Heft 2/2020 - Lektüre



Mark J. Sedgwick:

Gegen die moderne Welt

Die geheime Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts Übersetzung: Nadine Miller

Berlin (Matthes & Seitz) 2019 , S. 77 , EUR 38

Text: Peter Kunitzky


Die Situation ist ernst, keine Frage. Denn unsere politischen Systeme drohen gerade mächtig zu erodieren, womit ihre freiheitliche Verfasstheit, wie ein Francis Fukuyama noch zu Beginn der 1990er-Jahre dachte, längst nicht mehr als absolut unerschütterlich gelten darf. Und bei dieser prekären Lage der Dinge ist es dem Verlag Matthes & Seitz schlichtweg als Verdienst anzurechnen, mit Gegen die moderne Welt ein Buch auf den Markt gebracht zu haben, das dem nunmehr stramm rechten Zeitgeist einen historischen Spiegel vorzuhalten verspricht. Denn vor ziemlich genau 100 Jahren waren die Umstände durchaus vergleichbare, als auf eine den bedingungslosen Fortschritt favorisierende Epoche, natürlich ausgelöst durch die verheerende Zäsur des Ersten Weltkriegs, ein wesentlich dunkleres Zeitalter folgte, das bisweilen sogar seinen eigenen Untergang herbeiphilosophierte (Oswald Spengler). Und jenem von Pessimismus durchtränkten geistigen Nährboden entwuchs damals auch der sogenannte Traditionalismus, dessen geradezu rhizomatischer Ausfaltung und Verästelung in Raum und Zeit mit dieser monografischen Studie nun erstmals in großer Ausführlichkeit nachgespürt wird.
Wobei eines gleich vorweg festgehalten werden sollte: Wenn der Untertitel des Buchs insinuiert, dass der Traditionalismus dem 20. Jahrhundert die geheime Geistesgeschichte schlechthin beschert hätte, dann dürfte dessen Bedeutung doch einigermaßen überschätzt werden. Denn der Traditionalismus trat eigentlich so gut wie immer nur als Marginalität oder, wenn er doch politisch durchschlug, als Extremität hervor. Und auch der Begriff der Bewegung, den der Autor, der britische Historiker Mark Sedgwick, dabei ins Spiel bringt, scheint mit dem Traditionalismus nur leidlich zu konvenieren, weil seine ProponentInnen sich zu keiner Zeit zu einer verschworenen Gemeinschaft gefügt haben, die irgendeine Art der Organisation aufgewiesen hätte. Stattdessen handelt es sich beim Traditionalismus rein um die Geistesverwandtschaft eines lockeren Verbunds von Einzelpersonen oder Gruppen, die zuvorderst ihre kollektive Bezugnahme auf ihren Meister eint: René Guénon (1886–1951), französischer Metaphysiker und Schriftsteller, der in den 1920er-Jahren aus allerlei philosophischen Versatzstücken – darunter etwa dem Perennialismus, der von einer alle Religionen und Philosophien in sich begreifenden Urweisheit bzw. -tradition ausgeht – eine, wie Sedgwick selbst bekennt, nicht sehr originelle Synthese destillierte, die einem absolut bedingungslosen Antimodernismus galt. Guénon, der zuerst in okkultistischen und freimaurerischen Zirkeln verkehrte, bevor er sich – in dieser Reihenfolge – dem Taoismus, dem Hinduismus und dem Sufismus zuwandte und damit in religiösen Fragen eine wirklich erstaunliche Versatilität bewies, war nämlich zu der Überzeugung gelangt, dass seine dem Materialismus anheimgefallene und daher geistig vollkommen korrumpierte Epoche, wollte sie nicht dem Untergang geweiht sein, für ihre spirituelle Heilung die Weisheit des Orients zurate ziehen müsse.
Und obwohl das letztlich nicht viel anderes als einen ins Positive gewendeten Orientalismus, das heißt also eine reine Projektion vorstellt, entwickelte dies esoterische Potpourri einiges an Anziehungskraft auf die SinnsucherInnen, SektiererInnen und vielleicht auch ScharlatanInnen dieser Welt, zumal in ihrer westlichen Hemisphäre: zum Beispiel auf den Schweizer Religionsphilosophen Frithjof Schuon (1907–98), Gründer des wohl bedeutendsten traditionalistischen Sufiordens, den mehrere Marienerscheinungen (mutmaßlich sogar im Evakostüm!) aber auch dazu veranlassten, seinen Traditionalismus mit christlichen Elementen zu versetzen und ihm ein ästhetisches Gepräge zu geben, und der gegen Ende seines Lebens immer mehr die Züge eines Gurus annahm, was ihm samt seinem Nacktheitskult schließlich auch eine Anklage wegen Kindesmissbrauchs eintrug; oder auf Mircea Eliade (1907–86), den Spiritus Rector der Religionsphänomenologie, der vor dem Zweiten Weltkrieg in seiner Heimat Rumänien mit der faschistischen Eisernen Garde sympathisierte, während er in den 1960er- und 1970er-Jahren die Religionswissenschaften zu revolutionieren half, indem er ihren hauptsächlich christlichen oder materialistischen Ansatz für obsolet erklärte und durch eine Betonung der überzeitlichen und universalen Bedeutung religiöser Phänomene ersetzte – worin sich letztlich die traditionalistische Suche nach den perennierenden Konstanten spiritueller Ordnungen ausspricht; oder auf Baron Julius Evola (1898–1974), zuerst Dadaist, dann Okkultist, noch später, nachdem er Guénon mit Nietzsche und Bachofen amalgamiert und den Sündenfall des Abendlands in der Trennung zwischen Priester- und Kriegerkaste ausgemacht hatte, ein Mystiker der reinen Tat, die das „absolute Individuum“ wiederherstellen sollte: ein Weg, der freilich nicht nur in den Faschismus, dem sich Evola auch bereitwillig andiente, sondern auch in den Neofaschismus und Rechtsterrorismus der 1960er- bis 1980er-Jahre führte, dessen ProtagonistInnen wiederum reihenweise zu ihrem greisen „Meister“ pilgerten.
Wie diese beinahe beliebige Aufzählung vielleicht schon erahnen lässt, erschöpft sich Sedgwicks ebenso umfängliche wie detailreiche Studie in der Hauptsache in ziemlich trockenen biografischen Nacherzählungen, deren heimlicher Zweck vermutlich in der Kanonisierung der traditionalistischen ProponentInnen besteht, denen der Autor doch merkliche Sympathien entgegenbringt. Und sie lässt damit leider auch ein wenig das vermissen, was man von einer Geistesgeschichte eigentlich in erster Linie erwarten würde – Esprit.