Heft 4/2020 - Lektüre



Sebastian Mühl:

Utopien der Gegenwartskunst

Geschichte und Kritik des utopischen Denkens in der Kunst nach 1989

Bielefeld (transcript Verlag) 2020 , S. 73 , EUR 29

Text: Christoph Chwatal


Utopien der Gegenwartskunst nähert sich dem Verhältnis von Utopie, Politik und Kunst nach 1989 aus einer dezidiert postutopischen Perspektive. Demnach, so argumentiert der Kunstwissenschaftler und Künstler Sebastian Mühl, arbeite sich die Kunst der Gegenwart kritisch-reflexiv an den Projekten der Moderne und der Avantgarde ab und befrage deren soziale, politische als auch künstlerische Utopien. Aus dieser Befragung heraus entwickelt sie neue Futuritäten, die sich erheblich von den großen Erzählungen und Utopien der Moderne und den gescheiterten Zukunftsentwürfen und sozialrevolutionären Bestreben der Avantgarde unterscheiden. Die universellen Utopien der Moderne, die auf eine Einheit und einen transhistorischen Ort hinauslaufen, sind in der postsozialistischen und postkolonialen Gegenwart dem Lokalen, Partikularen und den „konkreten Utopien“ (Ernst Bloch) gewichen.
Mit Jacques Rancière, der so weit geht, der Utopie den Charakter einer Fiktion zuzuweisen, argumentiert Mühl gegen ein utopisches Denken, denn dieses „verstelle den Blick auf die emanzipatorische Praxis selbst – das eigentliche Projekt radikaler Demokratie“. So stehen hier weniger KünstlerInnen im Vordergrund, die sich nostalgisch und aus der Distanz mit dem Topos der Utopie beschäftigen. Vielmehr werden jene Positionen und ästhetisch-politischen Praktiken hervorgehoben, die reflexiv und auf konkret-konstruktive Weise (post-)utopische Potenziale der Gegenwart entwickeln bzw. gestalten und sich eben nicht durch eine fiktive Positionierung außerhalb, sondern durch eine immanente Kritik – eine Kritik innerhalb der Institutionen und Strukturen der Gegenwart – auszeichnen. Hier zeigt sich auch, dass sich die Kunst der Gegenwart zunehmend der politischen (und weniger bloß der ästhetischen) Utopien des 20. Jahrhundert annimmt.
Der Autor geht dabei systematisch-historisch vor und bietet zugleich normative Kriterien an, denn, so Mühl: „Die avancierten Stränge der Gegenwartskunst sind postutopisch oder sollten es sein.“ Mühls These, dass sich die Kunst nach 1989 über die Kritik an der Moderne dennoch deren „emanzipatorischen und aufklärerischen Impulsen“ nähert, wird durch das Buch hinweg konsequent verfolgt. Wie die Kunst der Gegenwart an zentralen Aspekten der ästhetischen Moderne festhält, „indem sie deren problematische Züge kritisiert“, beleuchtet der Autor in drei Sektionen aus unterschiedlichen Blickwinkeln: von (1) künstlerischen Historiografien (als Kritik an der Gegenwart über deren Verhältnis zur Vergangenheit), Formen der Aneignung und Kritik moderner Formensprachen in Kunst, Architektur und Design, über (2) die konvivialen Mikroutopien der Bourriaud’schen relationalen Ästhetik, bis hin zu (3) institutionskritischen Praktiken der jüngeren Gegenwart, künstlerischen Formen von Aktivismus, Praktiken der Versammlung sowie Ausprägungen von Realismus in der Gegenwartskunst.
Die Auswahl der im Buch besprochenen KünstlerInnen und Kollektive (beispielsweise Tacita Dean, Florian Pumhösl, Anri Sala und Edi Rama, Liam Gillick, Rirkrit Tiravanija oder Ilya und Emilia Kabakow) orientiert sich deutlich an der Ausstellung Utopia Station, die im Rahmen der 50. Venedig Biennale (2003) von der Kunsthistorikerin Molly Nesbit, dem Kurator Hans Ulrich Obrist und dem Künstler Rirkrit Tiravanija kuratiert wurde. Als prononcierter Ausgangspunkt und Material des Buchs kann Utopia Station in der Tat als ein wichtiges (und viel kritisiertes) Beispiel eines „curatorial utopianism“ (T. J. Demos) gesehen werden, das komplexe Zeitlichkeiten und kollaborative, prozessorientierte sowie forschungs- und experimentbasierte Ausstellungsformate bündelt.
Wenngleich die Kapitelstruktur eine eher lineare Entwicklung suggeriert – vom „Erbe der Moderne“ über die „Gegenwart der Utopie“ hin zur „Zukunft der Utopie“ –, entwickelt der Autor ein dichtes Geflecht an theoretischen Bezügen und künstlerischen Praktiken, das rivalisierende Perspektiven nicht glättet und harmonisiert, sondern in ihrer Differenz und gar Widersprüchlichkeit darzustellen und mit durchaus kritischem Anspruch zu diskutieren vermag. Den theoretischen Rahmen markieren dabei einerseits die philosophische Ästhetik (etwa Theodor W. Adorno, Jacques Rancière, Juliane Rebentisch) und andererseits die Demokratietheorie (Miguel Abensour, Jürgen Habermas, Ernesto Laclau, Rancière). Insbesondere im letzten Kapitel, „Die Zukunft der Utopie“, öffnet sich der Fokus zunehmend auf eine anspruchsvolle Perspektivierung der Gegenwartskunst über zentrale Positionen radikaldemokratischer Theorie, die zweifelsfrei in den Diskursen der letzten Jahre einen wichtigen Stellenwert einnimmt.
Insgesamt scheint Utopien der Gegenwartskunst weniger als Versuch, den Topos der Utopie – der heute bereits etwas historisch anmutet – wiederzubeleben, sondern vielmehr als kritisches Unterfangen, die Bedingungen und emanzipatorischen Potenziale künstlerischer und ästhetisch-politischer Praktiken in einem postutopischen Kontext auszuloten.