Heft 2/2019 - Illiberal!


„Du hast recht, aber ich sehe das anders!“

Ein E-Mail-Austausch zwischen Ana Teixeira Pinto und Roee Rosen – über die gegenwärtige Freiheit der Kunst, politische Antihaltungen und das Recht, sich zu verweigern

Ana Teixeira Pinto, Roee Rosen


Im Herbst 2018 waren der Künstler Roee Rosen und die Künstlerin Ana Teixeira Pinto eingeladen, jeweils einen Beitrag zur 6. Athen Biennale mit dem Titel „Anti“ zu leisten. Anfang September 2018 wurde bekannt, dass der Künstler Luke Turner die KuratorInnen gebeten hatte, einen anderen Künstler, Daniel Keller, von der Plattform auszuschließen. Er beschuldigte diesen, antisemitische Äußerungen auf Twitter verharmlost zu haben. Die KuratorInnen lehnten es ab, Keller auszuladen, und beteuerten in einem öffentlichen Statement, sie könnten keine eindeutigen Beweise für Kellers antisemitische Haltung finden. Als Ana Teixeira Pinto von der Kontroverse erfuhr, beschloss sie, ihre Zusage für den Nachdruck einer ihrer Texte, der zuvor in Texte zur Kunst erschienen war, im Rahmen der Biennale zurückzuziehen. Roee Rosen hingegen bestätigte seine Teilnahme. Der folgende Text ist die gekürzte Version eines Mail-Austauschs zwischen Teixeira Pinto und Rosen, in dem sie ihre Gedanken, Zweifel und Positionen zu der in den sozialen Medien entbrannten Debatte darlegen.

Sonntag, 4. November 2018, 11:07 Uhr
Liebe Ana,
es war gut, dass wir in Paris geredet haben. Ich fahre kommende Woche nach Athen, um meinen Vortrag zu halten, und unser Gespräch geht mir nicht aus dem Sinn. Ich habe mit Leuten gesprochen, die das Biennale-Team kennen, vor allem mit einigen KuratorInnen, mit denen ich bei der documenta 14 zusammengearbeitet habe, und eine von ihnen meinte, sie fände das alles übertrieben und Turners Brief „einfach geschmacklos“. Ich fühlte mich dazu verpflichtet, weil Luke Turner mir eine ziemlich aufgebrachte und aggressive Mail geschickt hatte (darüber stand zwar „Lieber Roee“, aber sie ging eindeutig an alle Beteiligten und sollte uns vor dem gefährlichen Antisemitismus warnen, den die Biennale angeblich verbreitet). Zuerst wollte ich ihm darauf antworten, um zumindest mein Verständnis für seine Reaktion auszudrücken, habe es dann aber doch nicht getan, jedenfalls bislang nicht.
Was die „neofaschistischen Sympathien“ angeht, so weiß ich, dass weder Poka-Yio noch Kostis Stafylakis [zwei der Biennale-Kuratoren] heimlich derartige politische Ansichten hegen. Sie arbeiten allerdings mit dem Konzept der Überidentifikation, das man natürlich auf den ersten Blick falsch verstehen kann. Es stimmt, dass sie damit provozieren und dass die möglichen Missdeutungen und Aneignungen erschreckend sein können. Ich muss aber auch zugeben, dass ich die zunehmende Verfestigung moralischer Positionen in der heutigen Kunstwelt leid bin. Für mich gefährdet dies nämlich die sehr kritische und freie Position, die der Kunst zukommen sollte (und damit meine ich auf keinen Fall, dass irgendwelche neofaschistischen Auswüchse entschuldigt werden sollten). Banu [Cennetoğlu] hat das in ihrer documenta-14-Arbeit sehr schön gesagt: „Being safe is scary.“ (Sicher zu sein, macht Angst.)
Ich habe auch ein paar Mails bekommen (und das noch vor der Eröffnung), die sich gegen die Oberflächlichkeit der „Anti“-Ausstellung aussprechen, aber den KuratorInnen fehlenden Anspruch vorzuwerfen, hat für mein eigenes Klärungsbedürfnis keine Relevanz.
Ganz liebe Grüße, Roee

Sonntag, 4. November 2018, 12:39 Uhr
Lieber Roee,
da ich keine der beteiligten Personen persönlich kenne, kann ich nicht beurteilen, ob sie aggressiv oder nervig sind, allerdings ist das auch nicht von Belang für den Inhalt der Diskussion, bei der es meiner Ansicht nach um folgende Frage geht: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem, was man Mikrofaschismus nennen könnte – zum Beispiel koordinierte Angriffe auf Positionen, die mit einer Antikorrektheitshaltung einhergehen –, und der aktuellen Zunahme rechtsextremer Doktrinen? Auch wenn ich nicht an einen direkten Zusammenhang glaube, können wir ihn nicht ganz ausschließen, denn es ist kein Zufall, dass beispielsweise „Social Justice Warrior“ eine Alt-Right-Beleidigung ist (und überleg doch mal, wie viel Misogynie und Homophobie in einem Begriff wie „meine Bitch“ zum Ausdruck kommt; ich muss dabei unweigerlich an Viktor Klemperer denken, der betont hat, dass sprachliche Gewalt der physischen Gewalt den Weg bereitet).
Was die von dir angeführte „Freiheit“ anbetrifft, so gehören pathetische Attitüden wie „wir prangern die Zensur an“ oder „wir stehen für künstlerische Freiheit“ in den Bereich der Moral und verneinen damit den wahren Kern der Politik, die immer kontextabhängig ist. Solche Appelle an die Freiheit im engeren Sinne können mit der Freiheit im weiteren Sinne kollidieren (und tun dies häufig auch). Jedenfalls glaube ich, dass die Idealisierung der „künstlerischen Freiheit“ zur politischen Unfreiheit beiträgt, weil sie ein toxisches und einschüchterndes Umfeld erzeugt. Noch wichtiger ist, dass die Wahrung von Werten wie „Meinungsfreiheit“ oder „künstlerische Freiheit“ eine Menge struktureller Gewalt beinhaltet – dazu man muss sich nur anschauen, wie diese Werte gegen Minderheiten eingesetzt werden – man denke nur an die Sache mit „Open Casket“ [ein umstrittenes Werk der Malerin Dana Schutz auf der Whitney Biennale 2017] oder die Kontroverse um die Mohammed-Karikaturen. Außerdem erscheinen immer diejenigen, die für eine Änderung des Status quo kämpfen, „aggressiv“ oder „aus dem Gleichgewicht geraten“; wer sich mit dem Status quo arrangiert, hat stets ein hohes Maß an institutioneller Unterstützung hinter sich, wirkt also immer besonnen. Die Entscheidung, meinen Beitrag zurückzuziehen, beruhte nicht auf dem Verdacht, bei den KuratorInnen könnte es sich um verkappte Nazis handeln. Ich möchte der jetzigen Debatte einfach keine weitere Ebene hinzufügen, weil meiner Meinung nach die Diskussion so, wie sie gerade geführt wird, das einfach nicht wert ist. Rückzug erschien mir daher als die beste Strategie.
Liebe Grüße, Ana

Sonntag, 4. November 2018, 14:59 Uhr
Liebe Ana,
nur um das noch einmal deutlich zu sagen: Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du diese Gedanken und Bedenken mit mir teilst, und kann mich bis zu einem gewissen Grad auch damit identifizieren. Mir ging es eher um die Frage, ob dies Grund genug ist, sich zurückzuziehen. Was Turner angeht, so kenne ich ihn auch nicht persönlich; mit „aggressiv“ meinte ich einfach nur die Tatsache, dass seine Mail einen Aufruf zum Handeln (im negativen Sinne) an alle beteiligten KünstlerInnen impliziert hat.
Über deinen Standpunkt zu Freiheit und Unfreiheit muss ich nachdenken. Ich glaube, man sollte unterscheiden zwischen Positionen, hinter denen ein marktbasierter Konsens und pluralistische Freizügigkeit stehen – wo alles auf betäubende Weise gleichgeschaltet wird und die Kunst als oppositionelle Praxis ihren Biss verliert –, und Positionen, die esoterisch daherkommen oder sich selbst als pathologisch präsentieren (wie etwa die Überidentifikation). Letztere bergen in der Tat das Risiko der Vernebelung oder Fehlinterpretation in sich, während jedoch Aspekte wie Marktwert, unternehmerisches Interesse oder die Bestätigung politischer Hegemonie keine Rolle zu spielen scheinen.
Herzlichst, Roee

Montag, 5. November 2018, 18:01 Uhr
Lieber Roee,
ich verstehe, worauf du hinauswillst, und im Prinzip stimme ich dir zu, aber im derzeitigen Kontext funktioniert die Überidentifikation als künstlerische Strategie nicht. Im Gegenteil, ich glaube, dass Überidentifikation, Mehrdeutigkeit und Zynismus für die extreme Rechte von Nutzen sind: Die libidinöse Beteiligung an kryptofaschistischen Themen verstärkt das, was sie zu reduzieren vorgeben, und das zu übersehen, hat in erster Linie mit einem unternehmerischen Reflex zu tun: Bestätigung und Überidentifikation sind Standardkonfigurationen der Bedeutungsproduktion in unserem Bereich, und es ist schlichtweg einfacher, auf seinem Standpunkt zu beharren, als die eigene Position zu überdenken. Wie die KuratorInnen selbst gesagt haben, herrscht hier Unstimmigkeit, was die Taktik anbelangt, und ich stimme mit der ihren nicht überein.
Liebe Grüße, Ana

Sonntag, 11. November 2018, 19:26 Uhr
Liebe Ana,
am wichtigsten erscheint mir die Auseinandersetzung mit zwei akuten Gefahren: auf der einen Seite das Vorhandensein kryptofaschistischer Tendenzen und Tropen, die von einer symbolischen oder verbalen Ambivalenz in tatsächliche Gewalt abrutschen können (das ist meiner Ansicht nach der grundsätzliche Vorwurf gegen die Athen Biennale); und auf der anderen das, was als extrem strenge bzw. als Strafmaßnahme wahrgenommen werden sollte: der Boykott (und Luke Turner hat es tatsächlich darauf abgesehen, diese Biennale zu „entlarven“). Dieser Aufruf zum Boykott, zu Sanktionen und Rückzug verschmilzt mit anderen neuen oder in Entstehung begriffenen Erfahrungen: das aggressive Wesen der sozialen Medien und deren entschiedenes Verlangen nach durchsetzungsfähigen, eindeutigen Positionen, gepaart mit der Forderung nach einer harten, schnellen und kategorischen Urteilsfindung.
Ich gebe zu, dass mich die Art und Weise, wie Turner den „Beweis“ seines Twitter-Austauschs gesammelt, archiviert und präsentiert hat, von Anfang an stutzig gemacht hat, wie er extreme Hassnachrichten mit zweideutigen Witzen, Anspielungen und anderen Posts zusammenwirft, die da nur hineinzupassen scheinen, wenn man bereits eine Verschwörung wittert. Was ich allerdings rein logisch gesehen noch bedenklicher finde, ist die Kettenreaktion, mit der ein Antisemitismusvorwurf zu einer ganzen Reihe anderer Vorwürfe geführt hat, die ich als Stellvertretervorwürfe bezeichnen würde: Eine junge, offenbar psychisch labile, aber ziemlich gemeine Künstlerin postet antisemitische Metaphorik, und die Person, die ihr Schützenhilfe leisten will, Keller, beteiligt sich an dieser antisemitischen Verschwörung, was dazu führt, dass die Ausstellung, die seine Arbeiten zeigt, sich ebenfalls der Verbreitung von Antisemitismus schuldig macht.
Gestern hatte ich eine lange Diskussion mit Kostis, einem der Kuratoren, der meinte, dass dieser Albtraum eine schon fast surreale Sinnumkehrung darstelle, da er nämlich einer der wenigen Menschen in Griechenland sei, die tatsächlich über die Gefahren des latenten und verdeckten Antisemitismus geschrieben haben. Er meinte auch, dass die KuratorInnen versucht hätten, mit Turner zu verhandeln, und ihm angeboten hätten, dass er für den Katalog einen Text über seine Position schreiben oder die Biennale eine Podiumsdiskussion zu dem Thema veranstalten könne, aber vergeblich: Er forderte den Rausschmiss eines anderen Künstlers, den er aufgrund eines Austauschs auf Twitter für antisemitisch hielt. So nervig Keller auch sein mag, er ist eindeutig nicht antisemitisch, und meiner Ansicht nach wäre es jedem und jeder vernünftigen KuratorIn unmöglich, dieser Forderung nachzukommen.
Was ich darüber hinaus beunruhigend finde, ist, dass selbst jemand, der so klug und intellektuell ist wie Sven Lütticken, die Athen Biennale nicht einfach nur verurteilt, sondern sehr entschieden mit beleidigenden Ausdrücken belegt („ekelerregend“, „sterbensdumm“). Ein pauschal gefälltes Urteil über eine politische Haltung geht über in einen bedenklichen Angriff auf eine kuratorisch-künstlerische Haltung, und zwar auf der Grundlage einer einseitigen Presseerklärung (und nicht etwa eines umfassenden Artikels, ganz zu schweigen von der Ausstellung selbst). Die griechischen KuratorInnen sind eindeutig NICHT der Feind, doch ihre Verurteilung war entschlossen und hässlich, so, wie es die sozialen Medien irgendwie zu fordern scheinen.
Ganz liebe Grüße, Roee

Dienstag, 13. November 2018, 12:34 Uhr
Lieber Roee,
ich sehe das anders. Ich glaube nicht, dass die KuratorInnen oder die beteiligten KünstlerInnen politisch mit irgendeiner rechtsextremen Bewegung sympathisieren – darum geht es hier nicht. Ich glaube allerdings, dass ihr beiläufiger Umgang mit Alt-Right-Themen und Tropen zur schleichenden Ausweitung der extremen Rechten beiträgt, und das hat enorme Konsequenzen. Ich habe unzählige Studierende kennengelernt, die anfällig waren für die Ideen von Nick Land – der in der Kunstwelt immer noch einen großen Namen hat – und sich dadurch auf sehr gefährliches Terrain begeben haben. Für junge, politisch wenig geschulte Menschen ist die verklausulierte Sprache weißer RassistInnen nicht so einfach zu verstehen – zum Beispiel das beiläufige Aufpoppen des Begriffs Rhodesien in Lands Blog. Und von dort wieder wegzukommen, ist eine große Herausforderung, wenn man nicht mit dem theoretischen Rüstzeug zur Entlarvung der – auf den ersten Blick einleuchtenden – Rhetorik ausgestattet ist. Aus diesem Grund ist es für mich auch irrelevant, ob sich die Beteiligten als links verstehen; meiner Ansicht nach leugnen sie den rassistischen Inhalt dieser Materialien durch die beharrliche Behauptung, man müsse sie als exzentrisch, provokant oder antinormativ verstehen: „florierende konträre Einstellungen“, wie es in ihrer Presseerklärung heißt. Ihr gesamtes Vokabular ist antipolitisch und obskurantisch und trieft vor weißem Nihilismus. Sie erwähnen „Kek […], eine Gottheit des Chaos“, und beschreiben „verschlagene Bösewichte“ und „ManipulatorInnen“ als „faszinierende Charaktere“. Sie nennen Steve Bannon einen „klassischen Reaktionär“, was ein ziemlicher Euphemismus ist. Sie verweisen auf Nick Land, Bitcoin, auf den Transhumanismus, aber der politische Inhalt dieser Theorien und Technologien bleibt bis auf die äußerst vage Formulierung „Einstellungen, die neue Alternativen erfordern“ undefiniert. Gleichzeitig veröffentlichte das KuratorInnenteam eine eigene aggressive Stellungnahme, in der sie Luke Turner vorwerfen, die Biennale zu verleumden. Für mich ist dies ein Spiel, das durch die Art und Weise ermöglicht wird, in der weiße Privilegien und weiße Unschuld sich gegenseitig in die Hände spielen – das heißt, man wird nie mit den politischen Folgen der fetischisierten „Theorien“ konfrontiert. Wird man doch einmal zur Rede gestellt, beruft man sich darauf, dass die Kritik aus reiner Böswilligkeit erfolgt.
Was deine Frage betrifft, was die KuratorInnen tun sollen, so würde ich mit einer Gegenfrage antworten: Warum sollte man überhaupt unvereinbare Positionen (wie meine) einladen? Ich sehe darin allein den zynischen Versuch, mit einer Kontroverse „Hof zu halten“ und dabei den göttlichen Schlichter zu spielen oder sich darauf zu berufen, „beide Seiten“ zu repräsentieren. Ich fühlte mich instrumentalisiert, und deshalb bereue ich es nicht, dass ich meinen Text zurückgezogen habe. Ich hoffe, du hast Verständnis dafür.
Liebe Grüße, Ana

Mittwoch, 14. November 2018, 9:34 Uhr
Liebe Ana,
natürlich kann ich deine Entscheidung nachvollziehen und finde sie auch legitim, ich habe damit kein Problem; ich wollte auf etwas anderes hinaus.
Ich fange einmal mit deiner letzten (rhetorischen?) Frage an: Warum haben die OrganisatorInnen jemanden wie Keller überhaupt eingeladen? Was das angeht, so kann ich mir, wenn wir Turners öffentlich gemachten Twitter-Austausch und die damit verbundene Forderung, Keller auszuladen, einmal beiseitelassen, gut vorstellen, dass sie Kellers Dokumentarfilm über den Plan der Seasteaders für relevant hielten. Deshalb kommt es mir NICHT unmöglich oder total falsch vor, ihn „überhaupt einzuladen“, selbst wenn man seine Arbeiten nicht mag oder nicht damit einverstanden ist. Ich täte mir schwer damit, eine internationale Ausstellung zu nennen, wo ich mit allen einer Meinung war oder alle mochte, was ich im Übrigen gar nicht wünschenswert finde. Nachdem das beantwortet wäre, zurück zu der Forderung, die Arbeit auszuschließen, die ich für absolut falsch halte und für deren Ablehnung die KuratorInnen angefeindet wurden.
Zu der Anfeindung und ihrer Logik: Auf der Webseite von Turner finden sich tatsächlich haarsträubende Beispiele eines aggressiven Antisemitismus. Dieser Brief ging aber nicht gegen eine antisemitische Organisation oder gar eine antisemitische Person – es war ein aggressiver Aufruf zum Boykott einer Gruppenausstellung in Athen, in dem diese nicht nur als Feind dargestellt wurde, sondern als schlimmster Feind, einen, mit dem man nicht einmal verhandeln will. Ich versuche, mich in seine Lage zu versetzen: Ich würde mich fühlen wie ein Kreuzritter – aber was genau ist der Zweck dieses Kreuzzugs? Gegen wen richtet sich dieser heilige Kreuzzug?
Mir war auch daran gelegen, in Bezug auf die öffentliche Reaktion zur Selbstreflexion aufzurufen. Du sprichst von „Obskurantismus“, aber wenn es darum geht, politische und symbolische Waffen korrekt anzuwenden, frage ich mich: Zielt dies wirklich auf eine der gefährlichen Organisationen oder Individuen in unserer Mitte ab? Und wie gemäßigt ist die Reaktion? Ich finde die öffentliche Verurteilung auf ganz andere Art obskurantisch, nämlich weil sie vollkommen unterschiedliche Phänomene in einen Topf wirft. Wenn man Menschen, die nicht antisemitisch sind, öffentlich und symbolisch anprangert, bekämpft man den Antisemitismus kein bisschen; das tut ihm überhaupt nicht weh. Du schreibst von verwirrten Studierenden, die sich auf gefährliches Terrain begeben. Als Lehrer muss ich darüber noch einmal ernsthaft nachdenken (bislang habe ich immer angenommen, es sei besser, die Studierenden der Konfrontation mit dem, was sie draußen erwartet, auszusetzen; aber vielleicht ist das Thema doch komplexer). Wie auch immer, in meinen Augen ist diese Art der brutalen Negierung anderer, die sich noch dazu stellvertretend auf einen obskuren Vorwurf stützt, gefährlich und verwirrend.
Vor Kurzem erschien in der ZEIT ein Essay von Eva Illouz mit dem Titel „Es ist Krieg“. Anlass war der erste Jahrestag von #MeToo. In ihrer Begeisterung für die wichtige Bewegung, die sie in der Tat ist, ruft die Autorin zur nächsten Phase auf. In dieser wird man reflektiert unterscheiden müssen zwischen kriminellen und verletzenden Fällen, als ein Mittel, um strafende Reaktionen ins Verhältnis zu den jeweiligen Straftaten zu setzen, und Fällen, in denen Vergebung unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. Diese Art von Sensibilität ist für mich entscheidend und sollte auch bei dem Anwendung finden, was wir hier diskutieren.
Ganz liebe Grüße, Roee

Mittwoch, 14. November 2018, 12:30 Uhr
Lieber Roee,
was deine Bemerkung angeht, dass sie „nicht der Feind“ seien, erlaube mir bitte, das anders zu sehen: Das Problem von Rassismus, Antisemitismus und weißer Überlegenheit ließe sich leicht in den Griff kriegen, wenn es auf die richtigen Neonazis beschränkt wäre – also die, bei denen es „sichere Beweise“ gibt. Davon gibt es nicht so viele, und doch ist die extreme Rechte in der halben Welt an der Macht! Das liegt daran, dass ihr Bezugsrahmen sehr vielen Leuten „normal“ oder vernünftig erscheint, auch Leuten, die von sich behaupten, eigentlich links zu sein und die in traditionell liberalen oder linken Institutionen arbeiten. Deshalb halte ich den Kontext für wichtig. Derzeit spielen nämlich alle, die Trolle als Verfechter der Meinungsfreiheit und rechtsextreme Ikonografie als ästhetische Avantgarde feiern oder zweideutig über rassistische Inhalte reden, dem Feind in die Hände.
Was das Verschmelzen von „echtem Antisemitismus“ mit „Trollen“ betrifft, so tue ich das nicht, ich kenne den Unterschied, ich kann dir aber auch gleich sagen, dass das online völlig unerheblich ist! Das hat Trumps Wahl gezeigt. Schau dir doch diesen Fall neulich in Frankreich mit der Ligue du LOL an [dieses Beispiel wurde im Nachhinein ergänzt, Anm.]. Die renommierten Journalisten, die daran beteiligt waren – und die im Übrigen fast alle für linke Publikationen schreiben –, beteuerten sofort, selbst nie Verleumdungen verfasst zu haben, mussten sie ja offensichtlich auch nicht: Sie hatten das Milieu geschaffen, das anderen, weniger umsichtigen Personen signalisierte, dass die Jagd auf Frauen und Minderheiten freigegeben war – wodurch ein Umfeld kreiert wurde, das allen außer ihrer eigenen Gang feindlich gesinnt war.
Was #MeToo angeht, so sehe ich das anders als Illouz, für mich ging es bei der Bewegung genau darum, auf den fließenden Übergang zwischen verletzender und krimineller Belästigung aufmerksam zu machen; darauf, dass Verbrechen daraus resultieren, dass Verletzungen zur Norm werden. Die Tatsache, dass die KuratorInnen mit ihrer Art des ästhetischen Engagements das Problem nicht begreifen, ist für mich wirklich entmutigend. Mittlerweile wurde über die ästhetischen Strategien von Alt-Right sehr viel geschrieben, doch anstatt sie politisch zu hinterfragen, tragen die KuratorInnen dazu bei, dass diese Bewegung (und das damit einhergehende Anlageportfolio) der westlichen Mittelschicht als exzentrisch, disruptiv und Tabubruch verkauft wird. Obschon unwissentlich dient dies der Normalisierung einer Affektstruktur, die mit einem rechtsextremen Projekt verbunden ist. Und letztendlich trägt es, wenn auch nur ein winziges bisschen, zu dem eiternden Haufen aus sadistischer Politik bei, in dem wir knietief stecken!
Deine Frage, ob der Backlash verhältnismäßig ist oder übertrieben, kann ich nicht beantworten und glaube auch gar nicht, dass eine Antwort im Vorhinein möglich ist. Das hängt ganz davon ab, wie die Diskussion ausgeht, hoffentlich mit einem besseren Verständnis der Online-Dynamik und der Verflechtung von Ästhetik und Politik. Auf jeden Fall glaube ich nicht, dass eine Kunstausstellung etwas ist, das um jeden Preis geschützt werden sollte. „Kultur“ wird uns nicht vor dem anhaltenden faschistischen Ansturm bewahren, eher im Gegenteil: „Kultur“ ist der privilegierte Ort für die Entstehung neuer Formen der Barbarei.
Herzlichst, Ana

Mittwoch, 14. November 2018, 15:32 Uhr
Liebe Ana,
in vielem, was du sagst, stimme ich dir zu. Aber nachdem ich den „Anti“-Text gelesen habe, habe ich den Eindruck, dass die KuratorInnen sich GAR NICHT mit der Art des Engagements identifizieren, das sie auflisten – sondern lediglich auf „Anti“-Einstellungen (im Sinne von „gegen“ oder antinormativ) verweisen, so wie sie sich gegenwärtig in allen möglichen Standpunkten manifestieren. Einige fallen laut ihrer Beschreibung in sich zusammen, andere sehen sie an der Macht, obwohl sie an einer „Anti“-Rhetorik festhalten, wieder andere beschreiben sie als unangemessen, reaktionär, „finster“ etc. Ich schätze, es ist die Art und Weise, wie sie das Thema eingebettet haben, die leicht zu Verwirrung führt und als „Verdunklung“ bezeichnet werden könnte.
Nur um den Kontext der „Feind oder nicht“-Problematik klarzustellen: Ich wollte damit nicht sagen, dass sie wohlwollende Rechtsextreme (im Gegensatz zu unverhohlenen Nazis) sind, sondern dass sie zur Linken gehören. Sie haben mehr mit dem vor Kurzem gelynchten griechischen Schwulenaktivisten und Künstler Zak Kostopolous zu tun (und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich in der Zusammenarbeit und der Zugehörigkeit zur gleichen Gruppe) als mit der Rechten. Du kannst ihnen vielleicht vorwerfen, dass ihre Entscheidungen und Strategien den falschen Leuten dienen, riskant sind oder verschleiernd wirken, aber sie als rechts oder zur Mitte gehörig darzustellen, erscheint mir sowohl unfair als auch falsch.
Viele Grüße, Roee

 

Übersetzt von Anja Schulte, Gaby Gehlen

 

Offener Brief von Luke Turner (mit Links zum erwähnten Twitter-Austausch):
http://luketurner.com/athens-biennale-2018-withdrawal/
Antwortbrief der Athen-Biennale:
http://athensbiennale.org/en/news/a-statement-from-the-athens-biennale-regarding-the-keller-turner-issue/
Artikel von Shut Down LD50 (SDLD50) gegen die Athen-Biennale:
http://www.metamute.org/community/your-posts/biennial-very-fine-people-both-sides
Sven Lütticken gegen die Athen-Biennale:
https://svenlutticken.org/2018/09/15/cultural-marxism-and-ironic-fascism/
Zweiter, detaillierterer Antwortbrief der Biennale-KuratorInnen:
http://athensbiennale.org/en/uncategorized-en/defamation-and-false-information-an-answer-to-luke-turners-open-letter/
Homepage der Athen-Biennale: https://anti.athensbiennale.org/en
Eva Illouz, Es ist Krieg, in: DIE ZEIT, Nr. 42/2018, 11. Oktober 2018, https://www.zeit.de/2018/42/metoo-bewegung-jahrestag-bilanz.