potenziell Interessierten zu erreichen sucht. Hier zeichnet er an seinem Arbeitstisch, hier lebt er, hier schreibt er seine Songs, hier lehnt die alte, von zahllosen Aufklebern zusammengehaltene Akustikgitarre.
„In New York sind die Mietpreise so hoch“, erzählt er, „dass es einen Mangel an Schlagzeugern gibt.“ Wer kann sich in New York schon einen Proberaum leisten? Aufgrund dieser ökonomischen Beschränkungen entstand seit den 1980er-Jahren unter anderem die Low-Fi-Musik in ihren zahlreichen Spielarten. Zum Lieder- und Textschreiben braucht man wenig Gerätschaft.1
Dabei ist Lewis ein Kind des Internets. „Ich gehöre zu den ersten Jahrgängen, die immer schon die Vorteile des Internets nutzen konnten, ohne seine Nachteile finanziell zu spüren.“ Auf die Frage, ob er – wie so viele akustische MusikerInnen – am krassen Preis- und Absatzverfall physischer Tonträger leide, berichtet er mit verschmitztem Lächeln von seiner „Erfolgsgeschichte“.
„Ich war ein typischer Nerd“, erzählt er, „alleine zu Hause, keine Freundin, viele Comicbücher.“ Als seine Musik 2001 im Zuge der bereits seit den 1980er-Jahren aktiven „Anti-Folk-Bewegung“ mit MusikerInnen wie Swell,2 Beck, Ben Kweller, Cake, Adam Green, Devendra Banhart oder Kimya Dawson mehr Aufmerksamkeit erlangte, hatte das Internet die anderen Vertriebswege für Nischenprodukte bereits abgehängt. Lewis baute sich über Kontakte und seine Webpage einen eigenen Verlag und Vertrieb auf.3 Die Druckwerke stapeln sich bis heute in den Kästen der Wohnung.
Doch seine kreative Ausgangsbasis ist – typisch Nerd – nicht oder nicht nur die (hohe) Literatur, sondern es sind Comics, und zwar der fantastischen bzw. superheroischen Art. Nach einer Diplomarbeit über Alan Moores Watchmen (erschienen bei DC Comics) bleibt er diesem Genre bis heute treu. Die meditative zeichnerische Arbeit gleicht sich mit dem aufregenden und, wie er zugibt, lustigeren Konzertreisen aus.
Die Zielgruppen von Low-Fi mit (selbst-)kritischen Texten und Comics überschneiden sich offensichtlich, wenn auch fernab der Massenberichterstattung. Lewis’ Kundschaft besteht demgemäß nicht eigentlich aus Fans, sondern aus „Peers“. Die meisten KonzertbesucherInnen könnten selbst in der Band, die, je nach verfügbarer Zeit, in wechselnder Besetzung tourt, mitspielen oder sich mit etwas Übung auch dem Comiczeichnen widmen.
„Die junge Bassistin von Los Bolts kann uns sagen, welche Clubs in Bushwick gerade angesagt sind“, meint er auf die Frage, wo man die alte widerborstige New Yorker Lebenseinstellung noch finden könne. Lewis hat ihr, als sein Bruder als Bassist aus Zeitmangel ausfiel, kurzerhand die Grundzüge des Bassspielens beigebracht. Obwohl man alle Arbeiten von Lewis, was ihre formalen und inhaltlichen Bezüge angeht, offenkundig an die Kunstgeschichte andocken kann (ein Merkmal von „Hochkunst“), sind sie nichtsdestotrotz „niederschwellig“. Gleichzeitig sind sie nicht so populär, dass man die Genrebezüge weglassen könnte (ein Merkmal der „Populärkunst“).
Denn obwohl „populär“ kann man weder die Comics noch die Musik von Jeffrey Lewis ohne ihre geschichtliche Entwicklung „besonders“ finden. Dabei nutzt er insbesondere die Recherchemöglichkeiten, die ehedem nur Uniangehörigen zur Verfügung standen. Wikipedia bot Lewis schließlich die Möglichkeit, historische Recherchen, die sonst Tage an Bibliotheksarbeit verschlungen hätten, von zu Hause aus zu erledigen. Nachdem er im Auftrag seiner Plattenfirma „A History of Rough Trade Records“ als Folksong mit Low-Tech-Zeichnungen als Bildunterstützung angefertigt hatte,4 begann er, dieses Format auf alle möglichen Sujets auszudehnen. Als eingängig didaktisches Vehikel für die „Millennials“ entstand so eine ganze Serie von „A History of ...“-Liedern, die Lewis bisweilen live zum großen Gaudium des Publikums mit Videobeamer vorträgt.5
Der Vorteil des Engführens von populärer Form mit aufklärerischem Inhalt liegt dabei ebenfalls im Mikroökonomischen. Die meisten seiner Comics verkauft er nach Konzerten an BesucherInnen. „Die Probleme des absichtlich ‚kleinen Künstlers‘ sind überall dieselben“, meint Lewis. „Besonders in den USA muss ich um jeden Konzertbesucher selbst kämpfen, über Social Media, Freude, E-Mails.“ Wenn Leute kommen, freut man sich doppelt, denn sie sind nicht nur KundInnen, sondern auch FreundInnen. Auf seiner Webpage prangt demgemäß: „Thank you for your continued support!“
Dennoch, und bei allem Spaß der Konzerte, dient ihm die Musik vorwiegend als Einkommensquelle. Ohne sie und ohne die Zeitersparnis durch das Internet wäre sein Modell, kreativ zu sein und sich selbst zu managen, nicht möglich. Ohne sie hätte er nicht die Zeit, Comics zu zeichnen.
Jeffrey Lewis hat es wie viele seiner Generation intuitiv geschafft, die eigenen Interessen so gegen Fremdvermarktung einerseits und den ökonomischen Untergang andererseits zu schützen, dass er Zeit für seine Lieblingsbeschäftigung, das heißt seine eigene Entwicklung findet. Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir Nachgeborenen uns den Geniemythos, der zwei Jahrhunderte lang das Lebensgefühl aller künstlerisch Tätigen – als Motivation, aber auch als Drohung „zu scheitern“ – bestimmte, abstrakt rekonstruieren müssen. Genie – oder heute vielmehr „Star“ – zu sein, ist peinlich, weil nicht nur fremdbestimmt, sondern pathetisch.
So gesehen ist Lewis Realist: „Man lernt sehr viele verschiedene Sachen“, sagt er, „wenn man nicht nur Kunst macht.“ Plant er eine kleine Tour durch Europa, zu deren Gigs normalerweise 50 bis 200 Leute kommen, organisiert er gerne alles selbst, vom Mietwagen bis zum Aufbau der Verstärker vor Ort.
Beugt sich Lewis damit den Anforderungen des Kleinunternehmertums, das die großen Konzerne in den Nischen ergänzt oder gar stützt? „Natürlich könnte ich jeden Tag ein Benefiz für einen Community-Kindergarten oder so etwas in Brooklyn spielen, anstatt mich freudig meinen Sachen zu widmen!“ Aus einer „Hippiefamilie“ stammend, weist er im Gegenzug darauf hin, dass die großen Konzerne bewusst die in den USA ohnehin schwierig vermittelbaren politischen Themen wie allgemeine Krankenversicherung oder Arbeitnehmerrechte unterdrücken würden.
„Ist es nicht merkwürdig“, schmunzelt er, „dass Bruce Willis in seinen Actionfilmen niemals die Fäuste für die Gewerkschaft erhebt?“ Recht hat er! Hollywood ist merkwürdig.

 

 

[1] Anspieltipps: „Williamsburg Will Oldham Horror“, „Arrow“, „Scowling Crackhead Ian“.
[2] Siehe etwa https://www.youtube.com/watch?v=XsQCOPi4t1g.
[3] http://www.thejeffreylewissite.com; https://the-jeffrey-lightning-lewis-store.myshopify.com
[4] https://www.youtube.com/watch?v=YaMD0JQYkoQ
[5] Etwa „History of the French Revolution“; https://www.youtube.com/watch?v=8K1CzqG-jrI, „History of the Vietnam War“; https://www.youtube.com/watch?v=JSlOnkUJGYo, „History of Punk Rock on the Lower East Side“; https://www.youtube.com/watch?v=XCYMFB7UPeY.