Heft 1/2020 - Artscribe


Na Rajone/Jenseits des Zentrums

15. Oktober 2019 bis 30. Oktober 2019
Diverse Ausstellungsorte / Moskau

Text: Christa Benzer


Moskau. Die Analogien sind unübersehbar: Um die sogenannten „Schlafviertel“ zu beleben, also jene Bezirke, in die die BewohnerInnen nur fahren, um dort zu schlafen, wurde in den 1930er-Jahren ein Netz städtischer Kinos etabliert. Sie hatten Namen wie „Praga“, „Kirigizia“, „Patriot“ oder „Orbita“ und sollten die kulturelle Infrastruktur stärken. 2014 wurden 39 der wenigen noch verbliebenen Kinos verkauft. Für 13 jener ehemaligen Lichtspieltheater, die sich nicht in Shoppingmalls umwandeln ließen, hat ein engagiertes Team unter dem Namen „Moskino“ einen kulturellen Entwicklungsplan konzipiert.
Mit seinem Projekt Na Rajone/Jenseits des Zentrums hat Simon Mraz, Leiter des österreichischen Kulturforums in Moskau, Ähnliches im Sinn. Kein Wunder also, dass beides, sowohl die Geschichte dieser Kinos als auch ein heutiges „Moskino“ darin eine Rolle spielen.
Wohl wissend, dass in Moskau die KünstlerInnen nicht in Kreml-Nähe zu finden sind, hat er im Herbst 2019 an den Rändern zahlreiche kollaborative Initiativen gestartet: unter anderem in Nowo Molokowo, einem bei Stau mehrere Autostunden entfernten Mikrobezirk, den der Investor Dmitri Aksjonow, Besitzer der Viennacontemporary, errichten ließ. In einer Art Pavillon wird auf der Fläche von einer in Moskau üblichen Ein-Zimmer-Wohnung, einer Odnuschka, Programm gemacht: Sie ist Ausstellungsraum, Versammlungsort und Unterkunft von Artists-in-Residency, die sich – wie die ironisch-kritischen Vorschläge für die Unterbringung von Eltern, Kind(ern), Großmutter und Hund von Elena Kolesnikova zeigen – auch immer mit diesem Ort befassen. Auf das Fehlen von Stauraum in diesen keineswegs günstigen Wohnungen im Niemandsland wurde außerdem im Rahmen eines Kunst-im-öffentlichen-Raum-Wettbewerbs hingewiesen: Die russische ZIP Group hat einen Turm vorgesehen, in den die BewohnerInnen Dinge auslagern können. Auf Basis einer öffentlichen Abstimmung wird nun von sechs Entwürfen das Projekt des Österreichers Jakob Jascha Schieche realisiert: Eigentlich war sein überdimensionales Blütenblatt völlig unscheinbar – als Siegerprojekt erzählt es aber auch davon, dass die BewohnerInnen von Nowo Molokowo das Abhängen auf einem Blütenblatt einer pragmatischen Lösung für ihre Stauprobleme vorziehen.
Mehr Poesie weniger Politik war insgesamt freilich nicht das Credo: Am ersten Tag wurde in Anwesenheit von Kirill Serebrennikow, dem wegen angeblicher Veruntreuung von Fördergeldern unter Hausarrest gestellten Leiter des Gogol Center, die Malereiausstellung von Pasmur Rachuiko eröffnet. Dieser lebt von Beeren und Schnecken im Wald und bringt auf seinen weniger politischen als traurig-verrätselten Bildern Szenen aus dem russischen Alltag mit Burkaträgerinnen, dem Kreml, Waffen und seltsamen Fabelwesen zusammen.
Allerdings: Die Zivilgesellschaft in Moskau ist aktiver denn je, weiß Marat Guelman. Der heute in Montenegro lebende ehemalige Galerist und Museumsleiter hat in dem privaten Art4-Museum eine Ausstellung mit Pussy Riot, der Voina art Group und Petr Pawlensky kuratiert. Neben der Dokumentation bekannterer Kunstaktionen stellt eine Animation von Scherenschnitten ein Verhörprotokoll von Pawlensky nach: Er hatte gegenüber seinem Ermittler so überzeugend argumentiert, dass dieser danach seinen Job quittierte.
Weder die Ausstellung noch die Pressekonferenz zu dem im Bau befindlichen Millionenprojekt der VAC-Foundation war Teil von Na Rajone. Die immensen Gräben zwischen dem hochfinanzierten, international orientierten Kunstort und den lokalen Kunstinitiativen wurde dafür sehr gut vor Augen geführt.
Die Moskauer Szene, das haben die beiden Kuratorinnen Kristina Pestova und Anna Koszlovskaya auch in Form eines Fragebogens im Rahmen ihrer Ausstellung In Situ eruiert, ist viel weiter draußen, etwa rund um die CCI Fabrika angesiedelt. In dieser sind auch die AtelierstipendiatInnen des Bundeskanzleramts untergebracht, die für die Ausstellung In Situ die Gegend erkundeten: Vasilena Gankovska hat mit Zeichnungen die Geschichte, spätmodernistische Architektur und Gegenwart besagter Kinos dokumentiert, Anna Tagantseva-Kobzeva ihr Atelier vorübergehend in eine Shoppingmall verlegt und Hannes Zebedin wollte eigentlich ein zwölf Meter hohes Modell des Schuchow-Radioturms neben einem genauso hohen Chruschtschowka-Wohnbau realisieren. Das ging erwartungsgemäß nicht, bleibt aber auch als präsentiertes Modell ein kritischer Verweis auf die Pläne der Stadt: Diese will die weit charmanteren, weil niedrigeren und nach 1990 größtenteils ins Eigentum der BewohnerInnen übergangenen Wohnbauten durch neue, höhere Häuser ersetzen.
Auf solche spezifischen Fehlentwicklungen (unter anderem auch die fatale Strafentschärfung bei häuslicher Gewalt, deren zugegeben fast unmögliche künstlerische Aufarbeitung Michèle Pagel nicht wirklich gelang) wurde im Laufe des Projekts immer wieder verwiesen, und dabei auf Partizipation und Kollaborationen gesetzt: mit der russischen Aktivistin Alena Popova, die sich gegen häusliche Gewalt einsetzt, mit VertreterInnen der LGBTQI-Community, aber auch mit dem Wien Museum und dem Filmmuseum Wien. Die Präsentation der Foto- und Videoserie Wo Dinge wohnen von Klaus Pichler führte etwa in eine riesige Lagerhalle, in der ein ehemaliger Elektrotechniker Uniformen, ausrangierte Computer, Gasmasken bis hin zu Stalinbüsten versammelt. Pichler geht es in der Arbeit, die 2017 im Wien Museum zu sehen war, um eine Phänomenologie angemieteter Lagerhallen – der überbordende Friedhof materieller Überbleibsel der Sowjetära zog davon freilich viel Aufmerksamkeit ab.
Einen ähnlich disparaten, aber doch fokussierten Rückblick gewährt das Projekt mit dem Filmmuseum: Ausgangspunkt war eine Initiative unter der Leitung des kürzlich verstorbenen Gustav Deutsch und von Hanna Schimek. In Anlehnung an ihr Projekt, für das diese ab 2017 private Laufbilder über die Ränder Wiens sammelten, haben Ksenia Gapchenko und Margarita Zakharova unter dem Titel I am Moscow ebenfalls privates Filmmaterial gesammelt und neu montiert: Zu sehen sind Aufnahmen von Familienfesten, Straßenszenen, aber auch Amateuraufnahmen des brennenden Weißen Regierungsgebäudes, das Jelzin-treue Streitkräfte während der Verfassungskrise 1993 beschossen haben.
Präsentiert wurde eine erste Fassung des sehenswerten Porträts in einem der wiederbelebten „Moskinos“ – ein spannender Ort „jenseits des Zentrums“, wo weder die Aufarbeitung der sowjetischen (Alltags-)Geschichte noch die Einladung zu kultureller Beteiligung verschlafen wird.