Heft 4/2020 - Lektüre



Eugene Thacker:

Im Staub dieses Planeten

Horror der Philosophie

Berlin (Matthes & Seitz) 2020 , S. 75 , EUR 24

Text: Peter Kunitzky


Wer sich heute im Zusammenhang der Klimafrage kritisch geben möchte, kommt um den Begriff des Anthropozäns kaum noch herum. Wie ungebräuchlich dieser bis vor Kurzem noch war, merkt man jedoch alleine an der Tatsache, dass er in diesem Buch kein einziges Mal Erwähnung findet. Ein Buch, das 2011 im Original erschien, aber erst jetzt – als erster Teil einer Horror der Philosophie betitelten Trilogie – ins Deutsche übertragen wurde; und ein Buch, in dem das Anthropozän, wenn auch nicht beim Namen genannt, prompt auf der ersten Seite in all seiner Horribilität ausbuchstabiert wird. Dort ist eindringlich von „planetaren Katastrophen, [...] seltsamen Wetterphänomenen, ölgetränkten Meereslandschaften“ die Rede; und, geradezu prophetisch, gleich auch von „aufkommenden Pandemien“, die sogar das Ende der Menschheit heraufbeschwören – wobei das augenblicklich die ganze Welt plagende Corona-Virus zwar zoonotisch vom Tierreich auf den Menschen übergesprungen sein dürfte, jedoch laut der Theorie eines amerikanischen Möchtegernautokraten auch in einem chinesischen Geheimlabor gezüchtet worden sein könnte. Letzteres ist eine reine Insinuation, die uns in ihrer absoluten Unbegründetheit sogleich auf das Schönste, das heißt: eigentlich Schrecklichste die Ausgangsthese dieses Buchs zu illustrieren vermag.
Nach Ansicht von Eugene Thacker, Philosoph und Professor für Medienwissenschaften an der New Yorker New School, sind wir nämlich kaum noch in der Lage, „die Welt, in der wir leben und deren Teil wir sind, zu begreifen“. Weil diese Welt, die wir uns in unserer Hybris (oder alternativ: im göttlichen Auftrag) untertan machen, also ganz für unsere menschlichen Zwecke zurichten wollten, zusehends etwas Widerständiges offenbart, sich gegen unseren fortdauernden Übergriff zur Wehr setzt. Vorzugsweise geschieht dies in Form von verheerenden Umweltkatastrophen, hinter denen ja nicht selten der schleichende Klimawandel waltet. Angesichts dessen persistierender Irreversibilität geht dem Menschen nun allmählich auf, dass auf dieser Welt abseits der menschlichen Sphäre noch etwas anderes sein existenzielles Recht nachdrücklich einfordert, etwas, das sich der menschlichen Kontrolle vollkommen entzieht und sich den menschlichen Interessen gegenüber absolut gleichgültig verhält.
Nun ist es natürlich so, dass man sich der Ausgesetztheit der menschlichen Existenz schon immer bewusst war, ihre Abgründigkeit aber stets durch kulturelle Auffangnetze zu sichern wusste. Dies geschah namentlich dadurch, dass man sich höheren Mächten anempfahl, denen man ein zumindest plausibles, manches Mal sogar tröstliches Narrativ zuschrieb: In der griechischen Antike erfüllten beispielsweise die homerischen Götter, die freilich nur allzu menschlichen Leidenschaften gehorchten, diese Rolle, während im christlichen Abendland ein persönlicher Gott, eine väterliche Figur, die mal gütig, mal strafend auftrat, einen unverbrüchlichen Heilsplan verfolgte. Aber nach dem Tod Gottes und angesichts des sich abzeichnenden Scheiterns des modernen Großprojekts, die metaphysische Unbehaustheit des Menschen durch seine Selbstvergottung vergessen zu machen, steht dieser dem von irgendwo da draußen, das heißt von der nicht menschlichen Welt herdrängenden Grauen ebenso verständnis- wie schutzlos gegenüber.
Doch zumindest hinsichtlich der Verständnislosigkeit weiß Thacker Abhilfe, indem er, auf Kant Bezug nehmend, eine neue Terminologie vorschlägt, die zwischen der Welt-für-uns, einer von uns bewohnten und mit Sinn und Bedeutung erfüllten Sphäre (kurz: Welt), und der für uns unzugänglichen Welt-an-sich (kurz: Erde) unterscheidet. Die Erde erscheint in dieser Form jedoch als paradoxe Konstruktion, weil sie sich, sobald wir Wissen über sie anhäufen und instrumentell auf sie einwirken, sofort wieder zur Welt wandelt. In diesem Dilemma verfällt Thacker auf die Idee, aus den Schatten der Welt-für-uns und der Welt-an-sich eine Welt-ohne-uns (kurz: Planet) erstehen zu lassen: ein Planet, von dem, wie der Begriff bereits andeutet, der Mensch gänzlich verschwunden ist und der für das steht, was sich als Erde nicht vollständig offenbart, sich also nicht anthropomorphisieren lässt. Es ist dies gleichsam der dunkle, von der Welt aus nicht einsehbare Rest. Doch wie ließe sich dann darüber denken? Nun, natürlich über Analogien, weswegen Thacker flugs den Weg über den Genrehorror wählt, weil der sich seit jeher mit dem Unbekannten auseinandergesetzt und dem Undenkbaren eine Bühne geboten hat. Und so beobachten wir den Autor dabei, wie er anhand von der Scholastik entlehnten Diskussionsformaten – wer eine geistige Terra incognita befährt, überantwortet sich am besten einer strengen Systematik – etwa Black Metal in eine satanistische, eine schwarzmagische und eine nihilistische Richtung auseinanderdividiert, eine Ontologie des Dämonischen entwirft und anhand der im 19. Jahrhundert recht populären okkulten Detektivgeschichte einen neuartigen Konnex zwischen der Wissenschaft und der Hexerei herstellt. Oder wie er in diversen Science-Fiction- und Horrorproduktionen mit Dünsten, Absonderungen, Schleim etc. ein ganzes Bestiarium an unmöglichen Lebensformen ausmacht, die, aus der verborgenen, nicht menschlichen Welt kommend, in die Welt-für-uns einsickern. Oder wie er schließlich, auf den Spuren eines Keiji Nishitani wandelnd, einer Wiederaufnahme der Dunkelheitsmystik das Wort redet, die einem – im Gegensatz zur Lichtmystik, die eine Vereinigung mit einem anthropomorphisierten Gott anstrebt – den Weg in das absolute Nichts weist, wo sich Ich und Welt-an-sich endlich vermählen können, weil sie dort unterschiedslos eingeebnet sind. Worin aber für jene, die noch etwas an ihrem Ich hängen, dann doch der wahre Horror liegen könnte.