Heft 2/2019 - Illiberal!


Die flachen Wurzeln des Liberalismus in Asien

Chua Beng Huat


Der Politikwissenschaftler Partha Chatterjee schrieb 2011, dass „die fast nur auf Englisch, Französisch und Deutsch erschienenen Schriften darüber, was man im weitesten Sinn liberales Denken nennt, [...] nicht nur in der akademischen Welt, sondern auch in der öffentlichen Debatte aller Demokratien der Welt einen vorherrschenden Status genießen“.1 Seit 1950 der Kalte Krieg begann, waren die Vereinigten Staaten immer die lautesten selbsternannten Fürsprecher der liberalen Demokratie auf der Welt. Man könnte sogar sagen, dass ihre Mission bereits in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 impliziert ist, wo es heißt: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind und dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind“. Diese „selbstverständlichen Wahrheiten“ umfassen „das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf freie Glaubensausübung, das Recht auf friedliche Versammlung, das Recht, Gesuche an die Regierung zu stellen, das Recht, Eigentum zu besitzen, zu kaufen und zu veräußern und nicht ohne angemessene Kompensation enteignet zu werden, das Recht, nicht ohne Grund durchsucht und festgehalten zu werden, das Recht, nicht ohne gerechtes Gerichtsverfahren vom Staat der Freiheit beraubt zu werden, das Recht auf einen gerechten und schnellen Prozess, und das Recht, möglichst ohne Einschränkung in der Familie und der Kindererziehung tun und lassen zu können, was man möchte“.2 Diese individuellen Rechte wurden in der Folge politisch zu normativen Werten abstrahiert und bilden bis heute den Kern der Ideologie des Individualismus.
Die Behauptung, individuelle Freiheiten seien „selbstverständlich“, universalisieren und rechtfertigen den Liberalismus als teleologischen Endzustand der sozialpolitischen Entwicklung aller Gesellschaften, im Vergleich zu dem alle anderen gesellschaftlichen und politischen Sitten als unterentwickelt, rückwärtsgewandt oder deviant gelten – mit einem Wort: als „illiberal“.3 Sie müssen füglich korrigiert und auf Linie dieser „selbstverständlichen Wahrheiten“ gebracht werden. Vom Kalten Krieg an bis heute dienten sie mithin als ideologische Rechtfertigung sämtlicher Interventionen der USA in die Belange anderer Nationen durch eine Mischung aus Diplomatie, Entwicklungshilfe und, wenn nötig, militärischer Gewaltanwendung. Schließlich müssen die anderen Nationen von der Tyrannei befreit, und es muss ihnen zu „Freiheit“ und „Demokratie“ verholfen werden, wenn auch unter großen finanziellen Aufwendungen und bisweilen auch dem Verlust von Leben.
Mit der Einführung der Marktwirtschaft in den sozialistischen Staaten Ostasiens bzw. dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa in den 1980er-Jahren wurde diese amerikanische Variante des Liberalismus weltweit zum ideologischen Dogma. Die begriffliche Dreifaltigkeit liberal – kapitalistisch – demokratisch wurde in der politischen Debatte zur Norm, was den Politologen Francis Fukuyama 1992 bekanntlich dazu brachte, deren Triumph als „Ende der Geschichte“ zu proklamieren.4 Auch wenn die Dreifaltigkeit eindeutig ein Produkt der jüngsten Geschichte ist.
Der amerikanische Politikwissenschaftler Alan Wolfe bemerkt dazu: „Im 19. Jahrhundert hätten sich wohl alle politischen Theoretiker über den Ausdruck liberale Demokratie gewundert“.5 Das liegt daran, dass man den Begriff Gleichheit anders auffasste, der sowohl für den Liberalismus als auch für die Demokratie essenziell ist. Wolfe meint, dass das Argument des Kaufs und Verkaufs von Arbeitskraft auf dem Konzept des Individualismus beruhe, während der Liberalismus die politische Philosophie des Kapitalismus sei, kurz: „alle liberalen Gesellschaften sind kapitalistisch“. Der Liberalismus propagiere insofern eine „abstrakte Gleichheit“, gemäß der sich alle Individuen in einem „gleichen“ wirtschaftlichen Austausch befänden. „In der realen Welt“ hingegen würden die Kapitalisten diese Gleichheit „verbittert bekämpfen“,6 weil sie die real existierenden Ungleichheiten und die gesellschaftliche Hierarchie als natürliches Resultat des Wettbewerbs zwischen den Einzelnen verstünden.
Im Gegensatz dazu sei „die Demokratie in ihrem historischen Kontext einst eine weitgehend antikapitalistische politische Ideologie gewesen“.7 Für DemokratInnen bedeute Gleichheit nämlich „soziale Gerechtigkeit“ und Bürgerrechte, die „vor den Exzessen eines entfesselten Markts“ geschützt werden müssten“.8 Um Liberalismus und Demokratie rhetorisch widerspruchslos zu vereinen, bräuchte es folglich viel und andauernde ideologische Arbeit, durch die die „Demokratie“ auf „formale Merkmale wie Wahlen, Verfassung und konsensuelle Regeln der politischen Debatte“ reduziert und die stichhaltigen Forderungen nach Gleichheit und Teilhabe verdrängt würden.
Aufgrund dieses Widerspruchs muss jede „befriedigende Theorie der politischen Kultur in den USA nicht nur die Vorherrschaft des Individualismus im amerikanischen Alltag, sondern auch seine kommunitaristische oder egalitäre Infragestellung berücksichtigen“.9 Allerdings würde die Debatte in Amerika im Allgemeinen „auf dem Gebiet und unter der Prämisse eines liberalen Universalismus geführt, weswegen der Kommunitarismus bestenfalls eine Neben- oder Hilfsrolle spiele“, wie der politische Philosoph Fred Dallmayr unterstreicht.10 Die liberale Ordnung selbst stünde außer Frage.11
Ich möchte im Folgenden darlegen, dass genau dieser Kommunitarismus jene Ideologie ist, auf die sich heute zahlreiche ostasiatische Staaten berufen, um die globale Hegemonie des Liberalismus zu brechen und einen, wenn schon nicht praktischen, so doch diskursiven Raum für eine nicht liberale Demokratie zu öffnen.

Asien macht den Unterschied
Ausgerechnet in seiner euphorischsten Phase wurde der Triumph des liberal-demokratischen Kapitalismus durch den Aufstieg des Kapitalismus in Ostasien, wo die politischen FührerInnen regelmäßig illiberale oder gar antiliberale soziale Werte vertreten, durchkreuzt.12 Das geschah, lange bevor er durch die fremdenfeindliche und neonationalistische rechte Politik im liberal-demokratischen Europa und in Amerika durchkreuzt wurde.
Zweifellos haben in Ostasien die schnelle Industrialisierung und Urbanisierung durch den globalen Kapitalismus, dessen individualisierende Wirkung als neue Freiheit begeistert aufgenommen wurde, die sozialen Fesseln des Einzelnen gelockert.13 Nichtsdestotrotz wäre die Schlussfolgerung krass verkürzt, dass sich die Profitchancen des Markts und die Wahlfreiheit der KonsumentInnen in Ostasien als alleinige Werte durchgesetzt hätten. Aiwha Ong merkt an: „Während die Technokraten die Kommerzialisierung fördern und die Ideale des individuellen Talents und der Eigenverantwortung legitimieren, bleiben viele Menschen gegenüber den Marktkriterien und der Aushöhlung der kollektiven Werte und Gemeinschaftsinteressen ambivalent bis skeptisch“.14 Ja sogar die technokratischen StaatsplanerInnen bemühen sich bisweilen, im Sinne einer zukünftigen Gesellschaft aktiv lokalgeschichtliche Besonderheiten, kulturelle Werte und Sitten zu fördern und so zu Diskursen gegen den Wirtschaftsliberalismus zu bündeln. Dies ist nur ein Symptom dafür, wie flach der wirtschaftsliberale Individualismus in Asien wurzelt.
Mit Ausnahme Japans sind alle Nationalstaaten in Asien in der Nachkriegszeit geprägte postkoloniale Staaten. Sogar China und das Königreich Thailand (Siam), die beide formal niemals Kolonien waren, mussten fremden Mächten aus Europa, Amerika oder Japan Territorien abtreten. Die Idee der Demokratie samt den dazugehörigen Sitten wurde füglich erst vor Kurzem in diese Länder exportiert. Hier ist nicht der Ort, um ihre unterschiedlichen politischen Entwicklungen zu dokumentieren, also möge Folgendes als Zusammenfassung genügen: Mit Ausnahme der kommunistischen Staaten China, Nordkorea und Vietnam haben alle ostasiatischen Länder versucht, sobald sie politisch unabhängig waren, Wahldemokratien zu errichten. Die meisten dieser Versuche scheiterten indes rasch, worauf militärisch gestützte Regime entstanden. In Südostasien gibt es bis heute entweder sanfte (Singapur und Malaysia) oder strenge autokratische Regime. Seit den 1980er-Jahren haben Südkorea, Taiwan und Indonesien den Übergang von militärisch gestützten autoritären Regimen zu legitim gewählten Regierungen geschafft, wobei die Wechsel der Regierungsparteien friedlich verliefen. Dennoch haben sie Korruption und Klüngelei nicht ganz abschütteln können. Alles in allem kann man festhalten, dass alle nicht kommunistischen Länder Ostasiens nach und nach regelmäßige Wahlen institutionalisiert haben, wenngleich Korruption, Gewalt und andere Manipulationen des Wahlverfahrens bis heute in mehreren Ländern ein Problem geblieben sind. Und trotzdem wird die Ideologie des politischen Liberalismus in fast allen Fällen oft auch explizit verworfen, und zwar aus drei Gründen:
Erstens stehen die historischen Umstände der Dekolonisation und der Staatenbildung vielfach der demokratischen Regierungsform entgegen. In vielen Fällen usurpierten die militärischen und politischen FührerInnen, die zuerst den bewaffneten Freiheitskampf anführten, später die Regierungsmacht, weil sie aus der Tatsache, Blut für die neue Nation vergossen zu haben, automatisch das Recht, sie zu führen, ableiteten. In anderen Ländern bot die politische und wirtschaftliche Instabilität der frischgewählten Regierung den Offizieren die Chance, entweder direkt zu putschen oder im Verbund mit schwachen politischen FührerInnen den Ausnahmezustand auszurufen. Darüber hinaus konnten lokale politische FührerInnen die neue Nation oftmals als „legitime Heimat“ für sich beanspruchen und Fremde ausweisen oder zu zweitklassigen BürgerInnen herabstufen, wodurch ethnische Ungerechtigkeiten und Konflikte prolongiert wurden.
Zweitens sind die ostasiatischen Staaten bis heute höchst unsichere und unfertige Gebilde, die ihren BewohnerInnen im Namen der Nationenbildung eine „nationale“ Identität aufoktroyieren. Der Nationalismus bleibt somit eine starke politische Kraft, die das jeweilige Volksempfinden fest im Griff hält. Unter diesen Umständen steht die liberalistische Forderung nach einem minimalen Staat der „nationalen Einheit“, die die neuen Staaten zu etablieren und erhalten trachten, geradezu diametral entgegen.
Und drittens wird Kritik von PolitikerInnen aus dem Westen, dass es an liberaler Demokratie mangle, routinemäßig zurückgewiesen, da ja der Westen immer noch als ehemaliger Kolonialherrscher in Erinnerung ist. Entgegengehalten werden ihm nicht nur die lokale Geschichte und kulturelle Tradition, sondern auch, dass die Geschwindigkeit und die Form der Demokratisierung von den BürgerInnen selbst diskutiert und bestimmt werden sollten und sicher nicht von irgendwelchen EximperialistInnen.
In Summe haben also fast alle ostasiatischen Nationen die Teleologie des liberal demokratischen Kapitalismus als unumgängliches Endziel aller Nationen ausdrücklich zurückgewiesen.15

Kommunitarismus im Osten
Als alternative politische und soziale Ideologie wendet man sich in Ostasien – ironischerweise genauso wie die des exzessiven Individualismus und seiner potenziell antigemeinschaftlichen Wirkung überdrüssigen amerikanischen DenkerInnen –kommunitaristischen Werten zu, die aus dem angeblich ureigenen historischen und kulturellen Fundus abgeleitet werden. Lokale „Traditionen“ und Werte werden als „nationale Werte“ entdeckt und aufpoliert – in Indonesien als gotong royong,16 in Singapur als „asiatische Werte“,17 in Korea als Konfuzianismus.18 Propagiert wird dabei die Idee der „Gemeinschaft“, des „Kollektivs“, des „Sozialen“, wobei die Familie im Allgemeinen als grundlegende gesellschaftliche Institution über das Individuum gestellt wird. Diese kommunitaristische Ideologie stieß innerhalb und außerhalb der Region auf die heftige und berechtigte Kritik, sie verschleiere bloß fadenscheinig die wirtschaftliche Korruption und Autokratie der politischen FührerInnen, die sie vor sich hertragen. Und fürwahr ist das gleichzeitige Auftreten von Autoritarismus und Kommunitarismus ein Trend, der eines näheren Blicks wert ist.
Eine Aufgabe der gewählten StaatenlenkerInnen besteht darin, die nationalen Interessen zu definieren. Sie sind immer versucht, diese nach eigenem Gutdünken definierten Interessen den Regierten, von denen sie Gefolgschaft verlangen, aufzuzwingen. So betrachtet impliziert Führung stets Autoritarismus. In demokratischen Gesellschaften kann dieses Risiko teilweise durch regelmäßige Wahlen gemindert werden, durch die MachthaberInnen ausgetauscht werden. In den neuen postkolonialen Nationen hingegen wird die autoritäre und korrupte Tendenz der politischen FührerInnen durch die bereits erwähnte Annahme verstärkt, dass die erste Generation, die die antikoloniale Bewegung anführte, das Vorrecht zu regieren besitzt. Üblicherweise noch in kolonialen Bildungsinstitutionen in den Metropolen ausgebildet erklärten sie sich zu „natürlichen“ FührerInnen, zumal sie während des Freiheitskampfs durch die ungebildeten oder gar analphabetischen Massen unterstützt worden sind. Leider tendiert das historisch Notwendige in der Rückschau immer dazu, als naturgesetzlich gedeutet zu werden. Dieser „natürliche Führungsanspruch“ führt leicht zu einer paternalistischen Autokratie, weil er den Rest der Bevölkerung zu Kindern abstempelt. Und paternalistisches Wohlwollen wird dann zu Autoritarismus, wenn die infantilisierten Regierten doch nicht folgen und selber zu denken beginnen. Folglich gibt es nur zwei mögliche Regierungsformen: eine paternalistisch-kommunitaristische, wenn die Führung verantwortlich handelt, oder eine autoritäre und korrupte, wenn sie unverantwortlich ist.
So wird Singapurs seit Langem regierende Einheitspartei People’s Action Party des Paternalismus und Autoritarismus beschuldigt, obwohl sie sich durch Korruptionsbekämpfung politisch legitimiert. Das ist zwar eine Ausnahme, bestätigt aber nur die Regel, dass das Zusammentreffen von Autoritarismus und Korruption weder logisch noch kausal bedingt ist. Analytisch muss man den Autoritarismus, aber auch den Paternalismus, den Kommunitarismus und die Korruption getrennt voneinander begreifen. Sie können je nach historischen Umständen von verschiedenen FührerInnen oder Gruppen in unterschiedlichen Mischungen kombiniert werden.
In diesem Sinn ist die Verallgemeinerung, dass alle ostasiatischen Kulturen „in ihrem Kern kommunitaristisch sind“19, höchst zweifelhaft. Selbst wenn der Kommunitarismus bei den meisten Völkern in Ostasien eine gewisse Resonanz findet, durchzieht diese Geisteshaltung bei Weitem nicht die ganze Region. Solche Behauptungen müssen daher als Versuche gewertet werden, dem liberalen Individualismus auf ideologische Weise entgegenzutreten.

Die Wiederauferstehung des „Sozialen“
Man kann die Meinung vertreten, dass der liberaldemokratische Kapitalismus den Kalten Krieg gewonnen hat. Sein Sieg indes war keineswegs total. Seit den 1980er-Jahren trifft die liberale Demokratie in Ländern Ostasiens auf Widerstand, wo der Kapitalismus auf ein anderes, bisweilen sogar antiliberales ideologisches Fundament gestellt wird. Zumeist ist dieses Fundament ein wiederentdeckter Kommunitarismus.
Das konstante Wirtschaftswachstum der vergangenen 50 Jahre hat in Ostasien die Armut signifikant reduziert und die Mittelschicht vergrößert. Nachdem die erste Generation autoritärer HerrscherInnen verschwunden ist, werden es die folgenden Generationen politischer FührerInnen in Ostasien zunehmend schwerer haben, ihren moralischen und intellektuellen Führungsanspruch sowohl als PolitikerInnen als auch als Privatpersonen gegen besser ausgebildete und genauso fähige Leute durchzusetzen. So mussten fast alle nicht kommunistischen Regierungen in Ostasien den Forderungen der immer höher Gebildeten nach transparenteren Wahlverfahren und mehr Verantwortung nachkommen. Dennoch werden immer noch repressive Gesetze in ordentlichen parlamentarischen Verfahren verabschiedet.
Die Machtverschiebung von den Regierenden zu den Regierten bedeutet also noch nicht automatisch, dass man einen Liberalismus mit individuellen Rechten, freiem Markt und einem minimalen Staat anstrebt. Die Geschichte dieser Staaten lässt vielmehr erahnen, dass es sehr wohl möglich ist, den Liberalismus von Kapitalismus und Wahldemokratie zu entkoppeln. Der Fall Singapur, dessen „Kommunitarismus“ die herrschende Partei offenbar von ihrer vorigen „Sozialdemokratie“ ableitet, ist ein konkretes Beispiel für die historische Möglichkeit, eine Wahldemokratie zu errichten, die nicht liberal ist, sondern in wichtigen gesellschaftlichen und politischen Bereichen dem Sozialen den Vorzug einräumt. Diese Gesellschaften sind „illiberal“ – und wollen es auch sein.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben die extremen ökonomische Ungleichheiten im globalen neoliberalen Kapitalismus sowie die langfristige Verarmung der Mittel- und Arbeiterschicht zu zwei gegenläufigen politischen Tendenzen geführt, die die hegemoniale liberale Ordnung auf unterschiedliche Art gefährden. Erstens ist da der Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa und den Vereinigten Staaten, dem historischen Kernland des Liberalismus, und zweitens – zum Teil als Gegenreaktion auf diesen Rechtsruck – in den USA der Ruf zurück zu einer „Sozialdemokratie“, wenn nicht zu einem „Sozialismus“. Ich meine, dass das Erstarken dieses sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Diskurses in den USA mit dem früheren und mancherorts profunden Ruf nach einem Kommunitarismus in Ostasien zusammenhängt. Beide gründen sich ideologisch auf den gleichen Überdruss am liberalen Individualismus, denn immerhin kann der Kommunitarismus diskursiv/ideologisch an das Soziale der Sozialdemokratie anschließen.
Diese Parallelität verweist darauf, dass man den Ruf nach dem Sozialen und nach dem Kommunitarismus nicht als Eigenart Asiens oder des Nicht-Westens abtun sollte. Die Rückbesinnung auf das „Soziale“, das „Kollektive“ und die „Gemeinschaft“ wendet sich, egal wo, gegen die heimtückische Zersetzung des Gemeinschaftlichen durch die Exzesse des liberalen Individualismus.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Partha Chatterjee, Lineages of Political Society: Studies in Postcolonial Democracy. New York: Columbia University Press 2011, S. 2–3.
[2] Barack Obama, The Audacity of Hope. New York: Canongate 2006, S. 86.
[3] Farid Zakaria, The Future of Freedom: Illiberal Democracy at Home and Abroad. New York: W.W. Norton 2003; Daniel Bell et al., Towards Illiberal Democracy in Pacific Asia. London: Macmillan Press 1995.
[4] Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man. London: Penguin 1992.
[5] Alan Wolfe, The Limits of Legitimacy: Political Contradictions of Contemporary Capitalism. New York: The Free Press 1977, S. 3.
[6] Ebd., S. 5.
7 Ebd., S. 4.
[8] Aihwa Ong, Neoliberalism as Exception: Mutations in Citizenship and Sovereignty. Durham: Duke University Press 2006, S. 2.
[9] Richard J. Ellis, zitiert in Leonard Williams, American Liberalism and Ideological Change. Dekalb: Northern Illinois University Press 1997, S. 13.
[10] Fred Dallmayr, Democracy and multiculturalism, in: Seyla Benhabib (Hg.), Democracy and Difference: Contesting the Boundaries of the Political. Princeton: Princeton University Press 1996, S. 281.
[11] Williams, American Liberalism and Ideological Change, S. 8.
[12] Fukuyama, The End of History and the Last Man, S. 238.
[13] Beng Huat Chua (Hg.), Consumption in Asia: Lifestyles and Identities. London: Routledge 2000; B. Zhao, Consumerism, Confucianism, Communism: making sense of China today, in: New Left Review, 222, 1997, S. 43–59; Deborah Davis, Urban consumer culture, in: M. Hockx/J. Strauss (Hg.), Culture in Contemporary China. Cambridge: Cambridge University Press 2005, S. 170–187.
[14] Ong, Neoliberalism as Exception, S. 12.
[15] Garry Rodan, Competing ideologies of political representation in Southeast Asia, in: Third World Quarterly 33(2), 2012, S. 311–332.
[16] John Bowen, On the political construction of tradition: gotong royong in Indonesia, in: Journal of Asian Studies 45(3), 1986, S. 545–561.
[17] Beng Huat Chua, „Asian Values“ discourse and the resurrection of the social, in: Positions: East Asian Culture Critiques 7(2), 1999, S. 573–592.
[18] Seok-Choon Lew/Woo-Young Choi/Hye Suk Wang, Confucian ethics and the spirit of capitalism in Korea: the significance of filial piety, in: Journal of East Asian Studies 11(1), 2011, S. 171–196.
[19] Kim Dae Jung, Is culture destiny? The myth of Asia’s anti-democratic values, in: Foreign Affairs 73(6), 1994, S. 189–194.